Fließende Metamorphosen: Von der biographischen Skizze zum knalligen Kriminalroman.
Es war in den 70er Jahren ein richtiges Kultbuch gewesen, Peter Rühmkorfs Autobiografie "Die Jahre, die ihr kennt", eine Revue aus rasant aneinandergesetzten Erinnerungspartikeln, die gegen Ende folgerichtig in Tagebuchaufzeichnungen ausliefen. Der Verfasser hat das Diarium dann konsequent weitergeführt, in bewährter Unverschämtheit und mit gespitztem Rotstift. Was zunächst als Journal intime gedacht war, eröffnet sich jetzt als eine private Lebensbilanz und zugleich ein gesellschaftskritischer Exkurs, in dem sich die Stimmungen, Nervositäten und unheiligen Heilsvorstellungen einer bewegten Revolutionsepoche wie in einem Narrenspiegel aufgefangen sehen.
Auch der sogenannte "Mythos RAF" schien dem "Zeitmitschreiber" nicht viel mehr als ein klassen- und generationsübergreifendes Paranoiasystem. Lustig und brenzlig dabei sind die Verwicklungen der eigenen Person und des Freundes und Alter Ego Erich, die sich auf erotische Abenteuer einlassen, welche unversehens in politische Unverträglichkeiten übergleiten. Fließend sind die Metamorphosen von der biographischen Skizze zu einer Art von knalligem Kriminalroman. Unter dem Vorlauftitel "Der Dandy und die Partisanin" zieht sich ein novellistischer Faden durch das Buch. Wohin und worauf zu? "Fortsetzung folgt" heißt das letzte Wort des Abreißkalenders. Und da kann man nur bangen und hoffen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Es war in den 70er Jahren ein richtiges Kultbuch gewesen, Peter Rühmkorfs Autobiografie "Die Jahre, die ihr kennt", eine Revue aus rasant aneinandergesetzten Erinnerungspartikeln, die gegen Ende folgerichtig in Tagebuchaufzeichnungen ausliefen. Der Verfasser hat das Diarium dann konsequent weitergeführt, in bewährter Unverschämtheit und mit gespitztem Rotstift. Was zunächst als Journal intime gedacht war, eröffnet sich jetzt als eine private Lebensbilanz und zugleich ein gesellschaftskritischer Exkurs, in dem sich die Stimmungen, Nervositäten und unheiligen Heilsvorstellungen einer bewegten Revolutionsepoche wie in einem Narrenspiegel aufgefangen sehen.
Auch der sogenannte "Mythos RAF" schien dem "Zeitmitschreiber" nicht viel mehr als ein klassen- und generationsübergreifendes Paranoiasystem. Lustig und brenzlig dabei sind die Verwicklungen der eigenen Person und des Freundes und Alter Ego Erich, die sich auf erotische Abenteuer einlassen, welche unversehens in politische Unverträglichkeiten übergleiten. Fließend sind die Metamorphosen von der biographischen Skizze zu einer Art von knalligem Kriminalroman. Unter dem Vorlauftitel "Der Dandy und die Partisanin" zieht sich ein novellistischer Faden durch das Buch. Wohin und worauf zu? "Fortsetzung folgt" heißt das letzte Wort des Abreißkalenders. Und da kann man nur bangen und hoffen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004Der Schneckenforscher
Vaterloser Geselle: Peter Rühmkorf in seinen Tagebüchern
Schlechte Zeiten, Genosse. Der Buchmarkt ist im Umbruch, der Autor muß sehen, wie er seine Kosten hereinbekommt. Immerhin zahlt das Kulturfernsehen noch, wenn es ihn zu den "neuen Buchvertriebsmethoden" befragt. "Die großen Discounter, modernen Buchantiquariate, Massenversandhäuser, Katalogfirmen, Palettenabsatz en gros pp, wo die Highlights von gestern zu Massen-Mini-Preisen verschleudert werden u. der Edelliteratur nun noch einmal die Tour vermasseln." Kann darüber aber nicht wirklich klagen, "weil auch ich mich als Käufer mich bei diesen Quellen betanke". Der Schriftsteller steckt mit drin, ist repräsentativ nur noch insofern, als er am eigenen Leib die Proletarisierung des Mittelstandes studieren kann. Dem "blaugrau gewürfelten und schmalkrägigen Schlußverkaufshemd von Mey & Edlich", so "schneidig" es daherkommt, sieht wenigstens der Schicksalsgenosse und Geistesbruder den Preisabschlag an. Glücklich dagegen, wer in den "Hackeschen Höfen" wohnt und vor den "schön zu Augen gehenden Art-Deco-Fassaden bis in den dritten Hinterhof rechts hinten" die "neue Freundin in wagemutig geschlitztem Seidenkleid" spazierenführen kann.
Kassensturz auch im Politischen. Rapider Wertverfall der alten Ideale unter dem Druck globaler Bedrohungen. "Blutige Geistesverwirrungen allenthalben u. weltweit gespannte Verschwörer-Netzwerke." Selbst der Urlinke schließt in dieser Lage, "daß solches martialische Gespenstertreiben nur durch internationale Polizeigewalt eingedämmt werden kann". Der Haken ist allerdings, "daß die USA sich sofort an die Spitze solcher Operationen setzen würden u. den gerechten Zorn der zivilisierten Menschheit selbstsüchtig im Sinne eigener Hegemonialabsichten mißnutzen". Finstere Aussichten "für eine erträgliche Zivilgesellschaft". Sicherheit gibt es nicht mehr, wenn dem Chronisten selbst in der Klause eines befreundeten Dichters "ein Aupairgirl von unwiderstehlichem Hautgout und in einem aufreizend eingelaufenen Pullover" entgegentritt, "der hübschen schnirkelschneckenförmigen Nabel und einen etwa fahrradschlauchbreiten Hüftstreifen freigab". Da steht der empfindsame Zeitgenosse am Scheideweg: Bleib erschütterbar - oder widersteh. Die Historisierung des Phänomens mag die Wahrung der intellektuellen Distanz erlauben, schiebt aber die Entscheidung nur hinaus. "Seit einigen zwei-drei Jahren bereits à la mode, aber für meine Generation immer noch an eine borderline rührend, wo das Spiel mit der Selbstentblößung etwas Kritisches kriegt."
Einige zwei bis drei Jahre: Das sollte doch einen Anhalt zur Datierung dieses Textkonvoluts geben. Nichts ist zuerst so gegenwärtig und dann so vergangen, nichts ist so historisch wie die Mode. Als "TABU I" veröffentlichte Peter Rühmkorf 1995 seine Tagebücher der Wendejahre 1989 bis 1991. Läßt er nun mit "TABU II" die Jahrtausendwendezeit folgen? Nein, er tritt den Rückzug an, und siehe da: alles schon einmal dagewesen, die wachsende Angst vor dem Terror und seiner Bekämpfung, die schrumpfenden Gewinnmargen und Pullover. Kaum mehr als ein Jahr umfaßt der zweite Band, die Zeit von April 1971 bis Juni 1972.
Im April 1972 erschien das Buch, dessen Titel sprichwörtlich werden sollte, aber damals durchaus ironisch gemeint war, weil es die Linke, die der Wohlstand auf den Geschmack an der Gesellschaftsveränderung gebracht hatte, an eine Vergangenheit erinnerte, von der sie nichts mehr wissen wollte: an den Nachkrieg als Epoche nackter Armut und Augenblick unerhörter Freiheit. Wäre verstanden worden, was es bedeutete, daß alles neu gemacht werden mußte, hätte sich der Traum von der Revolution erübrigt. "Die Jahre, die Ihr kennt": Auf den zweiten Blick fragt man sich, ob nicht auch dieses Memoirenbuch eines vom Pensionsalter weit entfernten Autors, in dem Bosheiten über Freund und Feind sich abwechseln mit Prachtstücken aus dem ewigen Vorrat deutscher Fäkalpoesie, ein frühreifes Kind unserer Zeit sein könnte.
Rühmkorf, der Barde und Blattmacher, der die Volksdichtung sammelte, mit Jazzmusikern vor das Hamburger Rathaus trat, um gegen die heraufziehende Große Koalition zu protestieren, und Klaus Rainer Röhl empfahl, beim Titelblattlayout von "konkret" nicht länger jenseits des Lustprinzips zu agieren, war eine Art Pop-Titan, dem zu seinem Bedauern das Talent der Selbstvermarktung abging. Auch dieses Hadern mit der Warenunförmigkeit der eigenen Produktion gehört indes zu jenem Freimut, den sich nur der Popstar leisten kann. Die hunderteinundsechzig abgezählten Abschnitte der "Jahre" sind Bruchstücke eines großen Bekennerschreibens. "Wenn ich mal richtig ich sag . . .", das "Bilder-Lesebuch" zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am 25. Oktober, ist sozusagen die Kaffeetischausgabe von Rühmkorfs Soloalbum. Hier wird das in den Annalen ausgebreitete Material nun faksimiliert, angefangen mit den alliierten Flugblättern, die schon den Schüler zum Archivar seiner Sehnsüchte und Ängste machten.
Der Tagebuchschreiber nimmt naturgemäß erst recht kein Blatt vor den Mund. Schlimmstenfalls in die Hand, wie es ihm einmal auf kulturdiplomatischer Mission in London widerfuhr: "Auf der nicht verriegelbaren Goethetoilette dann von einer dieser BH-losen Hoheitsträgerinnen überrascht, und hob abwehrend verschreckt die Hand mit dem gerade benutzten Papier wie die blitzabwehrende Brunnenfigur auf der Piazza Navona (nachschlagen, wer, was, von wem, wogegen?): besetzt!" Das Nachschlagen ist dann unterblieben oder hat sich jedenfalls nicht in einer Retusche des Textes niedergeschlagen. Seht her: Er kann sich diese Blöße erlauben. Der Bildungsreflex des blitzgescheiten Verfassers ist auch so eindrucksvoll genug.
Den Erdenrest zu tragen ist Rühmkorf nicht peinlich, weil er nie auf die Komplettvergeistigung der Schöpfung spekuliert hat. Aber wo dem Schüler in den letzten Kriegstagen die alltägliche Drecksarbeit des Überlebens einen Begriff der Wirklichkeit in einer Welt der Lügen vermittelte, da markiert der in die Freiheit der Triebbefriedigung entlassene Leib die Grenze der Vergesellschaftung und damit auch des linken Projekts der Herstellung gleicher und vernünftiger Verhältnisse. Die "allerintimste Selbsteröffnung" des Freundes Erich, der als Alter ego ("er-ich") des Verfassers fungiert, soll zeigen, daß "die wirklichen Leidensgründe allemal leiblich-körperliche" seien.
Wenn wir die Jahre von "TABU II" zu kennen meinen, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, so bestätigt das zwar die Geltung von Marktgesetzen, nach denen anscheinend zu jeder Zeit das schlechtere Buch das bessere verdrängt. Aber das Totemtier des stillgestellten Fortschritts ist die Schnirkelschnecke auf dem Bauch der jungen Damen. In der Ökonomie der erotischen Provokation sind alle Marktlücken längst geschlossen. Ewig irritiert das Fleisch, weil es gleichgültig ist gegen den Prozeß der Zivilisation: Es ist das am Menschen, was auf alle Fälle ungebildet bleibt. Ein Leitfaden des Tagebuchs ist eine Komödie oder besser gesagt ein Schwank über den pädagogischen Eros: die Beziehung zu der Kapitänstochter und Gymnasiastin Aleke, erwachsend aus einer Situation der von vornherein von allen Parteien einschließlich des alten Seebären als potemkinsch durchschauten Nachhilfe.
Das Kritische des Spiels mit der Selbstentblößung hatte auch der Verfasser der "Jahre" zu bedenken. Diese "Privatgeschichtsschreibung" scheint ohne Preisgabe von Intimitäten auskommen zu wollen und hält dem linken Glauben noch die Treue, eine gerechte Gesellschaft werde aus öffentlichen Personen bestehen. Als "gesellschaftliches Wesen bis in tiefste Tiefen des Subjekts" weist den Autor seine Krankenakte aus: Auf einem Studentenkongreß in Prag entzündeten sich seine Mandeln im Namen der internationalen Solidarität. Es gehe darum, "Persönlichkeitsverschiebungen und Charakterumschläge als Gesellschaftsprodukt zu betrachten": Dieses Warnschild plazieren die "Jahre" vor der dort erzählten Geschichte, wie Ulrike Meinhof, Rühmkorfs Kollegin bei "konkret", sich durch das Scheitern ihrer Ehe in eine absolute Isolation treiben ließ, aus der nur Gewalt einen Ausweg zu weisen schien. Aber das Schicksal des Auseinanderbrechens einer Ehe unter dem Druck eines alle Verhältnisse regierenden "Liberalismus" ist ein gesellschaftliches nur im Sinne der Statistik. Alle unglücklichen Familien sind auf ihre eigene Weise unglücklich, und die Gründe lassen sich nicht hochrechnen.
Dieser Schluß wird im Tagebuch gezogen: Die Privatquelle korrigiert die Privathistorie durch die These, hinter der "Märtyrergeilheit" des politischen Fanatismus stünden "immer ungelöste und bis auf einen tiefsten Daseinsgrund vergiftete Familienbeziehungen". Man hat die Vermutung geäußert, Rühmkorf selbst glaube an diese Deutung nicht, die Psychologie sei hier nur Abwehrzauber - ein bizarres Fehlurteil, wie es nur ein Dogmatiker aus der Schule Hegels fällen kann. Jeder Gedankenstrich und jedes Auslassungszeichen in diesen Aufzeichnungen verweist auf die Erfahrung der Unzulänglichkeit der Dialektik: Das Versprechen der Erlösung durch Vermittlung ist trügerisch. Private und öffentliche Existenz lassen sich nicht harmonisieren - daher das urkomische und anrührende Nebeneinander von Eheleben und Ehebruch, aber auch die keiner Lösung zuzuführende Frage nach der dem eigenen Genius angemessenen Form des Schreibens. Das Gift in den Familienbeziehungen des Autors ist die uneheliche Geburt, die ihn den Gedanken fassen läßt, "daß ich tief unbewußt unsere nicht ganz regelrecht ausbalancierten Lebensverhältnisse reproduziere, in denen an Vaters Stelle nur ein mysterienumwobenes Loch klafft".
Für die vaterlose Gesellschaft als schönes Ideal steht in Rühmkorfs Vokabular der Begriff des Genossenschaftlichen, der in den Notizen von 1971/72 fast nur noch in ironisch-melancholischer Färbung vorkommt. Als am 15. Juni 1972 Ulrike Meinhof schließlich festgenommen wird, erzählt ihr Körper ihrem Freund ihre Geschichte: "erbarmungswürdig abgemagert u. zugleich aufgeschwemmt, ein verspätetes Heimkind", selbst "tragisches Opfer" des "fatalen Identifikations-gleich-Genossenschaftszaubers", der eine ganze Generation ergreift. Nicht zu verachten, die Psychologie, wenn sie gegen solchen Zauber zur Abwehr taugt. Was bleibt, wenn der Mensch sich als Naturerscheinung auf den Grund geht, wie es die "Jahre" postulierten, wenn er dann im Tagebuch die Geliebte und deren Hund als "die beiden ungleichen Viecher" beschreibt und sich selbst aus Freundesmund als "ein Tier" charakterisiert hört? "Schöne Zeiten, als ich noch mit den Wolken u. den Gestirnen genossenschaftlichen Umgang pflegte" - keine schlechten aber auch, als er es mit den Schnecken hielt und eine unverkennbare Spur auf dem Papier hinterließ.
Peter Rühmkorf: "TABU II". Tagebücher 1971 - 1972. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 399 S., geb., 22,90 [Euro].
Peter Rühmkorf: "Wenn ich mal richtig ich sag . . ." Ein Bilder-Lesebuch. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 156 S., Abb., geb., 29,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vaterloser Geselle: Peter Rühmkorf in seinen Tagebüchern
Schlechte Zeiten, Genosse. Der Buchmarkt ist im Umbruch, der Autor muß sehen, wie er seine Kosten hereinbekommt. Immerhin zahlt das Kulturfernsehen noch, wenn es ihn zu den "neuen Buchvertriebsmethoden" befragt. "Die großen Discounter, modernen Buchantiquariate, Massenversandhäuser, Katalogfirmen, Palettenabsatz en gros pp, wo die Highlights von gestern zu Massen-Mini-Preisen verschleudert werden u. der Edelliteratur nun noch einmal die Tour vermasseln." Kann darüber aber nicht wirklich klagen, "weil auch ich mich als Käufer mich bei diesen Quellen betanke". Der Schriftsteller steckt mit drin, ist repräsentativ nur noch insofern, als er am eigenen Leib die Proletarisierung des Mittelstandes studieren kann. Dem "blaugrau gewürfelten und schmalkrägigen Schlußverkaufshemd von Mey & Edlich", so "schneidig" es daherkommt, sieht wenigstens der Schicksalsgenosse und Geistesbruder den Preisabschlag an. Glücklich dagegen, wer in den "Hackeschen Höfen" wohnt und vor den "schön zu Augen gehenden Art-Deco-Fassaden bis in den dritten Hinterhof rechts hinten" die "neue Freundin in wagemutig geschlitztem Seidenkleid" spazierenführen kann.
Kassensturz auch im Politischen. Rapider Wertverfall der alten Ideale unter dem Druck globaler Bedrohungen. "Blutige Geistesverwirrungen allenthalben u. weltweit gespannte Verschwörer-Netzwerke." Selbst der Urlinke schließt in dieser Lage, "daß solches martialische Gespenstertreiben nur durch internationale Polizeigewalt eingedämmt werden kann". Der Haken ist allerdings, "daß die USA sich sofort an die Spitze solcher Operationen setzen würden u. den gerechten Zorn der zivilisierten Menschheit selbstsüchtig im Sinne eigener Hegemonialabsichten mißnutzen". Finstere Aussichten "für eine erträgliche Zivilgesellschaft". Sicherheit gibt es nicht mehr, wenn dem Chronisten selbst in der Klause eines befreundeten Dichters "ein Aupairgirl von unwiderstehlichem Hautgout und in einem aufreizend eingelaufenen Pullover" entgegentritt, "der hübschen schnirkelschneckenförmigen Nabel und einen etwa fahrradschlauchbreiten Hüftstreifen freigab". Da steht der empfindsame Zeitgenosse am Scheideweg: Bleib erschütterbar - oder widersteh. Die Historisierung des Phänomens mag die Wahrung der intellektuellen Distanz erlauben, schiebt aber die Entscheidung nur hinaus. "Seit einigen zwei-drei Jahren bereits à la mode, aber für meine Generation immer noch an eine borderline rührend, wo das Spiel mit der Selbstentblößung etwas Kritisches kriegt."
Einige zwei bis drei Jahre: Das sollte doch einen Anhalt zur Datierung dieses Textkonvoluts geben. Nichts ist zuerst so gegenwärtig und dann so vergangen, nichts ist so historisch wie die Mode. Als "TABU I" veröffentlichte Peter Rühmkorf 1995 seine Tagebücher der Wendejahre 1989 bis 1991. Läßt er nun mit "TABU II" die Jahrtausendwendezeit folgen? Nein, er tritt den Rückzug an, und siehe da: alles schon einmal dagewesen, die wachsende Angst vor dem Terror und seiner Bekämpfung, die schrumpfenden Gewinnmargen und Pullover. Kaum mehr als ein Jahr umfaßt der zweite Band, die Zeit von April 1971 bis Juni 1972.
Im April 1972 erschien das Buch, dessen Titel sprichwörtlich werden sollte, aber damals durchaus ironisch gemeint war, weil es die Linke, die der Wohlstand auf den Geschmack an der Gesellschaftsveränderung gebracht hatte, an eine Vergangenheit erinnerte, von der sie nichts mehr wissen wollte: an den Nachkrieg als Epoche nackter Armut und Augenblick unerhörter Freiheit. Wäre verstanden worden, was es bedeutete, daß alles neu gemacht werden mußte, hätte sich der Traum von der Revolution erübrigt. "Die Jahre, die Ihr kennt": Auf den zweiten Blick fragt man sich, ob nicht auch dieses Memoirenbuch eines vom Pensionsalter weit entfernten Autors, in dem Bosheiten über Freund und Feind sich abwechseln mit Prachtstücken aus dem ewigen Vorrat deutscher Fäkalpoesie, ein frühreifes Kind unserer Zeit sein könnte.
Rühmkorf, der Barde und Blattmacher, der die Volksdichtung sammelte, mit Jazzmusikern vor das Hamburger Rathaus trat, um gegen die heraufziehende Große Koalition zu protestieren, und Klaus Rainer Röhl empfahl, beim Titelblattlayout von "konkret" nicht länger jenseits des Lustprinzips zu agieren, war eine Art Pop-Titan, dem zu seinem Bedauern das Talent der Selbstvermarktung abging. Auch dieses Hadern mit der Warenunförmigkeit der eigenen Produktion gehört indes zu jenem Freimut, den sich nur der Popstar leisten kann. Die hunderteinundsechzig abgezählten Abschnitte der "Jahre" sind Bruchstücke eines großen Bekennerschreibens. "Wenn ich mal richtig ich sag . . .", das "Bilder-Lesebuch" zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am 25. Oktober, ist sozusagen die Kaffeetischausgabe von Rühmkorfs Soloalbum. Hier wird das in den Annalen ausgebreitete Material nun faksimiliert, angefangen mit den alliierten Flugblättern, die schon den Schüler zum Archivar seiner Sehnsüchte und Ängste machten.
Der Tagebuchschreiber nimmt naturgemäß erst recht kein Blatt vor den Mund. Schlimmstenfalls in die Hand, wie es ihm einmal auf kulturdiplomatischer Mission in London widerfuhr: "Auf der nicht verriegelbaren Goethetoilette dann von einer dieser BH-losen Hoheitsträgerinnen überrascht, und hob abwehrend verschreckt die Hand mit dem gerade benutzten Papier wie die blitzabwehrende Brunnenfigur auf der Piazza Navona (nachschlagen, wer, was, von wem, wogegen?): besetzt!" Das Nachschlagen ist dann unterblieben oder hat sich jedenfalls nicht in einer Retusche des Textes niedergeschlagen. Seht her: Er kann sich diese Blöße erlauben. Der Bildungsreflex des blitzgescheiten Verfassers ist auch so eindrucksvoll genug.
Den Erdenrest zu tragen ist Rühmkorf nicht peinlich, weil er nie auf die Komplettvergeistigung der Schöpfung spekuliert hat. Aber wo dem Schüler in den letzten Kriegstagen die alltägliche Drecksarbeit des Überlebens einen Begriff der Wirklichkeit in einer Welt der Lügen vermittelte, da markiert der in die Freiheit der Triebbefriedigung entlassene Leib die Grenze der Vergesellschaftung und damit auch des linken Projekts der Herstellung gleicher und vernünftiger Verhältnisse. Die "allerintimste Selbsteröffnung" des Freundes Erich, der als Alter ego ("er-ich") des Verfassers fungiert, soll zeigen, daß "die wirklichen Leidensgründe allemal leiblich-körperliche" seien.
Wenn wir die Jahre von "TABU II" zu kennen meinen, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, so bestätigt das zwar die Geltung von Marktgesetzen, nach denen anscheinend zu jeder Zeit das schlechtere Buch das bessere verdrängt. Aber das Totemtier des stillgestellten Fortschritts ist die Schnirkelschnecke auf dem Bauch der jungen Damen. In der Ökonomie der erotischen Provokation sind alle Marktlücken längst geschlossen. Ewig irritiert das Fleisch, weil es gleichgültig ist gegen den Prozeß der Zivilisation: Es ist das am Menschen, was auf alle Fälle ungebildet bleibt. Ein Leitfaden des Tagebuchs ist eine Komödie oder besser gesagt ein Schwank über den pädagogischen Eros: die Beziehung zu der Kapitänstochter und Gymnasiastin Aleke, erwachsend aus einer Situation der von vornherein von allen Parteien einschließlich des alten Seebären als potemkinsch durchschauten Nachhilfe.
Das Kritische des Spiels mit der Selbstentblößung hatte auch der Verfasser der "Jahre" zu bedenken. Diese "Privatgeschichtsschreibung" scheint ohne Preisgabe von Intimitäten auskommen zu wollen und hält dem linken Glauben noch die Treue, eine gerechte Gesellschaft werde aus öffentlichen Personen bestehen. Als "gesellschaftliches Wesen bis in tiefste Tiefen des Subjekts" weist den Autor seine Krankenakte aus: Auf einem Studentenkongreß in Prag entzündeten sich seine Mandeln im Namen der internationalen Solidarität. Es gehe darum, "Persönlichkeitsverschiebungen und Charakterumschläge als Gesellschaftsprodukt zu betrachten": Dieses Warnschild plazieren die "Jahre" vor der dort erzählten Geschichte, wie Ulrike Meinhof, Rühmkorfs Kollegin bei "konkret", sich durch das Scheitern ihrer Ehe in eine absolute Isolation treiben ließ, aus der nur Gewalt einen Ausweg zu weisen schien. Aber das Schicksal des Auseinanderbrechens einer Ehe unter dem Druck eines alle Verhältnisse regierenden "Liberalismus" ist ein gesellschaftliches nur im Sinne der Statistik. Alle unglücklichen Familien sind auf ihre eigene Weise unglücklich, und die Gründe lassen sich nicht hochrechnen.
Dieser Schluß wird im Tagebuch gezogen: Die Privatquelle korrigiert die Privathistorie durch die These, hinter der "Märtyrergeilheit" des politischen Fanatismus stünden "immer ungelöste und bis auf einen tiefsten Daseinsgrund vergiftete Familienbeziehungen". Man hat die Vermutung geäußert, Rühmkorf selbst glaube an diese Deutung nicht, die Psychologie sei hier nur Abwehrzauber - ein bizarres Fehlurteil, wie es nur ein Dogmatiker aus der Schule Hegels fällen kann. Jeder Gedankenstrich und jedes Auslassungszeichen in diesen Aufzeichnungen verweist auf die Erfahrung der Unzulänglichkeit der Dialektik: Das Versprechen der Erlösung durch Vermittlung ist trügerisch. Private und öffentliche Existenz lassen sich nicht harmonisieren - daher das urkomische und anrührende Nebeneinander von Eheleben und Ehebruch, aber auch die keiner Lösung zuzuführende Frage nach der dem eigenen Genius angemessenen Form des Schreibens. Das Gift in den Familienbeziehungen des Autors ist die uneheliche Geburt, die ihn den Gedanken fassen läßt, "daß ich tief unbewußt unsere nicht ganz regelrecht ausbalancierten Lebensverhältnisse reproduziere, in denen an Vaters Stelle nur ein mysterienumwobenes Loch klafft".
Für die vaterlose Gesellschaft als schönes Ideal steht in Rühmkorfs Vokabular der Begriff des Genossenschaftlichen, der in den Notizen von 1971/72 fast nur noch in ironisch-melancholischer Färbung vorkommt. Als am 15. Juni 1972 Ulrike Meinhof schließlich festgenommen wird, erzählt ihr Körper ihrem Freund ihre Geschichte: "erbarmungswürdig abgemagert u. zugleich aufgeschwemmt, ein verspätetes Heimkind", selbst "tragisches Opfer" des "fatalen Identifikations-gleich-Genossenschaftszaubers", der eine ganze Generation ergreift. Nicht zu verachten, die Psychologie, wenn sie gegen solchen Zauber zur Abwehr taugt. Was bleibt, wenn der Mensch sich als Naturerscheinung auf den Grund geht, wie es die "Jahre" postulierten, wenn er dann im Tagebuch die Geliebte und deren Hund als "die beiden ungleichen Viecher" beschreibt und sich selbst aus Freundesmund als "ein Tier" charakterisiert hört? "Schöne Zeiten, als ich noch mit den Wolken u. den Gestirnen genossenschaftlichen Umgang pflegte" - keine schlechten aber auch, als er es mit den Schnecken hielt und eine unverkennbare Spur auf dem Papier hinterließ.
Peter Rühmkorf: "TABU II". Tagebücher 1971 - 1972. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 399 S., geb., 22,90 [Euro].
Peter Rühmkorf: "Wenn ich mal richtig ich sag . . ." Ein Bilder-Lesebuch. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 156 S., Abb., geb., 29,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Gabriele Killert stellt das jetzt zum 75. Geburtstag von Peter Rühmkorf erschienene Tagebuch von 1971/72 vor, dass als TABU II dem ersten Tagebuch folgt, das die Jahre 1989 bis 1991 umfasst und damit chronologisch eigentlich an zweiter Stelle steht. Die Rezensentin macht aus ihren Sympathien für den Lyriker, der seine wiederholten Schreibkrisen mit dem Verfassen der Tagebücher überbrückt, keinen Hehl. Gerade weil Rühmkorf bei allem Leiden diesen "Vagantenton desperater Heiterkeit" anstimmt", deshalb, so Killert entzückt, "haben wir ihn ja so gern". Denn zwar zieht sich wie ein roter Faden "Enttäuschung und Melancholie" durch das Tagebuch, das von seinen Misserfolgen als Dramatiker, der politischen Situation in der Bundesrepublik und von Alkohol- und Tablettenbetäubung berichtet. Doch daneben behauptet sich ein "satyrischer Komödienfaden", mit der Rühmkorf seine "artistische Selbstaufhebung" betreibt, meint die Rezensentin eingenommen. Rühmkorf ist ein "Gesamtkunstwerk", der in "bierernstbeflissenen Zeiten" seinem "Unmut" eine Stimme gibt und in seinem "beschwingten Abwinken" etwas "Kostbares" ist, preist Killert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH