Italien 1943. "Die Welt ist ein Inferno." Mit diesen Worten warnen die Nonnen des römischen Mädcheninternats ihre Schützlinge vor den Gefahren, die draußen auf sie lauern. Aber die vierzehnjährige Anna brennt vor Neugierde, ebenjene Welt kennenzulernen. Sie kann es kaum erwarten, aus der beengenden, bigotten Internatswelt auszubrechen, mit ihrem dumpfen Geruch nach Küche und Weihrauch. Als dann endlich der Sommer kommt und mit ihm die heißersehnten Ferien, ist die lebenshungrige Anna fest entschlossen, die Freiheit in vollen Zügen auszukosten. Mit ihrem jüngeren Bruder Giovanni fährt sie an die Küste vor Rom, um den August bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter zu verbringen. Vor dem düsteren Hintergrund des faschistischen Italien macht Anna ihre ersten wahllosen sexuellen Erfahrungen und verführt - ganz die schuldlos schuldige Lolita - Männer jeden Alters. Aber der Sommer geht zu Ende und mit ihm die Zeit der Illusionen ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2002Leerzeit
Jung geblieben: „Tage im August”,
der Erstling von Dacia Maraini
Nicht jedem Schriftsteller dürfte es angenehm sein, nach einem halben Leben seinen Erstling wiederzulesen. Die im Jahre 1936 geborenen Italienerin Dacia Maraini, die in den neunziger Jahren auch in Deutschland viele Leser gefunden hat, betrachtet im Vorwort zur Neuausgabe ihres Debütromans ihre Anfänge mit Skepsis. An der jungen Autorin, die 1962 mit „La vacanza” schlagartig berühmt wurde, missfällt ihr die Neigung, „an Details festzuhalten, ohne sie als Teil eines Ganzen zu erkennen”, und sie diagnostiziert „einen noch kindlichen Geist, der sich auf die Beschreibung unverständlicher Widersprüche versteifte”. Die Selbstkritik hindert sie freilich nicht, späte Rührung zu empfinden über das Mädchen, das drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Florenz geboren wurde, knapp dem Konzentrationslager entkam, die bittere Not der Nachkriegszeit erlebte und beim Lesen mit der Taschenlampe unter der Bettdecke beschloss, so bald wie möglich ein Buch zu schreiben, weil sie in Büchern „das Salz der Erde” schmeckte. Mit siebzehn, und hier wird es vollends herzzerreißend, begann sie die Arbeit an ihrem ersten Prosawerk, nachdem ihr die Hauptfigur eines Morgens einfach „erschienen” war, um „Obdach und Verständnis” bittend. Bis heute, erfahren wir, wird die Signora von ihren Figuren in ähnlicher Weise heimgesucht, zum Schreiben gedrängt und nicht selten dazu gebracht, „daß ich mich in sie verliebe”.
Es ist wohl eine typisch italienische Eigenart, solchen Gefühlsüberschwang mühelos mit der kühlen, harten Präzision zu vereinen, die an Marainis frühem Roman noch immer beeindruckt. Der deutsche Titel „Tage im August” verschluckt die Doppelbedeutung von „La vacanza”, mit der die Debütantin seinerzeit bewusst spielte: Vordergründig sind die Ferien gemeint, aber dahinter steht die Leere, das Sinn-Vakuum, das die junge Schriftstellerin in sich selbst und in ihrer Epoche registrierte und das sie mit bemerkenswerter Eleganz ihrer vierzehnjährigen Ich-Erzählerin Anna einverleibte. Diese Leere ist der Kern, das eigentliche Thema der Geschichte, während Annas sexuelles Erwachen, nach damaligem Maßstab recht freizügig und zugleich seltsam körperlos geschildert, nur als eines der Motive fungiert, die jene existentielle Erfahrung einkreisen und hervorheben.
Ein träger Kriegssommer
Im Spätsommer 1943 werden Anna und ihr jüngerer Bruder Giovanni vom Vater aus dem römischen Internat abgeholt und per Motorrad ans Meer verfrachtet, wo ihre neue Stiefmutter Nina sie erwartet, eine lebenslustige Frau mit nymphomanischen Anwandlungen. An der Küste von Latium verbringt man die Ferien im Haus von Papas Geschäftspartner, der aber in Wahrheit sein Chef ist und mit Gattin und pubertierendem Sohn das obere Stockwerk bewohnt.
Das träge, streng sinnfreie Sommerritual italienischer Familien, in dieser Konstellation mit allerlei Spannungen aufgeladen, vollzieht sich unter dem Motorenlärm der alliierten Bombenflugzeuge und unter der Bedrohung des näherrückenden Krieges, den man mit munteren Beschwörungsformeln auf Distanz zu halten versucht. „Hier haben wir es gut. Der Krieg ist weit weg. Man riecht nur das Meer - und diese Zitronenhautcreme...”, schwärmt eine der Damen, und die Herren, stramme Mussolini-Anhänger, schwadronieren voller Zuversicht über die neue faschistische Regierung. Anna, die ebenso wachsame wie gleichmütige Beobachterin der Verhältnisse, genießt die Befreiung aus der düsteren Enge der Klosterschule und experimentiert kalten Sinnes mit der Gier, die ihre kindhafte Weiblichkeit bei pädophilen und verklemmten Männern jeden Alters hervorruft. Ihr naiv-nüchterner Blick ist eine Vorstufe der unbarmherzigen Distanz, aus der die Feministin Maraini später die Beziehungen zwischen den Geschlechtern betrachten sollte.
Der kleine Roman trägt die verblassten Pastellfarben seiner Entstehungszeit und wirkt gleichwohl erstaunlich frisch. Mit wenigen, sicheren Strichen wird das italienische Kleinbürgertum in seiner politischen Blindheit, Bigotterie und Oberflächlichkeit porträtiert, aber auch in seiner anpassungsfähigen, aus familiären Bindungen und tradierten Gewohnheiten gespeisten Überlebenskraft. Wenn auf dem Umschlag ein Zitat aus „L'Espresso” behauptet, auf jeder Seite spüre man „unterschwellig die fatale Macht des Eros”, ist das zwar Blödsinn, aber so lassen sich Bücher nun einmal am besten verkaufen.
Schriftsteller indes sind nicht immer die kompetentesten Kritiker ihrer eigenen Werke. So ist es auch hier. Wo die reife Dacia Maraini im Rückblick auf ihren Erstling das Festhalten am Detail und die „Beschreibung unverständlicher Widersprüche” tadelt, muss man vielmehr die erstaunliche Kunst der Anfängerin loben, aus Leerstellen und Andeutungen ein stimmiges, sinnliches Ganzes zu komponieren.
Auch die aus den sechziger Jahren stammende Übersetzung von Herbert Schlüter, der deutschen Stimme Giorgio Bassanis, lässt sich noch ausgezeichnet lesen, wenn man einmal davon absieht, dass man heute, nach Jahrzehnten Italianisierung der deutschen Konsumgewohnheiten, „caffè freddo” nicht mehr unbedingt mit „kalter Kaffee” wiedergeben würden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
DACIA MARAINI: Tage im August. Roman. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Piper Verlag, München 2001. 230 S., 17.90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Jung geblieben: „Tage im August”,
der Erstling von Dacia Maraini
Nicht jedem Schriftsteller dürfte es angenehm sein, nach einem halben Leben seinen Erstling wiederzulesen. Die im Jahre 1936 geborenen Italienerin Dacia Maraini, die in den neunziger Jahren auch in Deutschland viele Leser gefunden hat, betrachtet im Vorwort zur Neuausgabe ihres Debütromans ihre Anfänge mit Skepsis. An der jungen Autorin, die 1962 mit „La vacanza” schlagartig berühmt wurde, missfällt ihr die Neigung, „an Details festzuhalten, ohne sie als Teil eines Ganzen zu erkennen”, und sie diagnostiziert „einen noch kindlichen Geist, der sich auf die Beschreibung unverständlicher Widersprüche versteifte”. Die Selbstkritik hindert sie freilich nicht, späte Rührung zu empfinden über das Mädchen, das drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Florenz geboren wurde, knapp dem Konzentrationslager entkam, die bittere Not der Nachkriegszeit erlebte und beim Lesen mit der Taschenlampe unter der Bettdecke beschloss, so bald wie möglich ein Buch zu schreiben, weil sie in Büchern „das Salz der Erde” schmeckte. Mit siebzehn, und hier wird es vollends herzzerreißend, begann sie die Arbeit an ihrem ersten Prosawerk, nachdem ihr die Hauptfigur eines Morgens einfach „erschienen” war, um „Obdach und Verständnis” bittend. Bis heute, erfahren wir, wird die Signora von ihren Figuren in ähnlicher Weise heimgesucht, zum Schreiben gedrängt und nicht selten dazu gebracht, „daß ich mich in sie verliebe”.
Es ist wohl eine typisch italienische Eigenart, solchen Gefühlsüberschwang mühelos mit der kühlen, harten Präzision zu vereinen, die an Marainis frühem Roman noch immer beeindruckt. Der deutsche Titel „Tage im August” verschluckt die Doppelbedeutung von „La vacanza”, mit der die Debütantin seinerzeit bewusst spielte: Vordergründig sind die Ferien gemeint, aber dahinter steht die Leere, das Sinn-Vakuum, das die junge Schriftstellerin in sich selbst und in ihrer Epoche registrierte und das sie mit bemerkenswerter Eleganz ihrer vierzehnjährigen Ich-Erzählerin Anna einverleibte. Diese Leere ist der Kern, das eigentliche Thema der Geschichte, während Annas sexuelles Erwachen, nach damaligem Maßstab recht freizügig und zugleich seltsam körperlos geschildert, nur als eines der Motive fungiert, die jene existentielle Erfahrung einkreisen und hervorheben.
Ein träger Kriegssommer
Im Spätsommer 1943 werden Anna und ihr jüngerer Bruder Giovanni vom Vater aus dem römischen Internat abgeholt und per Motorrad ans Meer verfrachtet, wo ihre neue Stiefmutter Nina sie erwartet, eine lebenslustige Frau mit nymphomanischen Anwandlungen. An der Küste von Latium verbringt man die Ferien im Haus von Papas Geschäftspartner, der aber in Wahrheit sein Chef ist und mit Gattin und pubertierendem Sohn das obere Stockwerk bewohnt.
Das träge, streng sinnfreie Sommerritual italienischer Familien, in dieser Konstellation mit allerlei Spannungen aufgeladen, vollzieht sich unter dem Motorenlärm der alliierten Bombenflugzeuge und unter der Bedrohung des näherrückenden Krieges, den man mit munteren Beschwörungsformeln auf Distanz zu halten versucht. „Hier haben wir es gut. Der Krieg ist weit weg. Man riecht nur das Meer - und diese Zitronenhautcreme...”, schwärmt eine der Damen, und die Herren, stramme Mussolini-Anhänger, schwadronieren voller Zuversicht über die neue faschistische Regierung. Anna, die ebenso wachsame wie gleichmütige Beobachterin der Verhältnisse, genießt die Befreiung aus der düsteren Enge der Klosterschule und experimentiert kalten Sinnes mit der Gier, die ihre kindhafte Weiblichkeit bei pädophilen und verklemmten Männern jeden Alters hervorruft. Ihr naiv-nüchterner Blick ist eine Vorstufe der unbarmherzigen Distanz, aus der die Feministin Maraini später die Beziehungen zwischen den Geschlechtern betrachten sollte.
Der kleine Roman trägt die verblassten Pastellfarben seiner Entstehungszeit und wirkt gleichwohl erstaunlich frisch. Mit wenigen, sicheren Strichen wird das italienische Kleinbürgertum in seiner politischen Blindheit, Bigotterie und Oberflächlichkeit porträtiert, aber auch in seiner anpassungsfähigen, aus familiären Bindungen und tradierten Gewohnheiten gespeisten Überlebenskraft. Wenn auf dem Umschlag ein Zitat aus „L'Espresso” behauptet, auf jeder Seite spüre man „unterschwellig die fatale Macht des Eros”, ist das zwar Blödsinn, aber so lassen sich Bücher nun einmal am besten verkaufen.
Schriftsteller indes sind nicht immer die kompetentesten Kritiker ihrer eigenen Werke. So ist es auch hier. Wo die reife Dacia Maraini im Rückblick auf ihren Erstling das Festhalten am Detail und die „Beschreibung unverständlicher Widersprüche” tadelt, muss man vielmehr die erstaunliche Kunst der Anfängerin loben, aus Leerstellen und Andeutungen ein stimmiges, sinnliches Ganzes zu komponieren.
Auch die aus den sechziger Jahren stammende Übersetzung von Herbert Schlüter, der deutschen Stimme Giorgio Bassanis, lässt sich noch ausgezeichnet lesen, wenn man einmal davon absieht, dass man heute, nach Jahrzehnten Italianisierung der deutschen Konsumgewohnheiten, „caffè freddo” nicht mehr unbedingt mit „kalter Kaffee” wiedergeben würden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
DACIA MARAINI: Tage im August. Roman. Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter. Piper Verlag, München 2001. 230 S., 17.90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Franziska Meier ist dem Piper Verlag dankbar, dass er den Erstlingsroman der italienischen Bestseller-Autorin Dacia Maraini wieder ausgelegt hat. "La vacanza", wie der Titel im Original heißt, machte Maraini 1961 schlagartig berühmt. Der Titel ist im doppelten Sinne zu verstehen, schreibt die Rezensentin. Nur vordergründig sind damit die Sommerferien gemeint, in denen das Mädchen Anna die Liebe und Sexualität erforscht. "Vacanza" bedeutet auch Leere, was sich sowohl auf die Erfolglosigkeit von Annas Suche als auch das Leben der Erwachsenen im Nachkriegsitalien beziehe, "die nicht begriffen haben, dass die Zeit gekommen ist, politisch Farbe zu bekennen". Die Rezensentin sieht das Buch als Kritik an der damaligen in Faschisten und Antifaschisten gespaltenen Gesellschaft und zugleich als "Ausdruck und Konsequenz der zögernden Auflockerung und Liberalisierung in der italienischen Gesellschaft". Maraini stellt sich in ihrem ersten Buch als eine "phantasievolle, mit großer Leichtigkeit erzählende Schriftstellerin" vor, vor allem als eine der ersten, die sich im katholischen Italien mit dem Thema Sexualität auseinandergesetzt haben, lobt Meier. Aus der heutigen Perspektive wirken die Liebesszenen des Romans zwar eher "harmlos", findet sie, aber genau wegen dieser Zurückhaltung schon wieder "poetisch".
© Perlentaucher Medien GmbH
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