Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996Der Abel von Ardebil
Abbas Maarufis Totenmusik / Von Wolfgang Günter Lerch
Das Exil oder die Gefangenschaft gehören zu den Erfahrungen vieler iranischer Schrifsteller dieses Jahrhunderts. In seinen "Ayyam-e Mahbas", den "Tagen im Gefängnis", hat der bekannte persische Prosaist Ali Daschti seine Kerkerhaft in der Zeit der Pahlewi-Dynastie verarbeitet. Jahrzehntelang hielt sich einer der Altmeister der persischen Literaturwissenschaft, der auch selbst als Erzähler hervorgetreten ist, Bozorg-e Alawi, im Ost-Berliner Exil auf. Andere iranische Autoren, wie Aref Qazwini, flüchteten zu Beginn des Jahrhunderts in die benachbarte Türkei, oder sie wurden, wie im Jahre 1924 der rebellische Lyriker Mirzade Eschqi oder 1939 Farrochi Yazdi, einfach ermordet.
Diese unselige Tradition der Schriftstellerverfolgung findet unter den gegenwärtig in Teheran herrschenden Mullahs ihre traurige Fortsetzung. Der vorläufig letzte in das Exil getriebene Dichter ist Abbas Maarufi, der seit dem Sommer in Deutschland lebt. Ein iranisches Gericht hatte den 39 Jahre alten Autor verurteilt - unter anderem zu der anachronistischen Strafe von zwanzig Peitschenhieben - und ihn darüber hinaus mit einem Publikationsverbot belegt. Die Begründung: Er habe den Islam geschmäht. Dabei versteht sich der Dichter als gläubiger Muslim. Doch kritische Texte in der von ihm edierten Zeitschrift "Gardun" (Himmelsgewölbe) hatten offenbar Ärgernis erregt.
Schon vor sieben Jahren hat Maarufi den Roman "Samfoni-ye mordegan" veröffentlicht, der sogleich für Aufsehen sorgte. Dies wird auch seine deutsche Fassung tun, die nun unter dem Titel "Symphonie der Toten", übersetzt von Anneliese Ghahraman-Beck, erschienen ist. Es ist keine einfache Lektüre. Der Autor hat moderne westliche Romantheorien rezipiert und ein Werk vorgelegt, das auch außerhalb Irans Bestand haben wird. Perspektivenwechsel und Zeitrückungen beherrscht der Autor virtuos. Maarufi ist, wie viele Schriftsteller des Orients, auch von russischen Autoren, etwa Dostojewski, beeinflußt. Schließlich spielt die eigene Tradition moderner Prosa eine Rolle. Der in vielem düstere Roman Maarufis erinnert an jene "dark tradition" zeitgenössischer persischer Literatur, die in Iran mit dem großen Sadegh Hedayat verknüpft ist, der sich 1951 das Leben nahm.
Der viersätzigen Roman-Symphonie steht als Ouvertüre ein Auszug aus der Koran-Sure "al Ma'ida" voran, welche die biblische Geschichte vom Brudermord Kains an Abel aufgreift. Davon handelt auch der größte Teil des Romans. Schauplatz ist der iranische Teil Aserbaidschans, eine vornehmlich von Türken bewohnte Region. Daß die Handlung vor allem in der dort gelegenen Stadt Ardebil spielt, ist alles andere als Zufall: Aus Ardebil stammte jener von dem Sufi-Scheich Safioddin Ardebili begründete Derwisch-Orden, der 1501 unter dem kämpferischen Schah Esma'il den schiitischen Islam in Iran an die Macht brachte und noch im selben Jahrhundert zur Staatsreligion erhob. Dies gilt bis heute.
Die Stadt Ardebil fungiert im Roman somit als Chiffre für das traditionalistische schiitische Iran, dessen Verhältnisse den Hintergrund für eine Familientragödie vom Ausmaß der Atriden abgeben. Auch das Milieu ist mit Bedacht gewählt, denn der iranische pater familias, Djaber, ist ein Händler, der Nüsse und Trockenfrüchte verkauft, also ein Basari. Die Basaris sind bis heute das gesellschaftliche Rückgrat des religiösen Establishments, sie waren auch eine der wichtigsten Stützen jener Gesellschaft, die vor nun siebzehn Jahren Chomeini in Teheran an die Macht brachte. Der zeitliche Rahmen der Handlung freilich liegt zwischen 1940 und 1970.
Die Protagonisten sind Opfer der traditionellen Verhältnisse - oder sie werden es, nach vorübergehender Befreiung. Der Vater unterdrückt die Mutter, die sich nicht zu wehren weiß und bis zu ihrem Tode in der Leidensgeste der traditionell unterwürfigen Ehefrau verharrt. Djaber ersetzt, nach westlichen Maßstäben, die Erziehung seiner Kinder weitgehend durch Strenge: alle paar Seiten hagelt es Prügel oder zumindest Kopfnüsse. Die Kinder - das sind Urhan und Aidin, die feindlichen Brüder, sowie der dritte Bruder Jussof und Aidins Zwillingsschwester Aida.
Jussof, der Krüppel, wird wie ein Tier gefangengehalten, während Urhan ganz in die Fußstapfen des Vaters treten will. Er und der Vater verursachen Aidins Martyrium, denn Aidin strebt aus der Enge der familiären Verhältnisse hinaus in das Reich der Bildung und der Schönheit. Er liest schon als Junge Balzac und die griechischen Philosophen. Doch der Vater, ganz der traditionellen Frömmigkeit verhaftet, die in allem Fremden nur Ketzerei wittert, verbrennt zusammen mit Urhan zweimal Aidins Bücher. Daß die Bücher nicht zerrissen oder verkauft werden, sondern "eingeäschert", wird vom Autor ebenfalls bewußt hervorgehoben. Aidin bleibt dem Vater fremd: "Wir hatten keinen in der Familie wie ihn. Nicht dem Aussehen nach und nicht dem Benehmen", sagt Djaber zu seiner Frau. "Hätt' ich ihn nur nicht gezeugt, und hättest du ihn nur nicht geboren!"
Dem begabten Außenseiter Aidin gelingt zeitweise die Flucht aus dem Milieu. Er kommt, als sein Plan, in Teheran zu studieren, fehlschlägt, bei Armeniern unter, wo er anfängt, Gedichte zu verfassen. Er avanciert zum bekannten Lyriker und verliebt sich in eine Armenierin. Doch die Zeit des Glücks endet abrupt. Als Aidin erfährt, daß seine Zwillingsschwester Aida sich nach einer ähnlichen Flucht schließlich selbst verbrannt hat, gibt er die Dichtung auf, kehrt nach Hause zurück und verliert schließlich den Verstand. Er ist freilich ein Verrückter der höheren Art, ein Madschnun, wie Dostojewski ihn in seinem Fürsten Myschkin gestaltet hat; ein Narr, der gleichzeitig weise geworden ist. Vater und Mutter sterben. Der Alleinerbe Urhan hat den lästigen Krüppel Jussof umgebracht und vergiftet nun auch den begabten Aidin. Mit diesem Finalsatz endet diese düstere Symphonie.
Die Tragödie der Familie verläuft parallel zur politischen Tragödie des Landes, die mit dem Einmarsch der Sowjetrussen im iranischen Teil von Aserbaidschan im Jahre 1941 sowie der durch Churchill erzwungenen Abdankung des Reza Schah beginnt und in die jahrzehntelange autokratische Herrschaft von dessen Sohn und Nachfolger Mohammed Reza Pahlewi mündet. Iran erscheint als selbstgemachtes Gefängnis, aus dem kein wirklicher Weg ins Freie führt.
Abbas Maarufi hat mit der "Symphonie der Toten" einen durch und durch persischen Roman geschrieben, trotz oder gerade wegen seiner Verwendung auch westlicher Stilmittel, die sich auf das glücklichste mit den Elementen der persischen Literaturtradition verbinden. Das Werk wird zur weiteren Emanzipation der Prosa in der iranischen Literatur beitragen, die zuweilen noch immer von der jahrhunderteschweren Last einer großartigen Lyrik überlagert wird.
Abbas Maarufi: "Symphonie der Toten". Roman. Aus dem Persischen übersetzt von Anneliese Ghahraman-Beck. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1996.
355 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abbas Maarufis Totenmusik / Von Wolfgang Günter Lerch
Das Exil oder die Gefangenschaft gehören zu den Erfahrungen vieler iranischer Schrifsteller dieses Jahrhunderts. In seinen "Ayyam-e Mahbas", den "Tagen im Gefängnis", hat der bekannte persische Prosaist Ali Daschti seine Kerkerhaft in der Zeit der Pahlewi-Dynastie verarbeitet. Jahrzehntelang hielt sich einer der Altmeister der persischen Literaturwissenschaft, der auch selbst als Erzähler hervorgetreten ist, Bozorg-e Alawi, im Ost-Berliner Exil auf. Andere iranische Autoren, wie Aref Qazwini, flüchteten zu Beginn des Jahrhunderts in die benachbarte Türkei, oder sie wurden, wie im Jahre 1924 der rebellische Lyriker Mirzade Eschqi oder 1939 Farrochi Yazdi, einfach ermordet.
Diese unselige Tradition der Schriftstellerverfolgung findet unter den gegenwärtig in Teheran herrschenden Mullahs ihre traurige Fortsetzung. Der vorläufig letzte in das Exil getriebene Dichter ist Abbas Maarufi, der seit dem Sommer in Deutschland lebt. Ein iranisches Gericht hatte den 39 Jahre alten Autor verurteilt - unter anderem zu der anachronistischen Strafe von zwanzig Peitschenhieben - und ihn darüber hinaus mit einem Publikationsverbot belegt. Die Begründung: Er habe den Islam geschmäht. Dabei versteht sich der Dichter als gläubiger Muslim. Doch kritische Texte in der von ihm edierten Zeitschrift "Gardun" (Himmelsgewölbe) hatten offenbar Ärgernis erregt.
Schon vor sieben Jahren hat Maarufi den Roman "Samfoni-ye mordegan" veröffentlicht, der sogleich für Aufsehen sorgte. Dies wird auch seine deutsche Fassung tun, die nun unter dem Titel "Symphonie der Toten", übersetzt von Anneliese Ghahraman-Beck, erschienen ist. Es ist keine einfache Lektüre. Der Autor hat moderne westliche Romantheorien rezipiert und ein Werk vorgelegt, das auch außerhalb Irans Bestand haben wird. Perspektivenwechsel und Zeitrückungen beherrscht der Autor virtuos. Maarufi ist, wie viele Schriftsteller des Orients, auch von russischen Autoren, etwa Dostojewski, beeinflußt. Schließlich spielt die eigene Tradition moderner Prosa eine Rolle. Der in vielem düstere Roman Maarufis erinnert an jene "dark tradition" zeitgenössischer persischer Literatur, die in Iran mit dem großen Sadegh Hedayat verknüpft ist, der sich 1951 das Leben nahm.
Der viersätzigen Roman-Symphonie steht als Ouvertüre ein Auszug aus der Koran-Sure "al Ma'ida" voran, welche die biblische Geschichte vom Brudermord Kains an Abel aufgreift. Davon handelt auch der größte Teil des Romans. Schauplatz ist der iranische Teil Aserbaidschans, eine vornehmlich von Türken bewohnte Region. Daß die Handlung vor allem in der dort gelegenen Stadt Ardebil spielt, ist alles andere als Zufall: Aus Ardebil stammte jener von dem Sufi-Scheich Safioddin Ardebili begründete Derwisch-Orden, der 1501 unter dem kämpferischen Schah Esma'il den schiitischen Islam in Iran an die Macht brachte und noch im selben Jahrhundert zur Staatsreligion erhob. Dies gilt bis heute.
Die Stadt Ardebil fungiert im Roman somit als Chiffre für das traditionalistische schiitische Iran, dessen Verhältnisse den Hintergrund für eine Familientragödie vom Ausmaß der Atriden abgeben. Auch das Milieu ist mit Bedacht gewählt, denn der iranische pater familias, Djaber, ist ein Händler, der Nüsse und Trockenfrüchte verkauft, also ein Basari. Die Basaris sind bis heute das gesellschaftliche Rückgrat des religiösen Establishments, sie waren auch eine der wichtigsten Stützen jener Gesellschaft, die vor nun siebzehn Jahren Chomeini in Teheran an die Macht brachte. Der zeitliche Rahmen der Handlung freilich liegt zwischen 1940 und 1970.
Die Protagonisten sind Opfer der traditionellen Verhältnisse - oder sie werden es, nach vorübergehender Befreiung. Der Vater unterdrückt die Mutter, die sich nicht zu wehren weiß und bis zu ihrem Tode in der Leidensgeste der traditionell unterwürfigen Ehefrau verharrt. Djaber ersetzt, nach westlichen Maßstäben, die Erziehung seiner Kinder weitgehend durch Strenge: alle paar Seiten hagelt es Prügel oder zumindest Kopfnüsse. Die Kinder - das sind Urhan und Aidin, die feindlichen Brüder, sowie der dritte Bruder Jussof und Aidins Zwillingsschwester Aida.
Jussof, der Krüppel, wird wie ein Tier gefangengehalten, während Urhan ganz in die Fußstapfen des Vaters treten will. Er und der Vater verursachen Aidins Martyrium, denn Aidin strebt aus der Enge der familiären Verhältnisse hinaus in das Reich der Bildung und der Schönheit. Er liest schon als Junge Balzac und die griechischen Philosophen. Doch der Vater, ganz der traditionellen Frömmigkeit verhaftet, die in allem Fremden nur Ketzerei wittert, verbrennt zusammen mit Urhan zweimal Aidins Bücher. Daß die Bücher nicht zerrissen oder verkauft werden, sondern "eingeäschert", wird vom Autor ebenfalls bewußt hervorgehoben. Aidin bleibt dem Vater fremd: "Wir hatten keinen in der Familie wie ihn. Nicht dem Aussehen nach und nicht dem Benehmen", sagt Djaber zu seiner Frau. "Hätt' ich ihn nur nicht gezeugt, und hättest du ihn nur nicht geboren!"
Dem begabten Außenseiter Aidin gelingt zeitweise die Flucht aus dem Milieu. Er kommt, als sein Plan, in Teheran zu studieren, fehlschlägt, bei Armeniern unter, wo er anfängt, Gedichte zu verfassen. Er avanciert zum bekannten Lyriker und verliebt sich in eine Armenierin. Doch die Zeit des Glücks endet abrupt. Als Aidin erfährt, daß seine Zwillingsschwester Aida sich nach einer ähnlichen Flucht schließlich selbst verbrannt hat, gibt er die Dichtung auf, kehrt nach Hause zurück und verliert schließlich den Verstand. Er ist freilich ein Verrückter der höheren Art, ein Madschnun, wie Dostojewski ihn in seinem Fürsten Myschkin gestaltet hat; ein Narr, der gleichzeitig weise geworden ist. Vater und Mutter sterben. Der Alleinerbe Urhan hat den lästigen Krüppel Jussof umgebracht und vergiftet nun auch den begabten Aidin. Mit diesem Finalsatz endet diese düstere Symphonie.
Die Tragödie der Familie verläuft parallel zur politischen Tragödie des Landes, die mit dem Einmarsch der Sowjetrussen im iranischen Teil von Aserbaidschan im Jahre 1941 sowie der durch Churchill erzwungenen Abdankung des Reza Schah beginnt und in die jahrzehntelange autokratische Herrschaft von dessen Sohn und Nachfolger Mohammed Reza Pahlewi mündet. Iran erscheint als selbstgemachtes Gefängnis, aus dem kein wirklicher Weg ins Freie führt.
Abbas Maarufi hat mit der "Symphonie der Toten" einen durch und durch persischen Roman geschrieben, trotz oder gerade wegen seiner Verwendung auch westlicher Stilmittel, die sich auf das glücklichste mit den Elementen der persischen Literaturtradition verbinden. Das Werk wird zur weiteren Emanzipation der Prosa in der iranischen Literatur beitragen, die zuweilen noch immer von der jahrhunderteschweren Last einer großartigen Lyrik überlagert wird.
Abbas Maarufi: "Symphonie der Toten". Roman. Aus dem Persischen übersetzt von Anneliese Ghahraman-Beck. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1996.
355 S., geb., 42,- DM.
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