Das Lehrbuch bietet die erste systematische Einführung in die politikwissenschaftliche Transformationsforschung politischer Systeme. Die hier entwickelten theoretischen Konzepte werden anschließend in vier großen Abschnitten empirisch untersucht, und zwar in der Demokratisierung der Diktaturen Deutschlands, Italiens und Japans nach 1945, der Transformation der Diktaturen Südeuropas (Portugal, Griechenland, Spanien) nach 1974, der kapitalistischen Autokratien Ostasiens (Philippinen, Taiwan, Südkorea, Thailand) in der Mitte der achtziger Jahre sowie der kommunistischen Systeme Osteuropas nach 1989. Prof. Dr. Wolfgang Merkel lehrt an der Universität Heidelberg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2000Woran hakt's, wenn's hakt?
Von Phasen und Grauzonen: Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie
Wolfgang Merkel: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. UNITaschenbuch, Band 2076. Leske + Budrich, Opladen 1999. 572 Seiten, 26,80 Mark.
Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle: Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade. Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 1999. 274 Seiten, 5 Abbildungen, 10 Tabellen, 39,80 Mark.
Das Ende einer Diktatur allein ist keine Garantie für eine demokratische Entwicklung und erst recht nicht für eine gesicherte, liberal-rechtsstaatliche Demokratie. Der Weg, den ein Land nach der Ablösung des alten Regimes einschlägt, entscheidet über Erfolg oder Scheitern, über Stagnieren und Umwege der Demokratisierungsbemühungen. Der Erforschung dieses Weges widmet sich ein - vor allem in Europa - recht junger Zweig der Politikwissenschaft. Nachdem die Regimeübergänge in Südeuropa vornehmlich von amerikanischen Politikwissenschaftlern intensiv analysiert wurden, stellten die Implosion des kommunistischen Herrschaftsbereiches und die darauf folgenden Demokratisierungen einen Anstoß gerade auch für die deutschen Sozialwissenschaften dar, sich des Themas "Systemwechsel" oder "Transformation" - diese Begriffe haben sich hierzulande durchgesetzt - anzunehmen. Bei der Vielzahl der Länderstudien, der theoretischen und methodischen Ansätze und bei der oft diffusen Definitionslage ergab sich ein Desiderat: ein Werk, das den Forschungsstand zusammenfasst und das Feld der Transformationsforschung absteckt. Diese Lücke hat Wolfgang Merkel mit seinem Buch "Systemtransformation" gefüllt, mit dem er in Theorie und Praxis der Transformationsforschung einführt.
Im ersten Teil gibt Merkel dem Leser das Handwerkszeug in die Hand: Er grenzt demokratische, autoritäre und totalitäre Systeme gegeneinander ab, stellt Kriterienkataloge auf, wägt die verschiedenen Theorien gegeneinander ab, markiert die Problemlinien. Dabei ist der Autor keineswegs beobachtender Kompilierer, sondern er führt kundig wegweisend durch ein weites und kaum erforschtes Feld. Merkel geht dabei synthetisierend vor: Er bezieht die Theorien dort aufeinander, wo es fruchtbringend scheint, erweitert sie um eigene Erkenntnisse, kombiniert Ansätze. Dass Merkel das dogmatische Versteifen auf eine Theorie ablehnt, weil er in der Verknüpfung ein größeres Erklärungspotential sieht, ist eine Stärke seines Ansatzes. Das beweist die empirische Analyse, die den größten Teil des Buches ausmacht. Der Autor untersucht sowohl die so genannte zweite Demokratisierungswelle (Deutschland, Italien, Japan) als auch die dritte Welle in Südeuropa (Griechenland, Portugal, Spanien), Ost- und Südostasien (Philippinen, Südkorea, Taiwan, Thailand - hier mit Aurel Croissant) sowie Osteuropa (Balkan, Polen, Tschechoslowakei, DDR, Baltikum). Merkel arbeitet die spezifischen Entwicklungsbedingungen und Kontexte ebenso wie Strategien und Handlungszwänge heraus, und zwar für jede Phase des Transformationsprozesses: erstens, das Ende des alten Regimes, zweitens, den Übergang - Merkel benutzt den Begriff "Institutionalisierung" - und, drittens, die Konsolidierung. Die Abgrenzung der ersten beiden Phasen ist wenig umstritten. Bei der ersten Phase geht es um die Gründe und den Verlauf der Ablösung des alten Regimes, bei der zweiten Phase um die Etablierung der demokratischen Institutionen. Schwieriger zu fassen ist die Konsolidierung. Merkel grenzt sich gegen ein minimalistisches Verständnis sowohl von Konsolidierung als auch von Demokratie ab. Robert Dahls Liste institutioneller Garantien für eine gesicherte Demokratie (Assoziationsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, aktives und passives Wahlrecht, politischer Wettbewerb, Informationsfreiheit und -pluralismus, faire und freie Wahlen) fügt Merkel daher die wichtigen Kriterien Gewaltenteilung im Sinne von Gewaltenkontrolle sowie Rechtsstaatlichkeit und Geltung der Menschen- und Bürgerrechte hinzu. Darüber hinaus entwickelt er - auf der Grundlage von Juan Linz und Alfred Stepan - ein Vier-Ebenen-Modell. Demnach ist eine Demokratie "weitgehend krisenresistent", wenn sie sich auf konstitutioneller Ebene (Regierung, Parlament, Judikative etc.), auf repräsentativer Ebene (Parteien, Interessenverbände und so weiter), auf der Verhaltensebene (Handeln nach demokratischen Normen) und auf der Bürgerebene (Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur) konsolidiert hat.
Die systematische Stringenz, mit der Wolfgang Merkel jedes Land in seinen Phasen prüft, Stand und Chancen der Konsolidierung feststellt, ermöglicht den Vergleich von Ländern, aber auch Regionen. Die Art und Weise, wie der Autor die verschiedenen Strömungen im Lichte seiner eigenen Konzepte neu ordnet und bündelt, gibt dem Forschungszweig neue Instrumentarien in die Hand. Und die überzeugende Mischung von Merkels Buch - die zahlreichen Länderanalysen zusammen mit der profunden und breiten Theoriediskussion - spricht den an Zeitgeschichte Interessierten ebenso an wie den Transformationsspezialisten. Diese Einführung wird ein Standardwerk werden. Nur ein Wunsch bleibt offen: ein Stichwortverzeichnis.
Mit dem letzten Kapitel spricht Merkel ein noch junges Thema an, das in dem von ihm und Hans-Jürgen Puhle gemeinsam verfassten Buch "Von der Diktatur zur Demokratie" zentralen Raum einnimmt, nämlich die Frage nach den Chancen und Bedingungen bei der Demokratisierung. Dass die Grauzone zwischen demokratischen und autoritären Regimen immer größer wird, lenkt den Blick auf junge Demokratien, deren Transformation nicht abgeschlossen ist. In diesem Buch werden die Grundkenntnisse der Materie vorausgesetzt, den Autoren geht es nicht um Darstellung, sondern um Erklärung. Wo liegen Hindernisse, und wo existieren günstige Bedingungen für die Demokratisierung? Ein erfolgreiches Ergebnis ist zu erwarten, wenn folgende von den Autoren entwickelte Vorgaben erfüllt sind: eine - zumindest potenziell - günstige wirtschaftliche Entwicklung; eine funktionierende Vermittlung zwischen Staat und Bürgern durch Parteien, Interessenverbände und Medien; eine vitale Zivilgesellschaft; ein klares Staatsgebiet und die Integration von Minderheiten sowie eine Verfassungsordnung und politische Institutionen, die stabil sind und effektiv arbeiten. Überlebenswichtig ist weiterhin - das gilt nicht nur für junge Demokratien - Legitimität und Unterstützung der Bürger. Eine Gefahr für junge Demokratien sehen die Autoren derweil in der schleichenden Erosion, der Aushöhlung durch die frei gewählte Exekutive. Siehe Fujimori in Peru, Lukaschenka in Weißrussland, Meciar in der Slowakei. Aufschlussreich ist daher der Vergleich am Ende des Buches, der erfolgreiche (Ungarn, Polen), verzögerte (Russland) und gescheiterte (Weißrussland) Konsolidierungen einander gegenübergestellt.
Die Bücher treiben die Ursachenforschung für Konsolidierungsprobleme, gerade in Mittel- und Osteuropa, maßgeblich weiter. Nicht zuletzt deswegen, weil sie Handlungsempfehlungen für strategisches Vorgehen aussprechen. Die Differenzierung des komplexen Prozesses lässt genauere Aussagen über das Konsolidierungsniveau der einzelnen Bereiche (etwa Wirtschaft, Integration von Minderheiten, Zivilgesellschaft) zu. Unterstützungsleistungen von außen könnten, so die Autoren, auf dieser Grundlage viel gezielter eingesetzt werden. Damit schreiben sie der Transformationsforschung neue Aufgaben auf die Agenda: die Frage nach externen Einflüssen generell und konkret nach externer Demokratiestützung. Angesichts des Balkan-Stabilitätspaktes und der Erweiterung des Kandidatenkreises für den EU-Beitritt ist das Thema von besonderer Aktualität.
MARIANNE KNEUER
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Von Phasen und Grauzonen: Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie
Wolfgang Merkel: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung. UNITaschenbuch, Band 2076. Leske + Budrich, Opladen 1999. 572 Seiten, 26,80 Mark.
Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle: Von der Diktatur zur Demokratie. Transformationen, Erfolgsbedingungen, Entwicklungspfade. Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 1999. 274 Seiten, 5 Abbildungen, 10 Tabellen, 39,80 Mark.
Das Ende einer Diktatur allein ist keine Garantie für eine demokratische Entwicklung und erst recht nicht für eine gesicherte, liberal-rechtsstaatliche Demokratie. Der Weg, den ein Land nach der Ablösung des alten Regimes einschlägt, entscheidet über Erfolg oder Scheitern, über Stagnieren und Umwege der Demokratisierungsbemühungen. Der Erforschung dieses Weges widmet sich ein - vor allem in Europa - recht junger Zweig der Politikwissenschaft. Nachdem die Regimeübergänge in Südeuropa vornehmlich von amerikanischen Politikwissenschaftlern intensiv analysiert wurden, stellten die Implosion des kommunistischen Herrschaftsbereiches und die darauf folgenden Demokratisierungen einen Anstoß gerade auch für die deutschen Sozialwissenschaften dar, sich des Themas "Systemwechsel" oder "Transformation" - diese Begriffe haben sich hierzulande durchgesetzt - anzunehmen. Bei der Vielzahl der Länderstudien, der theoretischen und methodischen Ansätze und bei der oft diffusen Definitionslage ergab sich ein Desiderat: ein Werk, das den Forschungsstand zusammenfasst und das Feld der Transformationsforschung absteckt. Diese Lücke hat Wolfgang Merkel mit seinem Buch "Systemtransformation" gefüllt, mit dem er in Theorie und Praxis der Transformationsforschung einführt.
Im ersten Teil gibt Merkel dem Leser das Handwerkszeug in die Hand: Er grenzt demokratische, autoritäre und totalitäre Systeme gegeneinander ab, stellt Kriterienkataloge auf, wägt die verschiedenen Theorien gegeneinander ab, markiert die Problemlinien. Dabei ist der Autor keineswegs beobachtender Kompilierer, sondern er führt kundig wegweisend durch ein weites und kaum erforschtes Feld. Merkel geht dabei synthetisierend vor: Er bezieht die Theorien dort aufeinander, wo es fruchtbringend scheint, erweitert sie um eigene Erkenntnisse, kombiniert Ansätze. Dass Merkel das dogmatische Versteifen auf eine Theorie ablehnt, weil er in der Verknüpfung ein größeres Erklärungspotential sieht, ist eine Stärke seines Ansatzes. Das beweist die empirische Analyse, die den größten Teil des Buches ausmacht. Der Autor untersucht sowohl die so genannte zweite Demokratisierungswelle (Deutschland, Italien, Japan) als auch die dritte Welle in Südeuropa (Griechenland, Portugal, Spanien), Ost- und Südostasien (Philippinen, Südkorea, Taiwan, Thailand - hier mit Aurel Croissant) sowie Osteuropa (Balkan, Polen, Tschechoslowakei, DDR, Baltikum). Merkel arbeitet die spezifischen Entwicklungsbedingungen und Kontexte ebenso wie Strategien und Handlungszwänge heraus, und zwar für jede Phase des Transformationsprozesses: erstens, das Ende des alten Regimes, zweitens, den Übergang - Merkel benutzt den Begriff "Institutionalisierung" - und, drittens, die Konsolidierung. Die Abgrenzung der ersten beiden Phasen ist wenig umstritten. Bei der ersten Phase geht es um die Gründe und den Verlauf der Ablösung des alten Regimes, bei der zweiten Phase um die Etablierung der demokratischen Institutionen. Schwieriger zu fassen ist die Konsolidierung. Merkel grenzt sich gegen ein minimalistisches Verständnis sowohl von Konsolidierung als auch von Demokratie ab. Robert Dahls Liste institutioneller Garantien für eine gesicherte Demokratie (Assoziationsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, aktives und passives Wahlrecht, politischer Wettbewerb, Informationsfreiheit und -pluralismus, faire und freie Wahlen) fügt Merkel daher die wichtigen Kriterien Gewaltenteilung im Sinne von Gewaltenkontrolle sowie Rechtsstaatlichkeit und Geltung der Menschen- und Bürgerrechte hinzu. Darüber hinaus entwickelt er - auf der Grundlage von Juan Linz und Alfred Stepan - ein Vier-Ebenen-Modell. Demnach ist eine Demokratie "weitgehend krisenresistent", wenn sie sich auf konstitutioneller Ebene (Regierung, Parlament, Judikative etc.), auf repräsentativer Ebene (Parteien, Interessenverbände und so weiter), auf der Verhaltensebene (Handeln nach demokratischen Normen) und auf der Bürgerebene (Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur) konsolidiert hat.
Die systematische Stringenz, mit der Wolfgang Merkel jedes Land in seinen Phasen prüft, Stand und Chancen der Konsolidierung feststellt, ermöglicht den Vergleich von Ländern, aber auch Regionen. Die Art und Weise, wie der Autor die verschiedenen Strömungen im Lichte seiner eigenen Konzepte neu ordnet und bündelt, gibt dem Forschungszweig neue Instrumentarien in die Hand. Und die überzeugende Mischung von Merkels Buch - die zahlreichen Länderanalysen zusammen mit der profunden und breiten Theoriediskussion - spricht den an Zeitgeschichte Interessierten ebenso an wie den Transformationsspezialisten. Diese Einführung wird ein Standardwerk werden. Nur ein Wunsch bleibt offen: ein Stichwortverzeichnis.
Mit dem letzten Kapitel spricht Merkel ein noch junges Thema an, das in dem von ihm und Hans-Jürgen Puhle gemeinsam verfassten Buch "Von der Diktatur zur Demokratie" zentralen Raum einnimmt, nämlich die Frage nach den Chancen und Bedingungen bei der Demokratisierung. Dass die Grauzone zwischen demokratischen und autoritären Regimen immer größer wird, lenkt den Blick auf junge Demokratien, deren Transformation nicht abgeschlossen ist. In diesem Buch werden die Grundkenntnisse der Materie vorausgesetzt, den Autoren geht es nicht um Darstellung, sondern um Erklärung. Wo liegen Hindernisse, und wo existieren günstige Bedingungen für die Demokratisierung? Ein erfolgreiches Ergebnis ist zu erwarten, wenn folgende von den Autoren entwickelte Vorgaben erfüllt sind: eine - zumindest potenziell - günstige wirtschaftliche Entwicklung; eine funktionierende Vermittlung zwischen Staat und Bürgern durch Parteien, Interessenverbände und Medien; eine vitale Zivilgesellschaft; ein klares Staatsgebiet und die Integration von Minderheiten sowie eine Verfassungsordnung und politische Institutionen, die stabil sind und effektiv arbeiten. Überlebenswichtig ist weiterhin - das gilt nicht nur für junge Demokratien - Legitimität und Unterstützung der Bürger. Eine Gefahr für junge Demokratien sehen die Autoren derweil in der schleichenden Erosion, der Aushöhlung durch die frei gewählte Exekutive. Siehe Fujimori in Peru, Lukaschenka in Weißrussland, Meciar in der Slowakei. Aufschlussreich ist daher der Vergleich am Ende des Buches, der erfolgreiche (Ungarn, Polen), verzögerte (Russland) und gescheiterte (Weißrussland) Konsolidierungen einander gegenübergestellt.
Die Bücher treiben die Ursachenforschung für Konsolidierungsprobleme, gerade in Mittel- und Osteuropa, maßgeblich weiter. Nicht zuletzt deswegen, weil sie Handlungsempfehlungen für strategisches Vorgehen aussprechen. Die Differenzierung des komplexen Prozesses lässt genauere Aussagen über das Konsolidierungsniveau der einzelnen Bereiche (etwa Wirtschaft, Integration von Minderheiten, Zivilgesellschaft) zu. Unterstützungsleistungen von außen könnten, so die Autoren, auf dieser Grundlage viel gezielter eingesetzt werden. Damit schreiben sie der Transformationsforschung neue Aufgaben auf die Agenda: die Frage nach externen Einflüssen generell und konkret nach externer Demokratiestützung. Angesichts des Balkan-Stabilitätspaktes und der Erweiterung des Kandidatenkreises für den EU-Beitritt ist das Thema von besonderer Aktualität.
MARIANNE KNEUER
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