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"Gaswerk, auf dem Bahnhof, vor der Post, auf dem Marktplatz, an den Ausfallstraßen, vor der Maschinenfabrik, vor dem Fahrradwerk MIFA, auf dem Schacht. In unserer Straße. Überall Panzer. Wo kommen die vielen Panzer her?"
Wie wird man Mensch, möchte der junge Einar Schleef (geboren 1944 in Sangerhausen) wissen, ganz grundsätzlich, ja exemplarisch. Es geht ums Ganze, und zwar in Sangerhausen, DDR-Provinz, in den Fünfziger Jahren - in denen er sich mit großem Eifer zum Maler ausbildet, in der FDJ mitarbeitet und, um die Eltern zu besänftigen, mit schulischen Leistungen glänzt. Ein schwerer…mehr

Produktbeschreibung
"Gaswerk, auf dem Bahnhof, vor der Post, auf dem Marktplatz, an den Ausfallstraßen, vor der Maschinenfabrik, vor dem Fahrradwerk MIFA, auf dem Schacht. In unserer Straße. Überall Panzer. Wo kommen die vielen Panzer her?"

Wie wird man Mensch, möchte der junge Einar Schleef (geboren 1944 in Sangerhausen) wissen, ganz grundsätzlich, ja exemplarisch. Es geht ums Ganze, und zwar in Sangerhausen, DDR-Provinz, in den Fünfziger Jahren - in denen er sich mit großem Eifer zum Maler ausbildet, in der FDJ mitarbeitet und, um die Eltern zu besänftigen, mit schulischen Leistungen glänzt. Ein schwerer Unfall hält ihn lange auf der Intensivstation eines Krankenhauses fest. 1963 besteht er die Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. 1964 wird er Abitur machen und nach Berlin ziehen.

Das Tagebuch, dessen erster Band hier angekündigt wird, ist kein Fund unter nachgelassenen Papieren, kein Fragment gebliebener, nie zur Veröffentlichung bestimmter Text aus der Jugend, sondern - nach Gertrud (1980/1984) und Droge Faust Parsifal (1997) - das dritte und letzte Hauptwerk des Autors, der daran in den letzten Jahren seines Lebens bis zu seinem Tod am 21. Juli 2001 gearbeitet hat.

Schleef schrieb nicht nur fort, sondern er arbeitete am Tagebuch insgesamt: tippte seine alten Hefte ab, in den Computer und "kommentierte" sie, d.h. er nahm Korrekturen und (häufig umfangreiche) Erweiterungen vor, ließ aber die alten Texte unangetastet. Was entstand, zeigt sich als Doppelgebilde, alte Einträge und neue "Kommentare" bleiben getrennt, sie wechseln einander ab.
Damit nahm Schleef sich die Freiheit, hin und her zu gehen in der Zeit seines Lebens, zu springen. Gegenwart und Vergangenheit geraten an unzähligen Stellen aneinander, es kracht und blitzt: Zeichen eines Kampfs um Wahrheit, den der Autor führt und nur scheiternd gewinnen kann. Er stößt sich an der Natur des Gedächtnisses, den Grenzen seines Blicks, seiner Blockaden. Er geht, soweit er kann.

Schleefs Tagebuch, unbestechliches Zeugnis des Lebens in Ost- und Westdeutschland, ist, wie sich zeigen wird, einer der großen Bekenntnistexte der deutschen Literatur.

Die Veröffentlichung ist auf fünf Bände angelegt. Der zweite Band erscheint 2005 und umfasst den Zeitraum von 1963 bis 1976, dem Jahr, in dem Schleef die DDR verließ

Autorenporträt
Schleef, EinarEinar Schleef wurde am 17. Januar 1944 in Sangerhausen geboren und starb am 21. Juli 2001 in Berlin. Er ist heute hauptsächlich als Dramatiker und Regisseur bekannt, arbeitete aber auch als Bühnenbildner, Maler und Schauspieler. Zu seinen zentralen Werken zählen der Roman Gertrud und das Theaterstück Nietzsche Trilogie. Er wurde mit seinen Stücken mehrfach zum Theatertreffen eingeladen und erhielt neben zahlreichen anderen Preisen auch den Mülheimer Dramatikerpreis 1995.

Menninghaus, WinfriedWinfried Menninghaus, geboren 1952, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der FU Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2004

Das kollektive Gedächtnis und seine Wahrheiten
Der Suhrkamp-Verlag präsentiert Einar Schleefs Tagebuch aus den Jahren 1953 bis 1963

"Er sieht so ungebrochen deutsch aus. Ein Steinzeitengel, beißend, wild, abstoßend, anziehend. Unmöglich, ungeschoren davonzukommen. Die Sprache würgt ihn, er zermalmt sie. Ein Verzweifelter, der sich auch noch den letzten Fetzen Hoffnung runterreißt." Bei der Vorstellung des ersten Bandes von Einar Schleefs "Tagebuch 1953-1963 Sangerhausen" im Suhrkamp-Haus schilderte Ulla Unseld-Berkéwicz anhand ihrer Tagebuchnotizen, wie sie Einar Schleef im Jahr 1977 das erste Mal erlebt habe. Damals, auch später, habe man sich entweder angebrüllt oder angeschwiegen, Reden sei zwischen ihnen nicht möglich gewesen. "Nur wenn Siegfried Unseld dabei war. Dann wurde er Sohn, dann lächelte das ganze schwere Wesen. Sein Schweigen fehlt, sein Brüllen auch."

Am 21. Juli 2001 ist er unerwartet in Berlin gestorben. Sein Grab befindet sich im thüringischen Sangerhausen, wo er am 17. Januar 1944 geboren wurde. Und so wurde die Buchpräsentation auch zu einer Gedenkstunde für Einar Schleef, der jetzt 60 Jahre alt geworden wäre. "Schleef, was ist das?" Die unbeantwortbare Frage stellte Hans-Ulrich Müller-Schwefel, Lektor und das "befreundete fremde Auge" des Performancetänzers, Schauspielers, Malers, Fotografen, Bühnenbildners, Regisseurs und Autors. "Fünf Jahre habe ich in Frankfurt gearbeitet, und zehn Jahre brauchte ich, um sie zu vergessen", habe Einar Schleef später über die Zeit von 1985 bis 1990 geschrieben, als er Hausregisseur am hiesigen Schauspiel war, erinnerte sich sein damaliger Intendant Günther Rühle, der ihn auch an den Main geholt hatte. Schleef habe nichts so sehr wie Vertrauen gebraucht: Fast alle seine Frankfurter Inszenierungen wie "Mütter", "Vor Sonnenaufgang", "Götz von Berlichingen" oder "Faust" seien von der Kritik zerrissen worden. "Die Frankfurter Zeit von Einar Schleef war vor allem der Versuch, seine eigene Form" zu finden, äußerte Günther Rühle.

Das "Tagebuch" von Einar Schleef (1944 bis 2001) erscheint in fünf Bänden im Suhrkamp-Verlag, der zweite Band wird im nächsten Jahr veröffentlicht und umfaßt die Zeit von 1963 bis 1976, dem Jahr, als er die DDR verließ. Winfried Menninghaus, der Herausgeber des gesamten "Tagebuchs", des nach "Gertrud" und "Droge Faust Parsifal" dritten und letzten Hauptwerks von Einar Schleef, schilderte, wie der Autor in den neunziger Jahren mit der Arbeit an seinem Tagebuch begonnen habe und dabei nach dem "Prinzip der Wucherung" verfahren sei: Einar Schleef habe seine gesamten Tagebucheintragungen in den Computer übertragen, die alten Texte zwar unangetastet gelassen, sie aber immer wieder durch Kommentare erweitert und die ursprünglichen Notate mit sich überlagernden Erinnerungsschichten ergänzt.

Und so springt Einar Schleef zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her und erkundet sein individuelles und das kollektive Gedächtnis und dessen Wahrheiten: Wie wird man Mensch? Das wollte der junge Einar Schleef in Sangerhausen wissen, als er im Jahr 1953 mit seinen Tagebucheintragungen begann.

Er selber kam zu Wort, als Wilfried Elste vom Schauspiel Frankfurt aus dem "Tagebuch" las - und in einem bewegenden Film mit dem Titel "Nie mehr zurück", der Einar Schleef in Sangerhausen zeigt, wo er "Ich glaube an die Macht der Worte" deklamiert oder mit dem nackten Zeh den Friedhofslageplan erläutert.

KONSTANZE CRÜWELL

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Robin Detje hat, so scheint's, so viel Willen zur Größe kaum ertragen: "Nur Haupt- und Staatsaktionen, titanische Kämpfe, Weltkriege um sein Künstler-Ich." Ein Tagebuch sei das, das die pathetische Selbstformung eines jungen Mannes zum egozentrischen "Überkünstler" beschreibt, eine grandiose Selbststilisierung zum "Ausgestoßenen und Unberührbaren", Erschaffung des Genies und dazugehöriger Kult in einem, Schöpfungsgeschichte und Altar. "Es ging dem Mann", schreibt Detje, "immer um alles, und alles drehte sich immer um ihn" - das Tagebuch, "möglicherweise sein größtes Werk: sein Ich, endlich dem Leben enthoben, endlich Schrift, endlich Kunst". Das ganze spielt sich in der muffigen ostdeutschen Provinz ab, Sangerhausen, 1953 bis 1963, ist aber freilich zur Hälfte mit Bemerkungen, nein mit "rechthaberischen Kommentaren des erwachsenen Skandalkünstlers Schleef" überschrieben: "Rechtfertigungen, Übermalungen, Selbstkontrolle. Frei geatmet wird hier nie." Des großen Mannes Tagebücher sind zudem, so Detje, eine "Fundgrube für Freudianer", insbesondere die "Machtergreifung der Mutter" (siehe "Gertrud", der ihr gewidmete Mammutroman) lasse sich nachvollziehen. Nun gut, seufzt der erschöpfte Rezensent, damit wäre es ja wohl vollendet, das Leben als Werk: im Nachruhm.

© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wenn [der Verlag], in dieser Sprachgewalt, politischen Kraft und reflektorischen Subtilität weitere vier Bände durchhält, hätten wir eines der großen literarischen Zeugnisse über Deutschland. « DIE ZEIT