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»Weiß vor Angst und Schlaflosigkeit, machten wir uns auf nachzusehen, was von Marindvor übriggeblieben war.« Wieder sind sie verschont geblieben: ein Granatsplitter hat nicht den Autor und seine Frau, aber die Bücher getroffen: William Faulkner, Nadeshda Mandelstam, Gottfried Kellers »Grünen Heinrich«.
In kurzen, unvergesslichen Szenen beschreibt Dzevad Karahasan das Leben im belagerten Sarajevo. Einen Mann, der aus der Warteschlange tritt, sich auf ein Mäuerchen setzt und stirbt. Die Evakuierung der jüdischen Gemeinde. Das absurde Gespräch mit einem französischen Korrespondenten über
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Produktbeschreibung
»Weiß vor Angst und Schlaflosigkeit, machten wir uns auf nachzusehen, was von Marindvor übriggeblieben war.« Wieder sind sie verschont geblieben: ein Granatsplitter hat nicht den Autor und seine Frau, aber die Bücher getroffen: William Faulkner, Nadeshda Mandelstam, Gottfried Kellers »Grünen Heinrich«.

In kurzen, unvergesslichen Szenen beschreibt Dzevad Karahasan das Leben im belagerten Sarajevo. Einen Mann, der aus der Warteschlange tritt, sich auf ein Mäuerchen setzt und stirbt. Die Evakuierung der jüdischen Gemeinde. Das absurde Gespräch mit einem französischen Korrespondenten über Hunger und Kälte.

Sarkasmus, Humor, Güte und eine beeindruckende geistige Souveränität charakterisieren die Haltung, mit der Karahasan vom Alltag im Krieg und von der Übersiedlung einer kulturell und religiös polyphonen Stadt in die Sphäre des Idealen schreibt.

Das Tagebuch der Übersiedlung ist ein bleibendes Zeugnis über die Belagerung Sarajevos - weniger im Sinne einer Alltagsdokumentation als durch seine gedankliche und ethische Strahlkraft.
Autorenporträt
Devad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählte zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Devad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz. Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Hannes Hintermeier geht mit Dzevad Karahasan und seinen erweiterten, neu übersetzten Kriegsaufzeichnungen zurück ins eingekesselte Sarajevo und ahnt: Das Schlimmste hat der Autor für sich behalten. Schlimm genug sind die Eindrücke aus der belagerten Stadt, von Sterbenden und von der Zerstörung, findet Hintermeier allerdings. Formal ist der Text keine Kriegsreportage, sondern eine Sammlung von Szenen und Reflexionen, erklärt der Rezensent, die sich nicht zuletzt um die Ursachen des Krieges drehen, um Propaganda (aktuell!, findet Hintermeier) und den Erhalt des multiethnischen Erbes der Stadt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2021

Zerstörung der Wunderstadt

Bloß nicht in die Opferrolle schlüpfen: In seinem Kriegstagebuch blickt der Autor Dzevad Karahasan auf das verschwundene Sarajevo.

Die Belagerung der Stadt Sarajevo begann in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992. Sie ist eines der unrühmlichsten Kapitel in den Kriegen des zerfallenden Jugoslawiens und mit 1425 Tagen Dauer trauriger Rekordhalter im zwanzigsten Jahrhundert. Am Ende ließ die Jugoslawische Volksarmee der Serben von der multiethnischen Metropole im Herzen des Balkans nicht viel mehr übrig als Ruinen. Der Westen griff militärisch nicht ein, er überließ die eingekesselte Bevölkerung ihrem Schicksal, und wer damals wissen wollte, wie es im Inneren der Stadt zuging, konnte 1993 ein schmales Bändchen des Dekans der Akademie der szenischen Künste lesen: Dzevad Karahasan war es gelungen, dem Bombardement und den Scharfschützen zu entkommen. Sein "Tagebuch der Aussiedlung" erschien im Klagenfurter Wieser Verlag und machte ihn mit einem Schlag auch im deutschsprachigen Raum bekannt.

Karahasan lebt seit 1996 wieder mit seiner Frau in seiner Heimatstadt und in Graz. Er ist längst zu einem Schriftsteller von europäischem Rang gereift. Lange schon hatte seine Lektorin Katharina Raabe darauf gedrängt, das Tagebuch vollständig zu drucken. Nun liegt es in einer neuen Übersetzung von Katharina Wolf-Grießhaber und ergänzt um zwei Essays und ein Gespräch mit Raabe vor. Aus der "Aussiedlung" wurde im Titel die "Übersiedlung". Wer einen Augenzeugenbericht im Stil einer Kriegsreportage erwartet, liegt falsch. Der Autor knüpft seine Reflexionen an Szenen aus dem Alltag. Ein Granatsplitter, der in sein Bücherregal einschlägt; ein Mann, der, während er um Wasser ansteht, einfach stirbt und der dafür beneidet wird; eine Mutter, die weint, weil ihre Kinder gesund sind und nicht ausgeflogen werden können. Seiner Lektorin gesteht Karahasan, "die wirklich dramatischen Ereignisse, die Erfahrungen, die mich in meinen Grundfesten erschütterten", nicht einmal notiert zu haben.

Vielmehr zeigt sich der von Franziskanern erzogene, säkulare Muslim auch inmitten des Granathagels als Schriftsteller sui generis: Wohl beobachtet er, wie sich seine Mitmenschen in zerbombten Häusern, ohne Wasser und Wärme einzurichten beginnen, aber er weigert sich strikt, als Person in die Opferrolle zu schlüpfen. Seine Trauer gilt der Zerstörung der "Wunderstadt", der er damals wie heute als Chronist sich verschrieben hat, weil er sie als "zweites Jerusalem" begreift.

Strategisch ohne größere Bedeutung, hat sich die Stadt seit 1440 als lebendiger Beweis entwickelt, dass Angehörige dreier großer monotheistischer Religionen - Muslime, Katholiken, Orthodoxe - friedlich miteinander leben können, mit "der Bereitschaft, dem Blick des anderen Relevanz und Fundiertheit zuzugestehen". Die Aggressoren hielten mit ihrem dualistischen Weltbild diese Offenheit nicht aus, sie zerstören Sarajevo, davon ist der Chronist überzeugt, "weil in dieser Stadt Gotteshäuser von vier Religionen stehen". Besonders tragisch wirkt in diesem Kontext der Exodus der Juden, die es nicht verwanden, dass die Belagerer den jüdischen Friedhof als Stellung für die Granatwerfer missbrauchten.

Karahasan hat die jugoslawische Gesellschaft schon vor vierzig Jahren für nicht mehr reformierbar gehalten. Er entwirft eine Typologie der Propaganda, um diese Zerfallsgeschichte zu illustrieren. Das Jugoslawien Titos habe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen "Diskurs des Belagerungszustandes" geführt - das Land sei umzingelt von Feinden. Diesem folgte der "Diskurs der Angsterzeugung" - Tenor: Der Feind ist unter uns, womöglich mitten in der eigenen Familie. Aus eigener Anschauung kennt der Neunundsechzigjährige die dritte Variante, den "Diskurs des aufgezwungenen Vertrauens", erzeugt durch die Meinungsmache allgegenwärtiger Geheimpolizisten in Öffentlichkeit und Medien. Ein "sicheres Zeichen, dass sich eine Gesellschaft auf eine Herrschaft der Angst zubewegt". Da klingen dem heutigen Leser die Ohren.

Was ist aus der Stadt geworden, in der einst Türkisch, Arabisch, Sephardisch, Spaniolisch, Ungarisch, Italienisch und Deutsch gesprochen wurde? Dieses alte Sarajevo existiert nur noch in der Erinnerung, und in den Büchern Karahasans. Trotz vieler sichtbarer Kriegswunden ist die Stadt eine "Destination" geworden, was dem Autor missfällt, weil die Menschen im Tourismus "entweder Kellner oder Gäste sind, und keiner ist zu Hause".

Wenn es heute noch Reste der "Wunderstadt" gibt, liegt es auch daran, dass ihre Bewohner während der Belagerung und in den Jahren seither nicht aufgehört haben, deren Erbe zu hüten. Karahasan gießt das in die Formel: "Es gilt, die Form zu bewahren." Ihm ist das gelungen, über den Preis, den er dafür zahlte, schweigt er vornehm. HANNES HINTERMEIER

Dzevad Karahasan: "Tagebuch der Übersiedlung". Essays.

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 223 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Wenn es heute noch Reste der 'Wunderstadt' gibt, liegt es auch daran, dass ihre Bewohner während der Belagerung und in den Jahren seither nicht aufgehört haben, deren Erbe zu hüten. Karahasan gießt das in die Formel: 'Es gilt die Form zu bewahren.' Ihm ist das gelungen, über den Preis, den er dafür zahlte, schweigt er vornehm.« Hannes Hintermeier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20211006