George Saunders, der "König der Kurzgeschichte" (NZZ), erzählt einfühlsam und virtuos von den Gefängnissen, in denen wir stecken - den realen wie den eingebildeten.
"Tag der Befreiung" versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.
George Saunders erzählt mir großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten...
"Tag der Befreiung" versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.
George Saunders erzählt mir großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten...
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Kein Erbarmen" kennt George Saunders in seinen hier versammelten Short Stories, so Rezensent Rainer Moritz, der Saunder als einen der Großen auf diesem Gebiet ansieht. Im neuen Band versammelt er verschiedene Geschichten, die das "Verderben" als gemeinsames Thema haben. Es geht um eine dystopische Version der USA als Faschistenstaat, um Unterwerfung und Elend, immer wieder geht es um Außenseiter, so der Rezensent. Die werden allerdings nicht unbedingt zu sympathischen Identifikationsfiguren, wie die Erzählung "Muttertag" beweist, in der sich Frauen gegenseitig das Leben schwer machen. "Mit einer Art Ekelfaszination" liest Moritz manche der Geschichten, die ihn nicht mehr loslassen, weil Saunders das Grauen so kunstvoll spinnt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2024Ciao, verkrampfter Optimismus!
In seinem Erzählungsband "Tag der Befreiung" durchdringt George Saunders die komplexen Konflikte der amerikanischen Gegenwart und Seele.
Am 5. November 2024 wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. Mit der erneuten Kandidatur Donald Trumps sind auch die Ängste vor einem Rechtsruck oder gar vor einem Ende der amerikanischen Demokratie zurück. George Saunders hat für diese Situation schon vor zwei Jahren das passende Buch geschrieben, jetzt erscheint es auf Deutsch: "Tag der Befreiung".
In der "Late Show" von Stephen Colbert hatte er 2022 über die Stimmung gesprochen, aus der heraus die neun Erzählungen dieses Buchs entstanden waren: "Vor der Wahl 2020 fühlte ich mich einfach aufgewühlt und sauer. Und vor allem war mein Gefühl: Werden wir es wirklich ruinieren, dieses schöne Land, das wir auf einem gemeinsamen Konsens aufgebaut haben? Werden wir wirklich zulassen, dass etwas so Dummes und Lächerliches - jemand so Dummes und Lächerliches! - es zerstört?"
In "Tag der Befreiung" ist von realen politischen Ereignissen oder Positionen nur wenig zu lesen. Die meisten Geschichten handeln von Durchschnittsbürgern und ihren Werten, Überzeugungen und Lebenswelten. Was sich jedoch hinter betont beiläufigen Titeln wie "Eine Sache auf der Arbeit", "Muttertag" oder "Liebesbrief" verbirgt, ist ein Mix dessen, was Menschen sich ganz alltäglich an mehr oder weniger subtilen Grausamkeiten antun: bösartige Intrigen im Büro, die gehässigen Gedanken einer alt gewordenen Mutter beim Spaziergang mit ihrer Tochter, die Rache eines Vaters an einem Unschuldigen. All die menschlichen Abgründe, die genug Stoff für einige Shakespeare'sche Dramen böten, findet Saunders in der Normalität des amerikanischen Alltags wieder.
In "Die Mom der kühnen Tat" etwa steigert sich die sonst liebenswerte Mutter eines Jungen, die in ihrer Freizeit putzige Geschichten über belebte Gegenstände schreibt und nett zu jedem ist, in eine Art moralische Raserei, als ihr Sohn von einem Obdachlosen in ein Gebüsch gestoßen wird und sich dabei verletzt. Da es zwei Verdächtige gibt und der Junge den Täter nicht zweifelsfrei identifizieren kann, kommt der Schuldige straffrei davon.
In einem inneren Monolog erleben wir, wie die Mutter sich in immer konkreteren Gewalt- und Rachephantasien ergeht, die schließlich in einem Essay mit dem Titel "Gerechtigkeit" gipfeln, der wiederum den Vater des Jungen dazu animiert, einen - wie sich später herausstellt, unschuldigen - Mann zusammenzuschlagen: "Ciao, Dosenöffner mit großen Träumen; ciao, sprechende Bäume; ciao, Henry der Pflichtbewusste Eiswagen-Reifen, dieser Schrotttext, an dem sie die längste Zeit des letzten Jahres gearbeitet hatte; ciao, verkrampfter Optimismus; ciao, politische Korrektheit. Das hier war der heiße Scheiß. Wow. Sie wusste genau, was sie sagen wollte. Es war, als wollte sie einen Bach überque-ren, und unter ihren Füßen tauchte ein Stein nach dem anderen auf. Es war, als würde sie endlich laut sprechen. Aber auf dem Papier. Es war das Ehrlichste und Authentischste, was sie je geschrieben hatte. Es klang nicht nach ihr, aber es war sie, in echt."
Was Saunders' neun Erzählungen verbindet, ist ein scharfer Blick für die moralischen Abgründe in unseren gut gemeinten Überzeugungen, Werten und Handlungen. Wenn die Figuren sich, ihre Familie oder ihre Gemeinschaft bedroht sehen, schlägt ihr moralischer Universalismus in Tribalismus und Hass um. Das behandelt Saunders in verschiedenen Settings, Stilen und Perspektiven: Einige Geschichten scheinen in der amerikanischen Gegenwart zu spielen, andere bewegen sich durch eine autoritäre Zukunft. Teils werden sie von Figuren erzählt, die durch ein nicht näher beschriebenes Verfahren ihr Gedächtnis verloren haben, weil sie als "unwürdige Personen" aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden. "Ghul" malt ein dystopisches Szenario aus, in dem Menschen in einer Art gigantischem Gruselkabinett ohne Zuschauer leben. Bei kleinsten Vergehen (worunter auch schon die Frage fällt, ob wohl jemals Publikum kommen wird, um die Performances zu sehen) droht ihnen die größtmögliche Strafe: Die Anwesenden bilden einen Kreis, und der oder die Beschuldigte wird an Ort und Stelle von den Umstehenden totgetreten. Wer andere nicht denunziert, macht sich damit selbst schuldig. Als eine der Figuren durch einen Brief erfährt, dass nie jemand auftauchen wird, gerät für ihn alles ins Rutschen: "Süßer, da kommt keiner. Um zu schauen, wie gut wir das alles gemacht haben/machen. Hier gibt's nur uns. Bis in alle Ewigkeit."
Saunders zeichnet mit seinen Geschichten eine erbärmliche Conditio humana, zeigt den Menschen als opportunistisches, verletzliches Wesen - und tut all das nicht mit abgeklärter Misanthropie, sondern erstaunlichem Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Obwohl man sie innerlich allesamt verurteilen möchte, empfindet man widerwillig auch Verständnis für sie. Und so bricht auch in den Erzählungen selbst die Logik von Vergeltung und Revanchismus bisweilen kurz auf: Als die Mutter in "Die Mom der kühnen Tat" einige Wochen später jene Person auf der Straße sieht, die zu Unrecht für den Angriff auf ihren Sohn zusammengeschlagen wurde, und diese nun sichtbar hinkt, entsteht - in jenem subtil überzeichneten Ton erzählt, den Saunders perfekt beherrscht - aus dem Nichts ein heller, grüner Lichtstrahl zwischen beiden. Wo das Gegenüber selbst als verletzliche Kreatur erkannt wird, entspringt bei aller Armseligkeit ein Moment von gegenseitigem Verständnis. Wenigstens in der bewusst verkitscht dargestellten Phantasie der Protagonistin.
In seinem neuen Buch wird Saunders vor allem seinem Ruf als großer Stilist der amerikanischen Literatur gerecht. Er schafft es, auf wenigen Seiten Welten und Figuren von erstaunlicher Dichte und Tiefe entstehen zu lassen, die einen ohne langen Aufbau sofort in ihre Handlung hineinziehen. Zugleich wird an "Tag der Befreiung" deutlich, wie gerade kurze Erzählungen dazu geeignet sind, etwas in unserer Gegenwart sichtbar zu machen. Dabei wirken sie allerdings nie belehrend oder durchsichtig. Saunders' Geschichten sind so subtil, dass manche von ihnen sich auf den ersten Blick fast wie Banalitäten lesen. Gerade im Nachwirken entfalten sie aber ihre Komplexität. In seinem viel gelobten Essayband "Bei Regen in einem Teich schwimmen" über die Kunst des Schreibens (2022) zeigte sich, dass Literatur für Saunders eine eigene Ethik vertritt, die sich in einer Veränderung unserer Art zu sehen manifestiert. Seine Erzählungen haben darin, ohne das je explizit zu machen, vielleicht selbst etwas von jenem grünen Lichtstrahl, der einen kurzen Moment gegenseitigen Verständnisses herstellt.
Die letzte Erzählung im neuen Buch, "Mein Haus", ist zugleich die rätselhafteste: Ein Mann versucht, ein Haus zu kaufen. Alles scheint seinen Weg zu gehen, man einigt sich auf einen Preis. Er zögert jedoch kurz, bevor er dem Verkäufer ein dauerhaftes Besuchsrecht verspricht. Dieses Zögern führt dazu, dass der Verkäufer auf keinen der folgenden Briefe mehr antwortet, obwohl er das Geld eigentlich dringend zu brauchen schien. Schließlich wird der Käufer selbst krank, das Haus ist nicht mehr relevant, er rätselt aber weiter, woran der Verkauf letztlich scheiterte. Beide Männer leiden unabhängig voneinander, der eine an Geldnot, der andere daran, dass ihm zu Lebzeiten sein Traumhaus vorenthalten blieb. Die leise Moral der Erzählung zu konstruieren wird dem Leser selbst überlassen: Das Haus hätte ohne Probleme genügend Platz für beide geboten. MANUEL PASS
George Saunders, "Tag der Befreiung". Stories. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Erzählungsband "Tag der Befreiung" durchdringt George Saunders die komplexen Konflikte der amerikanischen Gegenwart und Seele.
Am 5. November 2024 wird in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt. Mit der erneuten Kandidatur Donald Trumps sind auch die Ängste vor einem Rechtsruck oder gar vor einem Ende der amerikanischen Demokratie zurück. George Saunders hat für diese Situation schon vor zwei Jahren das passende Buch geschrieben, jetzt erscheint es auf Deutsch: "Tag der Befreiung".
In der "Late Show" von Stephen Colbert hatte er 2022 über die Stimmung gesprochen, aus der heraus die neun Erzählungen dieses Buchs entstanden waren: "Vor der Wahl 2020 fühlte ich mich einfach aufgewühlt und sauer. Und vor allem war mein Gefühl: Werden wir es wirklich ruinieren, dieses schöne Land, das wir auf einem gemeinsamen Konsens aufgebaut haben? Werden wir wirklich zulassen, dass etwas so Dummes und Lächerliches - jemand so Dummes und Lächerliches! - es zerstört?"
In "Tag der Befreiung" ist von realen politischen Ereignissen oder Positionen nur wenig zu lesen. Die meisten Geschichten handeln von Durchschnittsbürgern und ihren Werten, Überzeugungen und Lebenswelten. Was sich jedoch hinter betont beiläufigen Titeln wie "Eine Sache auf der Arbeit", "Muttertag" oder "Liebesbrief" verbirgt, ist ein Mix dessen, was Menschen sich ganz alltäglich an mehr oder weniger subtilen Grausamkeiten antun: bösartige Intrigen im Büro, die gehässigen Gedanken einer alt gewordenen Mutter beim Spaziergang mit ihrer Tochter, die Rache eines Vaters an einem Unschuldigen. All die menschlichen Abgründe, die genug Stoff für einige Shakespeare'sche Dramen böten, findet Saunders in der Normalität des amerikanischen Alltags wieder.
In "Die Mom der kühnen Tat" etwa steigert sich die sonst liebenswerte Mutter eines Jungen, die in ihrer Freizeit putzige Geschichten über belebte Gegenstände schreibt und nett zu jedem ist, in eine Art moralische Raserei, als ihr Sohn von einem Obdachlosen in ein Gebüsch gestoßen wird und sich dabei verletzt. Da es zwei Verdächtige gibt und der Junge den Täter nicht zweifelsfrei identifizieren kann, kommt der Schuldige straffrei davon.
In einem inneren Monolog erleben wir, wie die Mutter sich in immer konkreteren Gewalt- und Rachephantasien ergeht, die schließlich in einem Essay mit dem Titel "Gerechtigkeit" gipfeln, der wiederum den Vater des Jungen dazu animiert, einen - wie sich später herausstellt, unschuldigen - Mann zusammenzuschlagen: "Ciao, Dosenöffner mit großen Träumen; ciao, sprechende Bäume; ciao, Henry der Pflichtbewusste Eiswagen-Reifen, dieser Schrotttext, an dem sie die längste Zeit des letzten Jahres gearbeitet hatte; ciao, verkrampfter Optimismus; ciao, politische Korrektheit. Das hier war der heiße Scheiß. Wow. Sie wusste genau, was sie sagen wollte. Es war, als wollte sie einen Bach überque-ren, und unter ihren Füßen tauchte ein Stein nach dem anderen auf. Es war, als würde sie endlich laut sprechen. Aber auf dem Papier. Es war das Ehrlichste und Authentischste, was sie je geschrieben hatte. Es klang nicht nach ihr, aber es war sie, in echt."
Was Saunders' neun Erzählungen verbindet, ist ein scharfer Blick für die moralischen Abgründe in unseren gut gemeinten Überzeugungen, Werten und Handlungen. Wenn die Figuren sich, ihre Familie oder ihre Gemeinschaft bedroht sehen, schlägt ihr moralischer Universalismus in Tribalismus und Hass um. Das behandelt Saunders in verschiedenen Settings, Stilen und Perspektiven: Einige Geschichten scheinen in der amerikanischen Gegenwart zu spielen, andere bewegen sich durch eine autoritäre Zukunft. Teils werden sie von Figuren erzählt, die durch ein nicht näher beschriebenes Verfahren ihr Gedächtnis verloren haben, weil sie als "unwürdige Personen" aus der Gemeinschaft ausgestoßen wurden. "Ghul" malt ein dystopisches Szenario aus, in dem Menschen in einer Art gigantischem Gruselkabinett ohne Zuschauer leben. Bei kleinsten Vergehen (worunter auch schon die Frage fällt, ob wohl jemals Publikum kommen wird, um die Performances zu sehen) droht ihnen die größtmögliche Strafe: Die Anwesenden bilden einen Kreis, und der oder die Beschuldigte wird an Ort und Stelle von den Umstehenden totgetreten. Wer andere nicht denunziert, macht sich damit selbst schuldig. Als eine der Figuren durch einen Brief erfährt, dass nie jemand auftauchen wird, gerät für ihn alles ins Rutschen: "Süßer, da kommt keiner. Um zu schauen, wie gut wir das alles gemacht haben/machen. Hier gibt's nur uns. Bis in alle Ewigkeit."
Saunders zeichnet mit seinen Geschichten eine erbärmliche Conditio humana, zeigt den Menschen als opportunistisches, verletzliches Wesen - und tut all das nicht mit abgeklärter Misanthropie, sondern erstaunlichem Einfühlungsvermögen für seine Figuren. Obwohl man sie innerlich allesamt verurteilen möchte, empfindet man widerwillig auch Verständnis für sie. Und so bricht auch in den Erzählungen selbst die Logik von Vergeltung und Revanchismus bisweilen kurz auf: Als die Mutter in "Die Mom der kühnen Tat" einige Wochen später jene Person auf der Straße sieht, die zu Unrecht für den Angriff auf ihren Sohn zusammengeschlagen wurde, und diese nun sichtbar hinkt, entsteht - in jenem subtil überzeichneten Ton erzählt, den Saunders perfekt beherrscht - aus dem Nichts ein heller, grüner Lichtstrahl zwischen beiden. Wo das Gegenüber selbst als verletzliche Kreatur erkannt wird, entspringt bei aller Armseligkeit ein Moment von gegenseitigem Verständnis. Wenigstens in der bewusst verkitscht dargestellten Phantasie der Protagonistin.
In seinem neuen Buch wird Saunders vor allem seinem Ruf als großer Stilist der amerikanischen Literatur gerecht. Er schafft es, auf wenigen Seiten Welten und Figuren von erstaunlicher Dichte und Tiefe entstehen zu lassen, die einen ohne langen Aufbau sofort in ihre Handlung hineinziehen. Zugleich wird an "Tag der Befreiung" deutlich, wie gerade kurze Erzählungen dazu geeignet sind, etwas in unserer Gegenwart sichtbar zu machen. Dabei wirken sie allerdings nie belehrend oder durchsichtig. Saunders' Geschichten sind so subtil, dass manche von ihnen sich auf den ersten Blick fast wie Banalitäten lesen. Gerade im Nachwirken entfalten sie aber ihre Komplexität. In seinem viel gelobten Essayband "Bei Regen in einem Teich schwimmen" über die Kunst des Schreibens (2022) zeigte sich, dass Literatur für Saunders eine eigene Ethik vertritt, die sich in einer Veränderung unserer Art zu sehen manifestiert. Seine Erzählungen haben darin, ohne das je explizit zu machen, vielleicht selbst etwas von jenem grünen Lichtstrahl, der einen kurzen Moment gegenseitigen Verständnisses herstellt.
Die letzte Erzählung im neuen Buch, "Mein Haus", ist zugleich die rätselhafteste: Ein Mann versucht, ein Haus zu kaufen. Alles scheint seinen Weg zu gehen, man einigt sich auf einen Preis. Er zögert jedoch kurz, bevor er dem Verkäufer ein dauerhaftes Besuchsrecht verspricht. Dieses Zögern führt dazu, dass der Verkäufer auf keinen der folgenden Briefe mehr antwortet, obwohl er das Geld eigentlich dringend zu brauchen schien. Schließlich wird der Käufer selbst krank, das Haus ist nicht mehr relevant, er rätselt aber weiter, woran der Verkauf letztlich scheiterte. Beide Männer leiden unabhängig voneinander, der eine an Geldnot, der andere daran, dass ihm zu Lebzeiten sein Traumhaus vorenthalten blieb. Die leise Moral der Erzählung zu konstruieren wird dem Leser selbst überlassen: Das Haus hätte ohne Probleme genügend Platz für beide geboten. MANUEL PASS
George Saunders, "Tag der Befreiung". Stories. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand Verlag, 320 Seiten, 25 Euro.
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»George Saunders ist der innovativste, der spielwütigste, der stärkste Erzähler nach David Foster Wallace in den USA unserer Gegenwart.« Denis Scheck / SWR Fernsehen - lesenswert Quartett