Im Jahr 1955 stand Arno Schmidt ohne Verleger da, wurde wegen Gotteslästerung und Pornographie angezeigt und mußte sich von einem Saarburger Amtsrichter befragen lassen. Seinen eben geschriebenen Roman Das steinerne Herz wollte er eigentlich nicht mehr veröffentlichen. Die spärlichen Einnahmen erschrieb Schmidt sich mit Zeitungsartikeln, bis endlich die erste Rundfunksendung angenommen wurde. Nachdem Auswanderungs- und vielerlei Umzugspläne gescheitert waren, fanden sich Arno und Alice Schmidt am Ende des Jahres in Darmstadt wieder. Hier vertieften sich die Bekanntschaften mit dem Maler Eberhard Schlotter und mit Schriftstellerkollegen. Inspiriert von der ihm wenig sympathischen Atmosphäre der Darmstädter »Künstlerkolonie«, schrieb Arno Schmidt das Capriccio Tina oder über die Unsterblichkeit.Alice Schmidt erweist sich in diesem Tagebuch als treue Chronistin des schwierigen Schriftstelleralltags, aber auch als optimistische, stets ermunternde Gefährtin ihres Mannes, der an den zahlreichen Hürden, die sich ihm in den Weg stellten, schneller verzweifeln wollte als sie selbst.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2009Zwischen Purzel und Arno
Viel Wurst gekauft: Die Tagebücher Alice Schmidts aus dem Jahr 1955
Arno Schmidt schreibt und schreibt, und er scheint wie um sein Leben zu schreiben. In dem Bild, das seine Frau Alice in ihrem Tagebuch von ihm zusammensetzt, wirkt er oft wie ein großes Kind - launisch und gereizt, vollkommen auf sein Spiel und sein Werk bezogen, unfähig, auch nur die kleinste Kritik zu ertragen: „Die wissen alle nicht was sie tun. Sie müssten mich mit Gold aufwiegen. Was ich hier mache kann keiner und hat noch keiner gemacht und nun machen sie mir das Leben zur Hölle. Dabei kommen ihm die Tränen.” Seit wir auch Alice Schmidt kennen, bekommt Arno Schmidt neue Konturen. Nach ihrem Tagebuch aus dem Jahr 1954 vor vier Jahren erscheint jetzt das von 1955, und der Laborversuch geht weiter. Er handelt von einem Modellfall radikaler Trennung zwischen Kunst und Leben. Und um die Frage: Kann eine symbiotische Beziehung, mit der sich zwei von der Außenwelt abschirmen, eine umso reichere Innenwelt hervorbringen, bei der es sich im geglückten Fall um Literatur handelt?
Arno Schmidts Lieblingsvision, das weiß Alice, ist sehr ernst zu nehmen: „ein kleines Hüttchen in der Heide, riesen Zaun drum rum und dann nie mehr raus oder einen Menschen sehen!” 1958, in Bargfeld bei Celle, ist es endlich soweit, aber schon 1955 arbeitet er daran. Selbst die Möglichkeit, umsonst für einige Wochen ans Mittelmeer zu fahren, lehnt er ab, Reisen ist ihm ein Graus, obwohl sich Alice von der Vorstellung der „blauen Adria” verfolgt zeigt. Der Vorschlag kommt vom Studienrat Wilhelm Michels, einem kulturbeflissenen Bürger, der in den Schmidts so etwas wie Bohèmeleben verwirklicht sieht und häufig Lebensmittelpakete schickt. Später taucht das Angebot „Griechenland” auf, und Arno Schmidt versetzt mürrisch: „Da ist es mir zu hell!”
Ab und zu dringt Besuch durch, aber oft winkt Arno Schmidt ab. „Schade, schade, ich hätte mich mal wieder auf einen Besuch sehr gefreut”, notiert Alice. Aber auf der anderen Seite ist sie überzeugt davon, mit einem Genie zusammen zu wohnen. Sie ist nicht nur Schmidts Köchin, Wäscherin und Büglerin, sondern auch Sekretärin und Korrekturleserin. Es wimmelt von Eintragungen wie: „Ein göttliches Stück! Die Verleger müssen einen Knall haben, das abzulehnen.” Oder: „A’s Sachen werden je öfter man sie liest, um so schöner. Und mit Schwung und Tempo geschrieben!” Und: „Wie fascinierend und einnehmend er ist, wenn er will! Wie würde er sie alle bezaubern und überzeugen!”
Alice hat ein Geheimnis. Ihr Gegengewicht sind die Katzen. Sie baut sich ein Wunderland und balanciert die Schwierigkeiten mit dem Ehemann dadurch aus. Alice „kurbelt” jede Katze sofort, wenn sie sie sieht, immer noch betrauert sie die toten „Topper” und „Ringelnatz” und pflegt deren Grab auf der Wiese. Jan Philipp Reemtsma, der unermüdliche Nachlassverwalter, berichtet, dass Alice Schmidt an zwei Tagen im Jahr kaum ansprechbar war: am Todestag ihres im Krieg getöteten jungen Bruders und am Todestag der Katze Purzel.
Die Geburt dieses Purzel wird im Tagebuch 1955 hautnah miterlebt. Dadurch, dass Alice Schmidt ein fast umfassendes Daseinsglück mit Katzen ausleben kann, wird auch ihr Alltag mit Arno austariert – eine Konstellation, die für die Möglichkeit seiner Literatur von ausschlaggebender Bedeutung ist. „An Katzen scheitert’s noch mal!" heißt es einmal im Roman „Das steinerne Herz”. Aber grundsätzlich sind die Katzen der Tribut, den Arno Schmidt seiner Frau zollt – beim plötzlichen Umzug ist klar, dass trotz gewisser Transportprobleme Purzel mit muss.
Endlich ein Hausverlag!
1955 ist das Jahr, in dem Arno Schmidt erkennbar Tritt im Literaturbetrieb fasst. Alfred Andersch druckt „Seelandschaft mit Pocahontas” fast programmatisch in der ersten Nummer seiner Zeitschrift „Texte und Zeichen”, als Radioredakteur verschafft er Schmidt zudem die Möglichkeit für regelmäßige Stundensendungen, und auch Max Bense tritt als Auftraggeber und Förderer auf. Und mit dem Stahlberg-Verlag bekommt Schmidt, auf Vermittlung von Andersch, endlich einen Hausverlag, der zuverlässig seine Bücher druckt. Gleichzeitig ist 1955 das Jahr einer großen Krise: Schmidt wird wegen Gotteslästerung und Pornographie angeklagt, sie verlassen deswegen halsüberkopf das katholische Dorf im Amtsbezirk Trier und ziehen nach Darmstadt.
Und es sieht auch lange danach aus, als fände er keinen richtigen Verlag mehr: Rowohlt hält ihn für unverkäuflich, Suhrkamp winkt bei seinem Namen sofort ab, und die „Restauration”, die Bigotterie und die Wiederbewaffnung in der Adenauerrepublik setzen ihm spürbar zu. Alice kriegt währenddessen heraus, dass just im „Pfarrgarten” Gift ausgelegt wird, an dem nicht nur Ratten, sondern auch Katzen sterben.
Verblüffend sind einige Einblicke in den Literaturbetrieb der fünfziger Jahre. Die Zeit, die Redakteure hatten! Ihre selbstverständliche Suche nach Bedeutsamem abseits der populären Maßstäbe! Abseits der Prominenz! Einmal zählt Alice die Verkaufszahlen der bei Rowohlt erschienenen Bücher auf: „Leviathan” (1949) insgesamt 881, „Brand’s Haide” (1952) insgesamt 628, „Aus dem Leben eines Fauns” (1953) insgesamt 946. Dennoch spürt man in diesem Tagebuch, dass Arno Schmidt bereits ein Name ist, ein Markenzeichen gar. So „wagt” der Sekretär der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vorsichtig anzufragen, ob Arno Schmidt bei der für 1955 geplanten Ausstellung „Dichterhandschriften” bereit sei, mitzumachen. Arno Schmidt setzt sich zwar nicht beim Publikum durch, wohl aber auf erstaunliche Weise in der Fachwelt.
Geld verdient er allerdings damit nicht. Durch Ernst Kreuder bekommt Arno Schmidt dann den Tipp, es einfach mit „Zeitungsgeschichtenversand” zu versuchen: per Drucksache an 40 bis 50 Zeitungen, zwischen Bremen, Fulda und Göppingen, hektographierte Geschichten verschicken. 93 Prozent würden zurückgeschickt, 7 Prozent angenommen. Schmidt klaut ein paar haarsträubende Plots bei seinem Lieblings-Trash-Romantiker Fouqué oder bei James Fenimore Cooper, und tatsächlich: es klappt. Ungläubig nehmen die Schmidts die ersten Belegexemplare in Empfang – die Postankunft ist ein herausgehobener Vorgang, Telefon haben sie selbstverständlich nicht: „ein dicker Zeitungspacken? Süddeutsche Zeitung München, wir werden verrückt! Und was für eine riesengroße dicke Zeitung das ist! Prima!” Sofort setzt Arno Schmidt das verdiente Geld um und bestellt beim Antiquar vier neue niedersächsische Staatshandbücher mit Jahrgängen, die er noch nicht hat – im „Steinernen Herzen” spielt diese Besessenheit ja eine entscheidende Rolle. Vier Tage später notiert Alice: „A. sitzt selig über seinen neuen Staatshandbüchern. – Viel Wurst gekauft.” HELMUT BÖTTIGER
ALICE SCHMIDT: Tagebuch aus dem Jahr 1955. Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 373 Seiten, 38 Euro.
Alice Schmidt, Frau von Arno Schmidt, und eine ihrer geliebten Katzen Foto: Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld
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Viel Wurst gekauft: Die Tagebücher Alice Schmidts aus dem Jahr 1955
Arno Schmidt schreibt und schreibt, und er scheint wie um sein Leben zu schreiben. In dem Bild, das seine Frau Alice in ihrem Tagebuch von ihm zusammensetzt, wirkt er oft wie ein großes Kind - launisch und gereizt, vollkommen auf sein Spiel und sein Werk bezogen, unfähig, auch nur die kleinste Kritik zu ertragen: „Die wissen alle nicht was sie tun. Sie müssten mich mit Gold aufwiegen. Was ich hier mache kann keiner und hat noch keiner gemacht und nun machen sie mir das Leben zur Hölle. Dabei kommen ihm die Tränen.” Seit wir auch Alice Schmidt kennen, bekommt Arno Schmidt neue Konturen. Nach ihrem Tagebuch aus dem Jahr 1954 vor vier Jahren erscheint jetzt das von 1955, und der Laborversuch geht weiter. Er handelt von einem Modellfall radikaler Trennung zwischen Kunst und Leben. Und um die Frage: Kann eine symbiotische Beziehung, mit der sich zwei von der Außenwelt abschirmen, eine umso reichere Innenwelt hervorbringen, bei der es sich im geglückten Fall um Literatur handelt?
Arno Schmidts Lieblingsvision, das weiß Alice, ist sehr ernst zu nehmen: „ein kleines Hüttchen in der Heide, riesen Zaun drum rum und dann nie mehr raus oder einen Menschen sehen!” 1958, in Bargfeld bei Celle, ist es endlich soweit, aber schon 1955 arbeitet er daran. Selbst die Möglichkeit, umsonst für einige Wochen ans Mittelmeer zu fahren, lehnt er ab, Reisen ist ihm ein Graus, obwohl sich Alice von der Vorstellung der „blauen Adria” verfolgt zeigt. Der Vorschlag kommt vom Studienrat Wilhelm Michels, einem kulturbeflissenen Bürger, der in den Schmidts so etwas wie Bohèmeleben verwirklicht sieht und häufig Lebensmittelpakete schickt. Später taucht das Angebot „Griechenland” auf, und Arno Schmidt versetzt mürrisch: „Da ist es mir zu hell!”
Ab und zu dringt Besuch durch, aber oft winkt Arno Schmidt ab. „Schade, schade, ich hätte mich mal wieder auf einen Besuch sehr gefreut”, notiert Alice. Aber auf der anderen Seite ist sie überzeugt davon, mit einem Genie zusammen zu wohnen. Sie ist nicht nur Schmidts Köchin, Wäscherin und Büglerin, sondern auch Sekretärin und Korrekturleserin. Es wimmelt von Eintragungen wie: „Ein göttliches Stück! Die Verleger müssen einen Knall haben, das abzulehnen.” Oder: „A’s Sachen werden je öfter man sie liest, um so schöner. Und mit Schwung und Tempo geschrieben!” Und: „Wie fascinierend und einnehmend er ist, wenn er will! Wie würde er sie alle bezaubern und überzeugen!”
Alice hat ein Geheimnis. Ihr Gegengewicht sind die Katzen. Sie baut sich ein Wunderland und balanciert die Schwierigkeiten mit dem Ehemann dadurch aus. Alice „kurbelt” jede Katze sofort, wenn sie sie sieht, immer noch betrauert sie die toten „Topper” und „Ringelnatz” und pflegt deren Grab auf der Wiese. Jan Philipp Reemtsma, der unermüdliche Nachlassverwalter, berichtet, dass Alice Schmidt an zwei Tagen im Jahr kaum ansprechbar war: am Todestag ihres im Krieg getöteten jungen Bruders und am Todestag der Katze Purzel.
Die Geburt dieses Purzel wird im Tagebuch 1955 hautnah miterlebt. Dadurch, dass Alice Schmidt ein fast umfassendes Daseinsglück mit Katzen ausleben kann, wird auch ihr Alltag mit Arno austariert – eine Konstellation, die für die Möglichkeit seiner Literatur von ausschlaggebender Bedeutung ist. „An Katzen scheitert’s noch mal!" heißt es einmal im Roman „Das steinerne Herz”. Aber grundsätzlich sind die Katzen der Tribut, den Arno Schmidt seiner Frau zollt – beim plötzlichen Umzug ist klar, dass trotz gewisser Transportprobleme Purzel mit muss.
Endlich ein Hausverlag!
1955 ist das Jahr, in dem Arno Schmidt erkennbar Tritt im Literaturbetrieb fasst. Alfred Andersch druckt „Seelandschaft mit Pocahontas” fast programmatisch in der ersten Nummer seiner Zeitschrift „Texte und Zeichen”, als Radioredakteur verschafft er Schmidt zudem die Möglichkeit für regelmäßige Stundensendungen, und auch Max Bense tritt als Auftraggeber und Förderer auf. Und mit dem Stahlberg-Verlag bekommt Schmidt, auf Vermittlung von Andersch, endlich einen Hausverlag, der zuverlässig seine Bücher druckt. Gleichzeitig ist 1955 das Jahr einer großen Krise: Schmidt wird wegen Gotteslästerung und Pornographie angeklagt, sie verlassen deswegen halsüberkopf das katholische Dorf im Amtsbezirk Trier und ziehen nach Darmstadt.
Und es sieht auch lange danach aus, als fände er keinen richtigen Verlag mehr: Rowohlt hält ihn für unverkäuflich, Suhrkamp winkt bei seinem Namen sofort ab, und die „Restauration”, die Bigotterie und die Wiederbewaffnung in der Adenauerrepublik setzen ihm spürbar zu. Alice kriegt währenddessen heraus, dass just im „Pfarrgarten” Gift ausgelegt wird, an dem nicht nur Ratten, sondern auch Katzen sterben.
Verblüffend sind einige Einblicke in den Literaturbetrieb der fünfziger Jahre. Die Zeit, die Redakteure hatten! Ihre selbstverständliche Suche nach Bedeutsamem abseits der populären Maßstäbe! Abseits der Prominenz! Einmal zählt Alice die Verkaufszahlen der bei Rowohlt erschienenen Bücher auf: „Leviathan” (1949) insgesamt 881, „Brand’s Haide” (1952) insgesamt 628, „Aus dem Leben eines Fauns” (1953) insgesamt 946. Dennoch spürt man in diesem Tagebuch, dass Arno Schmidt bereits ein Name ist, ein Markenzeichen gar. So „wagt” der Sekretär der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vorsichtig anzufragen, ob Arno Schmidt bei der für 1955 geplanten Ausstellung „Dichterhandschriften” bereit sei, mitzumachen. Arno Schmidt setzt sich zwar nicht beim Publikum durch, wohl aber auf erstaunliche Weise in der Fachwelt.
Geld verdient er allerdings damit nicht. Durch Ernst Kreuder bekommt Arno Schmidt dann den Tipp, es einfach mit „Zeitungsgeschichtenversand” zu versuchen: per Drucksache an 40 bis 50 Zeitungen, zwischen Bremen, Fulda und Göppingen, hektographierte Geschichten verschicken. 93 Prozent würden zurückgeschickt, 7 Prozent angenommen. Schmidt klaut ein paar haarsträubende Plots bei seinem Lieblings-Trash-Romantiker Fouqué oder bei James Fenimore Cooper, und tatsächlich: es klappt. Ungläubig nehmen die Schmidts die ersten Belegexemplare in Empfang – die Postankunft ist ein herausgehobener Vorgang, Telefon haben sie selbstverständlich nicht: „ein dicker Zeitungspacken? Süddeutsche Zeitung München, wir werden verrückt! Und was für eine riesengroße dicke Zeitung das ist! Prima!” Sofort setzt Arno Schmidt das verdiente Geld um und bestellt beim Antiquar vier neue niedersächsische Staatshandbücher mit Jahrgängen, die er noch nicht hat – im „Steinernen Herzen” spielt diese Besessenheit ja eine entscheidende Rolle. Vier Tage später notiert Alice: „A. sitzt selig über seinen neuen Staatshandbüchern. – Viel Wurst gekauft.” HELMUT BÖTTIGER
ALICE SCHMIDT: Tagebuch aus dem Jahr 1955. Herausgegeben von Susanne Fischer. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 373 Seiten, 38 Euro.
Alice Schmidt, Frau von Arno Schmidt, und eine ihrer geliebten Katzen Foto: Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2009Abends in die Schmiere
Man muss kein besonderer Misanthrop sein, um der Vorstellung einer gemeinsamen wochenlangen Urlaubsfahrt mit zwar äußerst freundlichen, aber nicht besonders vertrauten Menschen mit Zurückhaltung zu begegnen, vor allem, wenn die Rede von einem Vier-Personen-Zelt ist, in dem doch alle Platz hätten. Arno und Alice Schmidt aber scheinen ausweislich Alices Tagebuch für das Jahr 1955 das Angebot der Eheleute Michels allen Ernstes erwogen zu haben - ist es also unfair, die Beziehung zwischen dem begeisterten, auf Nähe drängenden Leser Wilhelm Michels und dem im Alter immer knorrigeren Autor nur vom trüben Ende her zu beurteilen? Jedenfalls ist diese willkommene, von Susanne Fischer besorgte Edition des Tagebuchs für ständige Überraschungen im Vertrauten gut, für farbige Schilderungen von Ausflugsfahrten (etwa zu Weihnachten von Darmstadt nach Frankfurt am Main, wo ein Warenhaus, ein Kino und das Kabarett "Die Schmiere" besucht werden) und für Einblicke in den Alltag eines Schriftstellerhaushaltes, der sich nach Jahren der schieren Not zu konsolidieren beginnt. Und nicht zuletzt dies macht die Lektüre zu einem glücklichen Erlebnis. (Alice Schmidt: "Tagebuch aus dem Jahr 1955". Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008. 373 S., geb., 38,- [Euro].) spre
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man muss kein besonderer Misanthrop sein, um der Vorstellung einer gemeinsamen wochenlangen Urlaubsfahrt mit zwar äußerst freundlichen, aber nicht besonders vertrauten Menschen mit Zurückhaltung zu begegnen, vor allem, wenn die Rede von einem Vier-Personen-Zelt ist, in dem doch alle Platz hätten. Arno und Alice Schmidt aber scheinen ausweislich Alices Tagebuch für das Jahr 1955 das Angebot der Eheleute Michels allen Ernstes erwogen zu haben - ist es also unfair, die Beziehung zwischen dem begeisterten, auf Nähe drängenden Leser Wilhelm Michels und dem im Alter immer knorrigeren Autor nur vom trüben Ende her zu beurteilen? Jedenfalls ist diese willkommene, von Susanne Fischer besorgte Edition des Tagebuchs für ständige Überraschungen im Vertrauten gut, für farbige Schilderungen von Ausflugsfahrten (etwa zu Weihnachten von Darmstadt nach Frankfurt am Main, wo ein Warenhaus, ein Kino und das Kabarett "Die Schmiere" besucht werden) und für Einblicke in den Alltag eines Schriftstellerhaushaltes, der sich nach Jahren der schieren Not zu konsolidieren beginnt. Und nicht zuletzt dies macht die Lektüre zu einem glücklichen Erlebnis. (Alice Schmidt: "Tagebuch aus dem Jahr 1955". Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008. 373 S., geb., 38,- [Euro].) spre
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als interessant und weit über die Befriedigung eines philologischen Interesses zu Arno Schmidt hinausgehend bewertet Rezensent Henrik Feindt dieses Tagebuch aus dem Jahr 1955 von Schmidts Ehefrau Alice, inzwischen der zweite publizierte Band. Zwar beschreibe Alice Schmidt darin die Monate nach der ?legendären Strafanzeige? gegen ihren Mann wegen Gotteslästerung. Doch aus Sicht des Rezensenten handelt es sich nicht allein um ein bedeutendes Zeitzeugnis sondern darüber hinaus auch das ?Zeugnis der gesellschaftlich marginalisierten Existenz eines von schriftstellerischer Arbeit nur dürftig lebenden Ehepaars? und einer ?unverbrüchlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft?.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Arno Schmidt Stiftung hat sich nach dem Tagebuch Alice Schmidts von 1954 zu einem weiteren Band entschlossen. ... Alles, was den ersten Band so reizvoll gemacht hat, gilt für diesen erneut - die Mischung aus Unmittelbarkeit und auserzählter Situationskomik und -dramatik trägt auch diesmal Neues zum Verständnis des Schriftsteller-Alltags von Arno Schmidt bei.« Sven Hanuschek Frankfurter Rundschau