»Ich will nicht! Widerstrebend ziehe ich mich an. Über die Unterwäsche eine Wollstrumpfhose, darüber Leggings und die schwere Thermojeans. Dann schlupfe ich in ein Unterhemd, ein langärmeliges T-Shirt sowie einen dicken Wollpullover. Die Füße bekommen über das dünne ein extra Paar warme Socken. Dezentes Make-up. Nun gefütterte Winterstiefel, Stulpen, Daunenanorak, Mütze, doppelt gewickelter Schal, Handschuhe. So sehe ich aus wie die Zwillingsschwester des Marshmallow Man auf dem Weg zu einer Polarexpedition. Ich rüste mich aber bei den heutigen zwölf Grad Minus lediglich zu einer Reise ins Prekarianer-Universum: Dergestalt präpariert mache ich mich auf zu meinem alldienstäglichen Gang zur Berliner Tafel, um dort Lebensmittel zu holen ...« So beginnt Alexandra Zipperers Geschichte »Tafeln wie Gott in Deutschland - Aufbruch in eine Parallelwelt«. Eine beeindruckende und zugleich niederschmetternde Geschichte über den Alltag einer Tafelgängerin. Mit Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation und Energiekrise ist eine stetig wachsende Armut in Deutschland zu verzeichnen. Doch schon zuvor vermochten immer weniger Menschen von ihrer Arbeit oder Rente bzw. den unzureichenden Transferleistungen zu leben und wenden sich langfristig zur Grundversorgung mit Nahrungsmitteln an die Tafeln. Obgleich die Tafeln 1993 lediglich als Provisorium ins Leben gerufen wurden, etablierten sie sich zu einem deprimierenden und fragwürdigen Dauerzustand. Sie versuchen auf privater Basis mit Ehrenamtlichen die zunehmende Not zu lindern, während der Staat seiner Verantwortung nicht angemessen nachkommt. Der Text stellt demnach keine Kritik an den Tafeln, sondern an den systemimmanenten gesellschaftlichen Gegebenheiten dar und übersetzt abstrakte Statistikzahlen in eine konkret erfahrbare, individuelle Biografie.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Viele wissenswerte Details und Fakten entnimmt Rezensentin Cosima Lutz dieser Streitschrift zum Thema Armut und Tafeln von Alexandra Zipperer. Dabei stellt Lutz heraus, dass viele, die auf die Tafeln angewiesen sind, nicht mehr dem Stereotyp "obdachlos" entsprechen, sondern es hier um die in Auflösung begriffene Mittelschicht geht. Für diese steht Autorin Zipperer, die als Akademikerin eigentlich dem Bildungsbürgertum angehören sollte, aber durch Schicksalsschläge in die Armut abgerutscht ist. In ihrer Streitschrift, so Lutz, fordert Zipperer, dass sich der Staat der Tafeln nicht als Ausrede für die eigene missratene Sozialpolitik bedienen, sondern den Mittelstand mit konkreten Maßnahmen vor der Armut bewahren sollte. Die durch dieses Buch inspirierte Rezensentin Lutz fordert überdies stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt ein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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