Die Swiss Re ist der älteste existierende Rückversicherer der Welt. Am Beispiel des Traditionsunternehmens führt dieses Buch in die faszinierende Geschichte eines in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Zweigs der Versicherungsindustrie ein.
Berichte über Naturkatastrophen und von Menschen herbeigeführte Desaster nehmen in letzter Zeit einen immer größeren Platz in der Medienberichterstattung ein. Seitdem dies so ist, kommen vermehrt auch die Rückversicherer mit fachtechnischen Analysen zu Erdbeben, Wirbelstürmen, Tsunamis, Atomunfällen und der globalen Klimaveränderung zu Wort. Was aber steckt hinter dieser Industrie, die Milliarden zum Wiederaufbau von zerstörten Städten und Industrieanlagen beitragen kann, mit riesigen Beträgen die gesellschaftliche Überalterung versichert und auch noch dafür sorgt, dass die Hausratspolice jedes einzelnen nochmals gedeckt ist? Peter Borscheid, David Gugerli, Harold James und Tobias Straumann zeigen, wie sich das Prinzip der Rückversicherung seit dem 18. Jahrhundert herausbildete, wie globale Risikomärkte entstanden und wie sich in diesem Umfeld die Swiss Re zu einem der führenden Rückversicherer der Welt entwickelte.
Berichte über Naturkatastrophen und von Menschen herbeigeführte Desaster nehmen in letzter Zeit einen immer größeren Platz in der Medienberichterstattung ein. Seitdem dies so ist, kommen vermehrt auch die Rückversicherer mit fachtechnischen Analysen zu Erdbeben, Wirbelstürmen, Tsunamis, Atomunfällen und der globalen Klimaveränderung zu Wort. Was aber steckt hinter dieser Industrie, die Milliarden zum Wiederaufbau von zerstörten Städten und Industrieanlagen beitragen kann, mit riesigen Beträgen die gesellschaftliche Überalterung versichert und auch noch dafür sorgt, dass die Hausratspolice jedes einzelnen nochmals gedeckt ist? Peter Borscheid, David Gugerli, Harold James und Tobias Straumann zeigen, wie sich das Prinzip der Rückversicherung seit dem 18. Jahrhundert herausbildete, wie globale Risikomärkte entstanden und wie sich in diesem Umfeld die Swiss Re zu einem der führenden Rückversicherer der Welt entwickelte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2014Der unsichtbare Riese
Eine solide Geschichte der Swiss Re
Die Swiss Re ist "ein Riese, aber für viele immer noch unsichtbar", sagt Tobias Straumann am Beginn seines Porträts über den Konzern aus Zürich. Die Schweizerische Rückversicherungsgesellschaft gehört zu den 200 größten multinationalen Unternehmen und beschäftigt weltweit über 10 000 Mitarbeiter an mehr als 20 Standorten. Sie ist vor allem im Sach- und Lebensversicherungsgeschäft tätig. Ende 2012 hatte sie eine Bilanzsumme von 230 Milliarden Franken. Dass nur wenige Leute das Unternehmen kennen, hat mit der Natur ihrer Aktivitäten zu tun: Der Rückversicherer arbeitet im Hintergrund als "Versicherung für die Versicherer".
Er sorgt dafür, dass die Direkt- beziehungsweise Erstversicherer einen Teil ihrer Risiken bei großen, relativ seltenen Gefahren weitergeben können, damit sie im Schadensfall nicht zahlungsunfähig werden. Welche Summen bei Katastrophen aufzubringen sind, zeigte der Hurrikan Katrina, der 2005 ganze Landstriche der Südküste der Vereinigten Staaten verwüstete und den größten Schaden aller Zeiten verursachte. Wegen rund 1,7 Millionen Ansprüchen mussten die Erstversicherer damals 47 Milliarden Dollar zahlen. Dank ihrer Verträge mit Rückversicherern konnte die enorme Schadenssumme beglichen werden, ohne dass die Versicherungswirtschaft zusammenbrach.
Wie sich die Rückversicherungsbranche historisch entwickelte und wie sie seitdem funktioniert, lässt sich an der Swiss Re gut aufweisen. Denn das Schweizer Unternehmen ist nach der Münchner Rück das zweitgrößte und noch dazu das älteste seiner Art. Vom Start weg betrieb es ein internationales Geschäft. Deshalb ist ihr Werdegang eine Geschichte der Globalisierung. Gegründet im Dezember 1863 und urkundlich beglaubigt vom damaligen Zürcher Stadtschreiber Gottfried Keller, "war die Swiss Re bei allen wichtigen Wendepunkten, welche die ganze Branche betrafen, an vorderster Front dabei". So ihr Biograph Straumann, der an der Universität Zürich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lehrt. Nur zweimal sei die Swiss Re an den Rand des Zusammenbruchs geraten, weil sie von Großschäden überrascht wurde: 1868, als in Europa der Sommer trocken war und zahlreiche Brände ausbrachen, und 1906 wegen des Erdbebens in San Francisco: "Im Ersteren schritten die Besitzer zu einer Reduktion des Aktienkapitals, in Letzterem waren die Reserven gerade ausreichend, um alle Schadensfälle zu decken."
Auch die europäische Staatsschuldenkrise nach 2008 überstand das inzwischen zum Finanzdienstleister mutierte Traditionsunternehmen glimpflich: Warren Buffett spendierte nach hohen Verlusten mit Derivaten zusätzliches Kapital von 3 Milliarden Franken. Im Endeffekt habe die Swiss Re alle großen Stürme der Branche nicht zuletzt dank ihres neutralen, politisch wie wirtschaftlich stabilen Heimatmarktes und intelligenter Geschäftsleitung überstanden, sagt Straumann. "Swiss Re ist eine der wenigen Ausnahmen, die aus jeder Krise einen Ausweg fand, ohne von einem Konkurrenten geschluckt zu werden."
Nun hat sich das Unternehmen zu seinem 150. Geburtstag eine gefällige, solide Festschrift gegönnt. Das knapp 600 Seiten umfassende Buch, liebevoll bestückt mit 85 alten Stichen, Faksimiles, Landkarten, Prospekten und Fotos aller Art, ist selbst dort, wo es um branchenspezifische Fragen geht, gut zu lesen. Konkrete Rechenexempel für Schadensfälle wie etwa der "Titanic" oder "9/11" fehlen allerdings. Nur am Schluss finden sich umfangreiche Tabellen und Statistiken. Es sei ein Anliegen gewesen, "unsere Firma und die Assekuranz nicht aus unserer Sicht darzustellen, sondern aufgrund einer historisch aufgearbeiteten Außensicht", betont im Vorwort Verwaltungsratspräsident Walter Kielholz.
Man ließ deshalb Princeton-Professor Harold James, den Marburger Emeritus Peter Borscheid und den ETH-Technikhistoriker David Gugerli zunächst das Prinzip der Rückversicherung seit dem 18. Jahrhundert beschreiben. Erst im dritten und letzten Teil schildert Straumann den Aufstieg der Swiss Re zum führenden Rückversicherer und auch deren wehrhaftes Agieren gegenüber den Machthabern des Dritten Reichs.
Der Blick in die Versicherungsgeschichte liest sich als permanenter Kampf um die Grenzen der Versicherbarkeit. Manche Anfänge scheinen aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. So klagte 1783 ein Reeder aus Liverpool, der mit Sklavenhandel von Afrika nach Amerika sein Geld verdiente, von den Versicherern seines Schiffes erfolgreich Schadensersatz für den Verlust an menschlicher "Ladung" ein. Nachdem etliche Sklaven aus Nahrungsmangel gestorben waren, hatte der Kapitän 122 der schwächsten Sklaven, die für ihn keinen Marktwert besaßen, über Bord werfen lassen. Das skandalöse Urteil trug 1807 zum Verbot des Sklavenhandels durch das britische Parlament bei.
Die Entwicklung immer höherer wissenschaftlicher Standards zur Risikoprognose erweiterte die Möglichkeiten der Versicherbarkeit. Heute können Rückversicherer schwierige Ereignisse wie Überalterung, Naturkatastrophen und Pandemien angemessen abschätzen. Vor der Atomenergie allerdings haben sie kapituliert. "Das Problem der Versicherung von Kernkraftwerken ist nie wirklich gelöst worden", resümiert Gugerli. "Kernkraftwerke waren wohl die ersten großtechnischen Anlagen, bei denen schnell eine Schadenshöhe erreicht war, die nur noch vom Staat getragen werden konnte." Er zitiert die Swiss Re, die 1964 verlauten ließ, es sei schlicht nicht möglich, die Risiken aus Kernanlagen, Kernbrennstoffen und radioaktiven Abfällen "mit den gewöhnlichen Methoden der Versicherung und internationalen Rückversicherung zu meistern". Ansonsten aber haben sich nach Meinung des Unternehmens die Risiken über die letzten anderthalb Jahrhunderte im Prinzip nicht verändert, allenfalls deren Komplexität, globale Verbreitung und Interdependenz. Doch schließlich sei "Instabilität das eigentliche Lebenselixier ihres Geschäfts", heißt es.
ULLA FÖLSING
Harold James (Hrsg.), Peter Borscheid, David Gugerli, Tobias Straumann: Swiss Re und die Welt der Risikomärkte. Eine Geschichte. C.H. Beck, München 2014, 598 Seiten, 38 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine solide Geschichte der Swiss Re
Die Swiss Re ist "ein Riese, aber für viele immer noch unsichtbar", sagt Tobias Straumann am Beginn seines Porträts über den Konzern aus Zürich. Die Schweizerische Rückversicherungsgesellschaft gehört zu den 200 größten multinationalen Unternehmen und beschäftigt weltweit über 10 000 Mitarbeiter an mehr als 20 Standorten. Sie ist vor allem im Sach- und Lebensversicherungsgeschäft tätig. Ende 2012 hatte sie eine Bilanzsumme von 230 Milliarden Franken. Dass nur wenige Leute das Unternehmen kennen, hat mit der Natur ihrer Aktivitäten zu tun: Der Rückversicherer arbeitet im Hintergrund als "Versicherung für die Versicherer".
Er sorgt dafür, dass die Direkt- beziehungsweise Erstversicherer einen Teil ihrer Risiken bei großen, relativ seltenen Gefahren weitergeben können, damit sie im Schadensfall nicht zahlungsunfähig werden. Welche Summen bei Katastrophen aufzubringen sind, zeigte der Hurrikan Katrina, der 2005 ganze Landstriche der Südküste der Vereinigten Staaten verwüstete und den größten Schaden aller Zeiten verursachte. Wegen rund 1,7 Millionen Ansprüchen mussten die Erstversicherer damals 47 Milliarden Dollar zahlen. Dank ihrer Verträge mit Rückversicherern konnte die enorme Schadenssumme beglichen werden, ohne dass die Versicherungswirtschaft zusammenbrach.
Wie sich die Rückversicherungsbranche historisch entwickelte und wie sie seitdem funktioniert, lässt sich an der Swiss Re gut aufweisen. Denn das Schweizer Unternehmen ist nach der Münchner Rück das zweitgrößte und noch dazu das älteste seiner Art. Vom Start weg betrieb es ein internationales Geschäft. Deshalb ist ihr Werdegang eine Geschichte der Globalisierung. Gegründet im Dezember 1863 und urkundlich beglaubigt vom damaligen Zürcher Stadtschreiber Gottfried Keller, "war die Swiss Re bei allen wichtigen Wendepunkten, welche die ganze Branche betrafen, an vorderster Front dabei". So ihr Biograph Straumann, der an der Universität Zürich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lehrt. Nur zweimal sei die Swiss Re an den Rand des Zusammenbruchs geraten, weil sie von Großschäden überrascht wurde: 1868, als in Europa der Sommer trocken war und zahlreiche Brände ausbrachen, und 1906 wegen des Erdbebens in San Francisco: "Im Ersteren schritten die Besitzer zu einer Reduktion des Aktienkapitals, in Letzterem waren die Reserven gerade ausreichend, um alle Schadensfälle zu decken."
Auch die europäische Staatsschuldenkrise nach 2008 überstand das inzwischen zum Finanzdienstleister mutierte Traditionsunternehmen glimpflich: Warren Buffett spendierte nach hohen Verlusten mit Derivaten zusätzliches Kapital von 3 Milliarden Franken. Im Endeffekt habe die Swiss Re alle großen Stürme der Branche nicht zuletzt dank ihres neutralen, politisch wie wirtschaftlich stabilen Heimatmarktes und intelligenter Geschäftsleitung überstanden, sagt Straumann. "Swiss Re ist eine der wenigen Ausnahmen, die aus jeder Krise einen Ausweg fand, ohne von einem Konkurrenten geschluckt zu werden."
Nun hat sich das Unternehmen zu seinem 150. Geburtstag eine gefällige, solide Festschrift gegönnt. Das knapp 600 Seiten umfassende Buch, liebevoll bestückt mit 85 alten Stichen, Faksimiles, Landkarten, Prospekten und Fotos aller Art, ist selbst dort, wo es um branchenspezifische Fragen geht, gut zu lesen. Konkrete Rechenexempel für Schadensfälle wie etwa der "Titanic" oder "9/11" fehlen allerdings. Nur am Schluss finden sich umfangreiche Tabellen und Statistiken. Es sei ein Anliegen gewesen, "unsere Firma und die Assekuranz nicht aus unserer Sicht darzustellen, sondern aufgrund einer historisch aufgearbeiteten Außensicht", betont im Vorwort Verwaltungsratspräsident Walter Kielholz.
Man ließ deshalb Princeton-Professor Harold James, den Marburger Emeritus Peter Borscheid und den ETH-Technikhistoriker David Gugerli zunächst das Prinzip der Rückversicherung seit dem 18. Jahrhundert beschreiben. Erst im dritten und letzten Teil schildert Straumann den Aufstieg der Swiss Re zum führenden Rückversicherer und auch deren wehrhaftes Agieren gegenüber den Machthabern des Dritten Reichs.
Der Blick in die Versicherungsgeschichte liest sich als permanenter Kampf um die Grenzen der Versicherbarkeit. Manche Anfänge scheinen aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. So klagte 1783 ein Reeder aus Liverpool, der mit Sklavenhandel von Afrika nach Amerika sein Geld verdiente, von den Versicherern seines Schiffes erfolgreich Schadensersatz für den Verlust an menschlicher "Ladung" ein. Nachdem etliche Sklaven aus Nahrungsmangel gestorben waren, hatte der Kapitän 122 der schwächsten Sklaven, die für ihn keinen Marktwert besaßen, über Bord werfen lassen. Das skandalöse Urteil trug 1807 zum Verbot des Sklavenhandels durch das britische Parlament bei.
Die Entwicklung immer höherer wissenschaftlicher Standards zur Risikoprognose erweiterte die Möglichkeiten der Versicherbarkeit. Heute können Rückversicherer schwierige Ereignisse wie Überalterung, Naturkatastrophen und Pandemien angemessen abschätzen. Vor der Atomenergie allerdings haben sie kapituliert. "Das Problem der Versicherung von Kernkraftwerken ist nie wirklich gelöst worden", resümiert Gugerli. "Kernkraftwerke waren wohl die ersten großtechnischen Anlagen, bei denen schnell eine Schadenshöhe erreicht war, die nur noch vom Staat getragen werden konnte." Er zitiert die Swiss Re, die 1964 verlauten ließ, es sei schlicht nicht möglich, die Risiken aus Kernanlagen, Kernbrennstoffen und radioaktiven Abfällen "mit den gewöhnlichen Methoden der Versicherung und internationalen Rückversicherung zu meistern". Ansonsten aber haben sich nach Meinung des Unternehmens die Risiken über die letzten anderthalb Jahrhunderte im Prinzip nicht verändert, allenfalls deren Komplexität, globale Verbreitung und Interdependenz. Doch schließlich sei "Instabilität das eigentliche Lebenselixier ihres Geschäfts", heißt es.
ULLA FÖLSING
Harold James (Hrsg.), Peter Borscheid, David Gugerli, Tobias Straumann: Swiss Re und die Welt der Risikomärkte. Eine Geschichte. C.H. Beck, München 2014, 598 Seiten, 38 Euro
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