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Produktdetails
  • Verlag: Roter Stern, Fr. / Stroemfeld
  • 1996.
  • Seitenzahl: 509
  • Erscheinungstermin: August 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 305mm
  • Gewicht: 2160g
  • ISBN-13: 9783878774815
  • ISBN-10: 3878774818
  • Artikelnr.: 06428546
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Sigmund Freud wurde 1856 in Freiberg (Mähren) geboren. Nach dem Studium der Medizin wandte er sich während eines Studienaufenthalts in Paris, unter dem Einfluss J.-M. Charcots, der Psychopathologie zu. Anschließend beschäftigte er sich in der Privatpraxis mit Hysterie und anderen Neurosenformen. Er begründete die Psychoanalyse und entwickelte sie fort als eigene Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeine, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassende Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.1996

Gott essen, Tod essen, Freud essen
Die Spreu ist hier der Weizen: Sigmund Freuds Tagebuch der Jahre 1929 bis 1939, mit Liebe kommentiert

Die kürzeste Chronik hat bestimmt den längsten Kommentar bekommen, mit dem im zwanzigsten Jahrhundert die Nachlaßveröffentlichung eines großen Geistes beschwert wurde. Ist es ein hermeneutisch schwieriger Text? Nein. Ist es ein heiliger Text, der bekanntlich ad libitum kommentiert werden darf, ja muß? Nein. Oder doch - wenn Liebe etwas Heiliges ist. Denn es ist ein Buch für Liebhaber und Liebende. Sie dürfen nun jubeln, das Objekt ihrer obskuren Begierde unter zweierlei Gestalt präsentiert zu bekommen: als Minimal art, im nicht mehr überbietbaren Lakonismus der Freudschen Stichworte, und in der orientalisierenden Üppigkeit der beigegebenen Kommentare, Anmerkungen und Abbildungen.

"Die extreme Kürze der Einträge ist ein Indiz für Freuds Haltung, nur das absolute Minimum über seine eigenen Angelegenheiten preiszugeben", schreibt Michael Molnar, der als Kurator des Freud-Museums London die zwanzig Blätter im Folioformat als Faksimile und Umschrift herausgegeben und jeden Eintrag mit einer Kurzexegese versehen hat. Diese Einstellung illustriert er mit einem Goethezitat, das Freud in seiner "Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" anführt: ",Mach es kurz! Am Jüngsten Tag ist's nur ein Furz.' Was Freud betraf, war der Jüngste Tag nicht allzuweit entfernt. Seit 1929 lebte er jenseits des ihm vorhergesagten Todesjahres. In diesem Sinne war die ,Kürzeste Chronik' schon zur Zeit ihrer Niederschrift ein postumes Dokument." Molnar hat das Skelett mit opulenten Festons umhängt. Erinnerungsstücke sind um den Ahn postiert, wuchernde Kommentargirlanden um die einzelnen Einträge gewunden. Der Asket wird eine solche Chronik zwar allenfalls als Appendix zu einer Werkausgabe akzeptieren, wird die Kriterien der Freudschen Stichwort-Auswahl nicht nachvollziehbar finden, das Material nicht deutbar, wird, kurzum, den Mut zum Vergessen anempfehlen. Aber wäre dieser Asket zufällig ein Kant-Liebhaber, was gäbe er nicht darum, eine vergleichbare Chronik von Kant in Händen zu haben.

Nicht um Enthüllungen freilich geht es, sondern um Jean Paulschen "Schnurrmurr", um Kram, in den man sich entspannt wie in die mitlaufenden Belanglosigkeiten eines Films fallen lassen kann. Fetischismus, knurrt der Asket. Aber nein, dadurch, daß die Chronik so unglaublich abundant aufgemacht ist, hört sie schon wieder auf, fetischistisch zu sein. Für Freud, der ja von einer Welt der Fetische umgeben war, hat solch ein Büchlein, das er selbst führt und das im nachhinein von einem treuen Museumswächter inszeniert wird, einen legitimen Sitz im Leben nach dem Tod.

Da die Zeiten für Biographien schlecht sind und Biographien, ob sie nun von Caesar oder Richard Wagner handeln, meist in Spekulationspoesie und Kitsch landen, ist ein solches Baukastensystem ein einleuchtender Ersatz. Der Leser kann sich Teilabläufe dieses Lebens mit Hilfe des Materials zusammenbuchstabieren und weiter phantasieren. Beim Weiterphantasieren fungiert der Herausgeber als Tonangeber. Daß seine Begeisterung ihm manch unfreiwillig komisches Raisonnement entlockt - "Das Paradoxe an dieser Chronik ist das offenbare Fehlen des vertrauten Schreibers Freud" -, ist kein Beinbruch. Gelegentlich stößt Molnar allerdings zu sehr ins großhistorische Horn, etwa, wenn er betont, daß Freuds Lebensende mit dem Zusammenbruch der europäischen Zivilisation zusammenfalle.

Auch Freuds Enkelin Sophie liest in ihrer Rezension das "Diary" unter anderem als "Zeugnis für die Parallelen zwischen dem Tod eines großen Mannes und dem Tod einer großen Phase der europäischen Kultur für Historiker des 20. Jahrhunderts". Gewiß. Dennoch fesselt an der "Chronik" nicht der bekannte Todestrieb der Epoche, sondern wie sich der Lebenstrieb Freuds noch an Haupt-, vor allem aber Nebensächliches attachiert.

Die "Chronik" setzt mit dem 31. Oktober 1929 in Wien mit "Im Nobelpreis übergangen" ein und endet am 25. August 1939, zwei Monate vor Freuds Tod, in London mit dem Stichwort "Kriegspanik". Der Besuch der "Prinzess" ist natürlich notierenswert, denn meistens bringt Marie Bonaparte eine neue Antiquität mit; "Lun besucht", die Chow-Chow-Hündin, die in Dover in einen Quarantänezwinger mußte. Die Sportzeitung "The Referee" berichtet: He played with her, talked to her, using all sorts of little terms of endearment, for fully an hour." Dafür reichte die Kraft, nicht jedoch für die Ehrung durch die British Royal Society.

"Erste kleine Zigarre" - das heißt, wieder einmal war ein Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, gescheitert. Rauchen bedeutete Arbeitenkönnen, und Arbeit - "Moses III neu begonnen" - machte das kaum noch erträgliche Leben - "Weihnacht in Schmerzen", "Anfang des Prothesenelends" - erträglich. Sehr wichtig immer die Großfamilie, als deren "Gelderwerbsmaschine" er sich zeitlebens fühlte. "Jadekette für Anna". "Walter 9 Jahre". "Martha Grippe." "Oli 40 Jahre." "Scharlach bei Ernsts Kindern." "Ernstl Matura." "Mutter wäre 100 Jahre!" "50jährige Ehe." Sophie Freud meint, Freud hätte von seinem Lebensstil her eigentlich die Familientherapie, nicht die Tiefenpsychologie entwickeln müssen.

Was ist die "Chronik" nun eigentlich und was nicht? Ein Tagebuch kaum, eine Chronik letztlich auch nicht, denn die Einträge sind nur sehr kursorisch, manchmal gibt es in einem Monat nur zwei, dann in einer Woche vier. Sie hat gar nichts zu tun mit allen Genres, die einen Text ausmachen. Sie ist ein Haushaltsbuch, in das man Ausgaben und Einnahmen einträgt, eine Rechnungslegung, und dies Charakteristikum bringt die "Kürzeste Chronik" auch wieder in die Nähe von Totenbüchern, wie sie im alten Ägypten verfaßt wurden. Für den Herausgeber bleibt seine "eigentliche Frage, warum Freud diese Chronik geführt hat", am Ende unbeantwortet, sosehr er sich auch den Kopf darüber zerbricht.

Aber schließlich, was ist an solchen Notizen so rätselhaft? Freud hatte vermutlich ein nachlassendes Gedächtnis, er vergaß seine "Ausgaben" im konkreten und übertragenen Sinn. Es geht tatsächlich weniger um "Rechenschaft" als um Rechnungen "Im Nobelpreis endgültig übergangen", notiert er im November 1930, und das bedeutet ebensoviel wie: Ich werde nicht noch einmal in die Verlegenheit kommen, gewählt werden zu können.

Vier Leserkreise sind für dieses Buch vorstellbar. Leser, die vergangene Welten durch Alterszeugnisse kennenlernen wollen, die Freude daran haben, sich mittels winziger Details in breit verästelte Geschichten hineinzuhangeln. Sie bekommen durch die Bilder - viele bislang unveröffentlichte Fotos - Einblick in die damaligen Kostüme, Tableaus und Inszenierungen. Für diese an Alltagskultur und Zeitgeschichte Interessierten wird eine Art von Übergang arrangiert zwischen der oral history und einem kleinen Leitfaden, an dem sie sich befestigen läßt. Freilich ist es mit den mündlichen Zeugnissen, die die Kommentare herbeiziehen, oft nicht weit her. So muß der befragte Enkel "Ernstl" öfter bekennen, daß er sich an dies oder jenes ihn betreffende Ereignis nicht erinnern kann.

Die nächsten Leser sind Freud- oder Psychoanalyse-Liebhaber, die ohne Hemmschwellen und theoretischen Ballast in ein weiteres imaginäres Bergstraßen-oder Maresfield-Gardens-Museum geführt werden. Neben den Freunden der Alltags-und der Psychoanalysengeschichte dürfen Freunde der Objektkunst zugreifen. Es wird sie freuen, wie das mit Todes- und Lebenstrieb aufgeladene Fin de siècle in unser nüchternes Jahrhundert der Zerstörung und des Vergangenheitsfraßes hinüberragt, und sie werden den "Fetischen" und Zwischenwesen den Rang von Kunstwerken zusprechen.

Auch Freud hat ja bei seinen Erwerbungen die Erwartung begleitet, die an jeden Fetisch gerichtet wird, daß er alles repräsentiere. Viele der besten Einfälle Freuds, die sprunghaft zu sein scheinen, mögen aus der Betrachtung seiner "theoretischen Objekte", wie Bazon Brock sagen würde, hervorgesprungen sein und tragen zugleich eine Art Siegel: Ich verrate nichts, meine lieben Denkobjekte.

Mythologien und Religionen gaben Freuds Studierzimmer buchstäblich die möblierte Form, schreibt Molnar. Freuds Antiken-Sammlung als Sammlung, wie sie kürzlich als Ausstellung durch die Welt ging, ist von einer Qualität, die sich heute kaum ein Privatsammler mehr erkaufen könnte, sie hat auch allein Bestand, die Rekonstruktion des Freud-Zimmers jedoch ohne Idole, Statuen, Gemmen und Köpfe wirkt absolut leer. Wie geschmacklos waren, verglichen mit Freuds Arbeitszimmer, die mit Nippes vollgestopften Räume beispielsweise unserer Kaiserfamilie in Babelsberg. Freuds Objekte sprengen die Fixiertheit an nationale Geschichte und Privatheit der Erinnerung auf, lassen die Psyche frei durch ein paar Jahrtausende turnen und schulen das Gattungsgedächtnis.

Wenn die Liebe der Lektüre Nahrung sein muß, dann wird einer dieser vier Leserkreise, der der fachlich mit Freud Beschäftigten, davon wahrscheinlich am wenigsten aufbringen: Die Psychoanalytiker werden Vorbehalte haben. Daß einer aus so wenig Material einen solchen Kommentar heraustreibt, ist eine Ohrfeige für den Analytiker. Dessen Verlangen nach Deutung der Freudschen Psyche kann anhand dieser Chronik in der Tat nicht befriedigt werden, aber auch dem Psychoanalytiker kann nur nützen, den Psychoanalyse-Humus, aus dem sich die Deutungskünste entwickelt haben, kennenzulernen. Die Spreu ist hier der Weizen.

Der Rote Stern Verlag hat gegenüber der englischen Ausgabe einige Bilder hinzugefügt, sie vor allem jedoch anders arrangiert und insgesamt ein fabelhaftes Layout präsentiert (die geschmäcklerisch wirkende Type der fettgedruckten Jahreszahlen mag irritieren, ist jedoch historisch korrekt). Zudem hat der Verlag durch die opulent und elegant aufgemachte Mischung in gewissermaßen vorkapitalistischer Weise als Schatzbildner gewirkt und alle einzelnen Zeugnisse in etwas Altertümliches, Liebenswertes verwandelt: in einen Lebensschatz.

Im mexikanischen Allerseelenkult werden Totenschädel und Skelette in Kuchen-und Bonbonform verzehrt. So ähnlich, wenn auch etwas sublimierter, kann der Leser sich durch diese alltagskultische Einübung in das Thanatos-Syndrom die Objekte als den wahren Ahnenschmaus einverleiben und das "Gott essen", das Jan Kott als Zentrum der griechischen Mythologie konstatierte, durch "Tod essen" beziehungsweise "Freud essen" übertrumpfen. CAROLINE NEUBAUR

Sigmund Freud: "Tagebuch 1929-1939". Kürzeste Chronik. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Molnar. Übersetzt von Christfried Tögel. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 1996. 473 S., geb., 98,- DM.

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