September 1957: Henry und Effie fahren für die Flitterwochen nach Cape May, ein Ferienort an der Ostküste. Doch das Städtchen ist verlassen, die Saison ist zu Ende. Die beiden jungen Leute aus Georgia fühlen sich fremd, isoliert und in ihrer Schüchternheit gefangen. Gerade als sie beschließen, den Urlaub zu verkürzen, treffen sie zufällig auf Clara, eine Ferienbekanntschaft Effies aus Kindertagen, die eine glamouröse Gruppe von New Yorkern um sich versammelt. Darunter Max, ein reicher Playboy und ihr Liebhaber, und dessen unnahbare und rätselhafte Schwester Alma.
Der verlassene Ort wird zu ihrem Spielplatz, und während sie in leer stehende Ferienhäuser einsteigen, Segeln gehen, nackt unter dem Sternenhimmel herumwandern, sich lieben und sich betrinken, geraten Henry und Effie in eine Situation, die den Rest ihres Lebens prägen wird.
Ein hypnotisierender Roman, der im Spiegel von Sexualität und gesellschaftlicher Realität der Fünfzigerjahre aktuelle und zeitlose Fragen zu Ehe, Liebe und Loyalität behandelt.
Der verlassene Ort wird zu ihrem Spielplatz, und während sie in leer stehende Ferienhäuser einsteigen, Segeln gehen, nackt unter dem Sternenhimmel herumwandern, sich lieben und sich betrinken, geraten Henry und Effie in eine Situation, die den Rest ihres Lebens prägen wird.
Ein hypnotisierender Roman, der im Spiegel von Sexualität und gesellschaftlicher Realität der Fünfzigerjahre aktuelle und zeitlose Fragen zu Ehe, Liebe und Loyalität behandelt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2019Salz auf ihrer Haut
Ein Drittel Dösen, ein Drittel Alkohol, ein Drittel Sex: Wie Chip Cheeks quasipornografischer Roman
„Tage in Cape May“ trotzdem zur Strandlektüre für die ganze Familie werden konnte
VON FELIX STEPHAN
Über die Tatsache, dass Romane auch Produkte sind, die auf bestimmte Zielgruppen hin gestaltet, beworben und am Markt platziert werden, wird in der Literaturkritik wenig gesprochen. Im Regelfall gilt die Verabredung, dass die Kritik den Text behandelt, als gäbe es die Management-Entscheidungen dahinter nicht. Im Falle den Romans „Tage in Cape May“ allerdings, dem Debüt des amerikanischen Schriftstellers Chip Cheek (Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Verlag Blessing, München 2019), ist der Text kaum zu verstehen, ohne die Verfahrensweisen des globalisierten Buchmarktes mitzudenken. Sie sind Teil der zwiespältigen Faszination dieses Romans.
Im Jahr 2017 hat Chip Cheek für das Manuskript in den USA einen der höchsten Vorschüsse des Jahres bekommen, übertroffen nur von Michelle Obama und Kristen Roupenian. Mindestens eine halbe Million Dollar sollen es nach Informationen der New York Times gewesen sein. Das Geld dürfte die Lizenzabteilung leicht wieder hereingeholt haben. Der Roman erscheint dieser Tage unter anderem in Frankreich, Kanada, Australien, Dänemark, und Deutschland. Und in jedem Land wird der Roman auf die exakt gleiche Weise vermarktet, obwohl es sonst eher üblich ist, dass Romane in verschiedenen Ländern völlig unterschiedlich aussehen, weil jedes Land seine eigene literarische Tradition hat und sich die Verlage für dasselbe Manuskript jeweils unterschiedliche Zielgruppen vorstellen.
Der Bildraum von „Tage in Cape May“ aber ist offenkundig global. In jeder Version hat der Roman ein stilisiertes Fünfzigerjahre-Cover, das die Stimmung von Jean-Luc Godards Film „Die Verachtung“, aufgreift oder die Cover, die „Der Große Gatsby“ bekommen hat, als der Roman nachträglich doch noch ein Erfolg wurde. Es sind also zu sehen: ein Strand (USA), eine Frau im Badeanzug (Australien), eine Frau in gestreiftem Kleid (Frankreich), eine Frau in gestreiftem Badeanzug am Strand (Deutschland).
Das Buch tritt als leichte Sommergeschichte auf, wie sie einst Ernst Rowohlt bei Kurt Tucholsky bestellt hat, woraufhin dieser ihm „Schloss Gripsholm” geschrieben hat. Und genau in diesem Stil geht der Roman auch los: Im Jahr 1957 reisen der 20-jährige Henry und die 18-jährige Effie an die Küste von New Jersey, um dort im Sommerhaus ihres Onkels die Flitterwochen zu verbringen. Es ist außerhalb der Saison, der Ort fast vollkommen verlassen. Beide kommen aus der amerikanischen Provinz und sind noch jungfräulich, was eine große Rolle spielt. Auf den ersten Seiten versuchen sie sich umständlich am Vollzug der Ehe, eher aus Pflichtbewusstsein denn aus Interesse. Das ist in etwa die Situation auf den ersten hundert Seiten.
Je weiter die Geschichte allerdings voranschreitet, desto mehr fällt auf, dass die Dichte der Sexszenen deutlich zunimmt und die Sexszenen außerdem außergewöhnlich lang sind, und es streng genommen außer dem Sex gar keine Handlung gibt, sondern der Sex schon selbst die Handlung ist und es sich also, das lässt sich irgendwann nicht mehr leugnen, um einen Roman mit einem starken Hang zum Pornografischen handelt.
Außer Henry und Effie tauchen in „Tage in Cape May“ Max, Clara und die 17-jährige Alma auf, letztere eine Variante von Wedekinds „Lulu“. Und im Verlauf der Geschichte schläft jeder mit jedem, nur Max und Alma nicht, weil sie Halbgeschwister sind. Ansonsten passiert so gut wie nichts. Die Tage werden ungeduldig vertrödelt mit Segeln, Kartenspielen, Nachmittagsschläfchen und vor allem: Alkohol. Sexlose Stunden sind das, die für die Protagonisten schwer zu ertragen sind: „Verlangen zeugte Verlangen“, denkt Henry an einer Stelle, „Er wollte alle Welt vögeln. Er wurde langsam verrückt.“
Während man das Buch liest, muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass einige der Protagonisten noch minderjährig sind, obwohl sie Dinge tun, die heute eher mit Erwachsenen in Verbindung gebracht werden: Sie lesen die Samuel-Johnson-Biografie des schottischen Schriftstellers James Boswell, trinken ungemixten Brandy und hören in der Mittagshitze Bedřich Smetanas sinfonische Dichtung „Die Moldau“. Abgesehen von diesem Inventar aber geht es zu wie in Larry Clarks Film „Kids“ von 1995. Alma und Henry haben kaum zehn Sätze miteinander gesprochen, als sie ihn von einer Party in die Bibliothek zieht und ihn fragt: „Willst du mich ficken?“ Was er natürlich will.
Das wirft verschiedene Fragen auf. Was zum Beispiel sagt es aus über das Verhältnis von Sexualität und Gegenwartsliteratur, dass ein Roman, der zu einem Drittel aus Dösen, einem Drittel aus Spirituosen und einem Drittel aus Sex besteht, als Strandlektüre für den Familienurlaub vertrieben wird? Und dass die amerikanische Familienbuchhandlung „Barnes & Noble“ das Werk als „Buch des Monats April“ in die Schaufenster gestellt und der seriöse Südwestdeutsche Rundfunk es gerade zum „Buch der Woche“ gekürt hat? Und wie kommt es, dass die Tatsache, dass es hier vor allem um Sex geht, nirgendwo angesprochen wird? Weder im Klappentext, noch in der Verlagsankündigung, noch in den Rezensionen verliert irgendjemand ein Wort darüber.
Dazu muss man vielleicht sagen: Bis auf wenige Ausnahmen ist der Roman eine Masterclass in „Sex Writing“. Die gestalterische Lektion von Chip Cheeks Sexszenen lautet, dass man eine Szene, wenn sie ein bisschen peinlich wird, erst recht ernst und konzentriert durchhalten muss, so lange, bis sie allein durch ihre Unerschütterlichkeit eine gewisse Autorität gewinnt. Und dass Ekstase und Selbstvergessenheit zweitens nur dann elegant erzählt werden können, wenn man sie in kühlem Ton und disziplinierter Parataxe erzählt. Und dass drittens Sentimentalität absolut verboten ist. „Tage in Cape May“ hätte gute Chancen auf den „Good Sex Award“. Den gibt es nur leider nicht. Und auch sonst behauptet sich das Buch literarisch.
Trotzdem haben sich die Verlage entschieden, es überall auf der Welt im Unterhaltungssegment zu platzieren, also in der Region des Buchmarktes, an dem die Kritik sich selten aufhält. Als Produkt ist der Roman deshalb seltsam unstimmig: Die Verpackung passt nicht zum Inhalt und auch das Ende des Romans, in dem es plötzlich um moralische Läuterung geht, passt nicht zum Rest des Textes. Die letzten zwanzig Seiten sind mit großem Abstand die schlechtesten.
In der Roboterpsychologie nennt man das Gefühl, das dieser Roman auslöst, das „uncanny valley“. In diesem „Tal des Ungehagens“ befindet man sich, wenn man nicht entscheiden kann, ob man es mit einem Menschen oder eine Maschine zu tun hat. In seiner ästhetischen Variante tritt dieses Gefühl auf, wenn man „Tage in Cape May“ liest und sich nicht entscheiden kann, ob es sich um Literatur handelt oder doch nur um Trash. Von dem Roman gehen unentwegt widersprüchliche Signale aus. Möglich ist, dass die Antwort im historischen Kontext liegt, in dem der Roman entstanden ist: Das Manuskript wurde im Jahr 2017 verkauft, also in dem Jahr, in dem New Yorker und New York Times im Oktober den Weinstein-Skandal aufdeckten und damit die Metoo-Debatte ins Rollen brachten. Es könnte also leicht so gewesen sein, dass der Verlag eine halbe Million Dollar für ein Manuskript ausgegeben hatte, das gerade noch ein verheißungsvoller Bestseller war, von einem Tag auf den anderen aber plötzlich ein Problem. Wer würde nach Weinstein noch den Roman eines 42-jährigen, weißen Mannes lesen wollen, in dem man einer 17-Jährigen ausführlich beim Sex zuschaut?
An einer Stelle, kurz vor dem Ende, thematisiert der Roman sein Verhängnis selbst, als habe Cheek es kommen sehen: Die zweite männliche Hauptfigur Max erzählt, dass er an einem Roman arbeite, der von einer Affäre zwischen einem amerikanischen Soldaten und einer Frau in der Toskana handelt. Er komme aber nicht voran, insbesondere plage ihn das „Problem des adäquaten Ausdrucks: Es fehlten im Englischen schlicht Wörter, mit denen sich die Unmittelbarkeit des Handelns und der Gefühle einfangen ließe. Er glaubte, es liege daran, dass die Angelsachsen sich so gründlich von jeder Sexualität distanzierten“. Max besteht darauf, dass sein Roman nicht von der Liebe handele, sondern von der Traumatisierung seiner Figuren, die sich gemeinsam auf ein sexualisiertes Spiel einlassen, um den Krieg zu vergessen: „Und ich versuche“, sagt Max, „den Akt einzufangen, in seiner ganzen Intensität, die, meiner Meinung nach, einfach enorm ist, nur lässt sie sich kaum in Worte fassen.“ Effie aber antwortet ihm, es sei ihr ganz egal, was er sage, es sei trotzdem eine Liebesgeschichte: „Ich meine, als solche wird man das Buch verkaufen wollen, was immer Sie auch dazu sagen.“ Und genau so ist es gekommen.
Um den Roman auch unter den Bedingungen der Metoo-Ära veröffentlichen zu können, haben ihn die Verlage offenbar in einem Segment platziert, in dem er vor dem prüfenden Blick des Zeitgeistes sicher sein würde, obwohl der Text dafür eigentlich zu gut ist: dem populären Unterhaltungssegment. Weil dort kein kulturelles Kapital zu vergeben ist, sondern es einfach nur ums Lesen geht, bekommt man den Roman auf diese Weise relativ sicher durch die Saison, ohne einen Skandal zu riskieren.
Als Produkt ist der Roman seltsam
unstimmig. Aber dafür gibt es
eine schlüssige Erklärung
Der Verlag hatte den Roman
für viel Geld gekauft. Und dann
brach die Metoo-Debatte los
Die jungen Leute vertrödeln die Tage am Meer, finden die sexlosen Stunden allerdings schwer zu ertragen.
Foto: David Boca/Unsplash
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Ein Drittel Dösen, ein Drittel Alkohol, ein Drittel Sex: Wie Chip Cheeks quasipornografischer Roman
„Tage in Cape May“ trotzdem zur Strandlektüre für die ganze Familie werden konnte
VON FELIX STEPHAN
Über die Tatsache, dass Romane auch Produkte sind, die auf bestimmte Zielgruppen hin gestaltet, beworben und am Markt platziert werden, wird in der Literaturkritik wenig gesprochen. Im Regelfall gilt die Verabredung, dass die Kritik den Text behandelt, als gäbe es die Management-Entscheidungen dahinter nicht. Im Falle den Romans „Tage in Cape May“ allerdings, dem Debüt des amerikanischen Schriftstellers Chip Cheek (Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Verlag Blessing, München 2019), ist der Text kaum zu verstehen, ohne die Verfahrensweisen des globalisierten Buchmarktes mitzudenken. Sie sind Teil der zwiespältigen Faszination dieses Romans.
Im Jahr 2017 hat Chip Cheek für das Manuskript in den USA einen der höchsten Vorschüsse des Jahres bekommen, übertroffen nur von Michelle Obama und Kristen Roupenian. Mindestens eine halbe Million Dollar sollen es nach Informationen der New York Times gewesen sein. Das Geld dürfte die Lizenzabteilung leicht wieder hereingeholt haben. Der Roman erscheint dieser Tage unter anderem in Frankreich, Kanada, Australien, Dänemark, und Deutschland. Und in jedem Land wird der Roman auf die exakt gleiche Weise vermarktet, obwohl es sonst eher üblich ist, dass Romane in verschiedenen Ländern völlig unterschiedlich aussehen, weil jedes Land seine eigene literarische Tradition hat und sich die Verlage für dasselbe Manuskript jeweils unterschiedliche Zielgruppen vorstellen.
Der Bildraum von „Tage in Cape May“ aber ist offenkundig global. In jeder Version hat der Roman ein stilisiertes Fünfzigerjahre-Cover, das die Stimmung von Jean-Luc Godards Film „Die Verachtung“, aufgreift oder die Cover, die „Der Große Gatsby“ bekommen hat, als der Roman nachträglich doch noch ein Erfolg wurde. Es sind also zu sehen: ein Strand (USA), eine Frau im Badeanzug (Australien), eine Frau in gestreiftem Kleid (Frankreich), eine Frau in gestreiftem Badeanzug am Strand (Deutschland).
Das Buch tritt als leichte Sommergeschichte auf, wie sie einst Ernst Rowohlt bei Kurt Tucholsky bestellt hat, woraufhin dieser ihm „Schloss Gripsholm” geschrieben hat. Und genau in diesem Stil geht der Roman auch los: Im Jahr 1957 reisen der 20-jährige Henry und die 18-jährige Effie an die Küste von New Jersey, um dort im Sommerhaus ihres Onkels die Flitterwochen zu verbringen. Es ist außerhalb der Saison, der Ort fast vollkommen verlassen. Beide kommen aus der amerikanischen Provinz und sind noch jungfräulich, was eine große Rolle spielt. Auf den ersten Seiten versuchen sie sich umständlich am Vollzug der Ehe, eher aus Pflichtbewusstsein denn aus Interesse. Das ist in etwa die Situation auf den ersten hundert Seiten.
Je weiter die Geschichte allerdings voranschreitet, desto mehr fällt auf, dass die Dichte der Sexszenen deutlich zunimmt und die Sexszenen außerdem außergewöhnlich lang sind, und es streng genommen außer dem Sex gar keine Handlung gibt, sondern der Sex schon selbst die Handlung ist und es sich also, das lässt sich irgendwann nicht mehr leugnen, um einen Roman mit einem starken Hang zum Pornografischen handelt.
Außer Henry und Effie tauchen in „Tage in Cape May“ Max, Clara und die 17-jährige Alma auf, letztere eine Variante von Wedekinds „Lulu“. Und im Verlauf der Geschichte schläft jeder mit jedem, nur Max und Alma nicht, weil sie Halbgeschwister sind. Ansonsten passiert so gut wie nichts. Die Tage werden ungeduldig vertrödelt mit Segeln, Kartenspielen, Nachmittagsschläfchen und vor allem: Alkohol. Sexlose Stunden sind das, die für die Protagonisten schwer zu ertragen sind: „Verlangen zeugte Verlangen“, denkt Henry an einer Stelle, „Er wollte alle Welt vögeln. Er wurde langsam verrückt.“
Während man das Buch liest, muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass einige der Protagonisten noch minderjährig sind, obwohl sie Dinge tun, die heute eher mit Erwachsenen in Verbindung gebracht werden: Sie lesen die Samuel-Johnson-Biografie des schottischen Schriftstellers James Boswell, trinken ungemixten Brandy und hören in der Mittagshitze Bedřich Smetanas sinfonische Dichtung „Die Moldau“. Abgesehen von diesem Inventar aber geht es zu wie in Larry Clarks Film „Kids“ von 1995. Alma und Henry haben kaum zehn Sätze miteinander gesprochen, als sie ihn von einer Party in die Bibliothek zieht und ihn fragt: „Willst du mich ficken?“ Was er natürlich will.
Das wirft verschiedene Fragen auf. Was zum Beispiel sagt es aus über das Verhältnis von Sexualität und Gegenwartsliteratur, dass ein Roman, der zu einem Drittel aus Dösen, einem Drittel aus Spirituosen und einem Drittel aus Sex besteht, als Strandlektüre für den Familienurlaub vertrieben wird? Und dass die amerikanische Familienbuchhandlung „Barnes & Noble“ das Werk als „Buch des Monats April“ in die Schaufenster gestellt und der seriöse Südwestdeutsche Rundfunk es gerade zum „Buch der Woche“ gekürt hat? Und wie kommt es, dass die Tatsache, dass es hier vor allem um Sex geht, nirgendwo angesprochen wird? Weder im Klappentext, noch in der Verlagsankündigung, noch in den Rezensionen verliert irgendjemand ein Wort darüber.
Dazu muss man vielleicht sagen: Bis auf wenige Ausnahmen ist der Roman eine Masterclass in „Sex Writing“. Die gestalterische Lektion von Chip Cheeks Sexszenen lautet, dass man eine Szene, wenn sie ein bisschen peinlich wird, erst recht ernst und konzentriert durchhalten muss, so lange, bis sie allein durch ihre Unerschütterlichkeit eine gewisse Autorität gewinnt. Und dass Ekstase und Selbstvergessenheit zweitens nur dann elegant erzählt werden können, wenn man sie in kühlem Ton und disziplinierter Parataxe erzählt. Und dass drittens Sentimentalität absolut verboten ist. „Tage in Cape May“ hätte gute Chancen auf den „Good Sex Award“. Den gibt es nur leider nicht. Und auch sonst behauptet sich das Buch literarisch.
Trotzdem haben sich die Verlage entschieden, es überall auf der Welt im Unterhaltungssegment zu platzieren, also in der Region des Buchmarktes, an dem die Kritik sich selten aufhält. Als Produkt ist der Roman deshalb seltsam unstimmig: Die Verpackung passt nicht zum Inhalt und auch das Ende des Romans, in dem es plötzlich um moralische Läuterung geht, passt nicht zum Rest des Textes. Die letzten zwanzig Seiten sind mit großem Abstand die schlechtesten.
In der Roboterpsychologie nennt man das Gefühl, das dieser Roman auslöst, das „uncanny valley“. In diesem „Tal des Ungehagens“ befindet man sich, wenn man nicht entscheiden kann, ob man es mit einem Menschen oder eine Maschine zu tun hat. In seiner ästhetischen Variante tritt dieses Gefühl auf, wenn man „Tage in Cape May“ liest und sich nicht entscheiden kann, ob es sich um Literatur handelt oder doch nur um Trash. Von dem Roman gehen unentwegt widersprüchliche Signale aus. Möglich ist, dass die Antwort im historischen Kontext liegt, in dem der Roman entstanden ist: Das Manuskript wurde im Jahr 2017 verkauft, also in dem Jahr, in dem New Yorker und New York Times im Oktober den Weinstein-Skandal aufdeckten und damit die Metoo-Debatte ins Rollen brachten. Es könnte also leicht so gewesen sein, dass der Verlag eine halbe Million Dollar für ein Manuskript ausgegeben hatte, das gerade noch ein verheißungsvoller Bestseller war, von einem Tag auf den anderen aber plötzlich ein Problem. Wer würde nach Weinstein noch den Roman eines 42-jährigen, weißen Mannes lesen wollen, in dem man einer 17-Jährigen ausführlich beim Sex zuschaut?
An einer Stelle, kurz vor dem Ende, thematisiert der Roman sein Verhängnis selbst, als habe Cheek es kommen sehen: Die zweite männliche Hauptfigur Max erzählt, dass er an einem Roman arbeite, der von einer Affäre zwischen einem amerikanischen Soldaten und einer Frau in der Toskana handelt. Er komme aber nicht voran, insbesondere plage ihn das „Problem des adäquaten Ausdrucks: Es fehlten im Englischen schlicht Wörter, mit denen sich die Unmittelbarkeit des Handelns und der Gefühle einfangen ließe. Er glaubte, es liege daran, dass die Angelsachsen sich so gründlich von jeder Sexualität distanzierten“. Max besteht darauf, dass sein Roman nicht von der Liebe handele, sondern von der Traumatisierung seiner Figuren, die sich gemeinsam auf ein sexualisiertes Spiel einlassen, um den Krieg zu vergessen: „Und ich versuche“, sagt Max, „den Akt einzufangen, in seiner ganzen Intensität, die, meiner Meinung nach, einfach enorm ist, nur lässt sie sich kaum in Worte fassen.“ Effie aber antwortet ihm, es sei ihr ganz egal, was er sage, es sei trotzdem eine Liebesgeschichte: „Ich meine, als solche wird man das Buch verkaufen wollen, was immer Sie auch dazu sagen.“ Und genau so ist es gekommen.
Um den Roman auch unter den Bedingungen der Metoo-Ära veröffentlichen zu können, haben ihn die Verlage offenbar in einem Segment platziert, in dem er vor dem prüfenden Blick des Zeitgeistes sicher sein würde, obwohl der Text dafür eigentlich zu gut ist: dem populären Unterhaltungssegment. Weil dort kein kulturelles Kapital zu vergeben ist, sondern es einfach nur ums Lesen geht, bekommt man den Roman auf diese Weise relativ sicher durch die Saison, ohne einen Skandal zu riskieren.
Als Produkt ist der Roman seltsam
unstimmig. Aber dafür gibt es
eine schlüssige Erklärung
Der Verlag hatte den Roman
für viel Geld gekauft. Und dann
brach die Metoo-Debatte los
Die jungen Leute vertrödeln die Tage am Meer, finden die sexlosen Stunden allerdings schwer zu ertragen.
Foto: David Boca/Unsplash
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»Eine exzellente Sommerlektüre« NDR Kultur