Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004Die Pfadfinder der Nation
Nach zweihundert Jahren auf deutsch: Die Tagebücher von Lewis und Clark / Von Freddy Langer
Am Ende werden die Tagebucheinträge immer knapper. Für den 23. September 1806 eine winzige Passage über die Ankunft in St. Louis und den großartigen Empfang im Hafen. Am 25. September bloß noch Stichworte zu formellen Besuchen und einem Festessen samt Ball. Dem 26. September schließlich ist ein einziger Satz in der unfreiwillig eigenen und in der Übersetzung wunderbar nachempfundenen Orthographie gewidmet: "ein prächtiger Morgen wir begannen zu schreihben &c." Das Abenteuer war vorüber.
Knapp zweieinhalb Jahre zuvor, am 14. Mai 1804, waren Meriwether Lewis und William Clark mit einer Truppe von etwa dreißig Mann von St. Louis aus aufgebrochen zur "ersten Expedition zu den Quellen des Missouri, sodann über die Rocky Mountains zur Mündung des Columbia in den Pazifik und zurück" - wie später ihr Bericht überschrieben sein würde. Es war ein grandioses Unternehmen: die Durchquerung eines halben Kontinents, einer Landschaft, die für die weißen Bewohner Amerikas bis dahin terra incognita war und über deren Ausdehnung nur sehr vage Vorstellungen herrschten. Die Reise mit Booten, zu Fuß und zu Pferde zählt zu den Meilensteinen der amerikanischen Geschichte; die identitätsstiftende Wirkung der Berichte für die gerade erst entstehende Nation kann nicht überschätzt werden. Etliche Geschehnisse zählen heute zum amerikanischen Anekdotenschatz. Und neben den beiden Führern der Expedition werden der Teilnehmer John Colter sowie die indianische Dolmetscherin Sacajawea als Helden des frühen Wilden Westens verehrt. So wurden die Tagebücher von Lewis und Clark zu einer Art nationalem Epos und damit in Amerika Teil des kulturellen Kanons. In den vergangenen zweihundert Jahren erschienen sie dort in etwa einem Dutzend unterschiedlich sorgfältig edierten Ausgaben, die vollständigste umfaßt dreizehn Bände. Daß eine deutsche Fassung erst jetzt zum ersten Mal vorliegt, scheint überraschend genug. Überraschender noch aber für die verlegerische Leistung ist der Anlaß: Als reichte der zweihundertste Jahrestag der Expedition nicht aus, begründet der Zweitausendeins Verlag den Band mit Arno Schmidts neunzigstem Geburtstag im Januar dieses Jahres.
Schmidt nannte den Reisebericht in "Zettel's Traum" gewohnt prätentiös "ein dolles=Buch: dás=mal, ,con'=genial, ins Deutsche übersetzt! (Zeit würz allmählich.)" Welche Rolle er im Schmidtschen Gedankenkosmos spielte, erläutert Friedhelm Rathjen, der Übersetzer und Herausgeber des Bands, in seinem Nachwort sehr ausführlich und selbst für Nicht-Arno-Schmidt-Exegeten schlüssig: als Klammer, um seine beiden Antipoden der Literatur, James Joyce und Edgar Allen Poe, zusammenzubringen. Kaum aber, daß man das Tagebuch zu lesen beginnt, sind einem derlei Probleme wur=scht (!). Und es waren ganz bestimmt zuallerletzt die schriftstellerischen Qualitäten der Offiziere Lewis und Clark, deretwegen der amerikanische Präsident Thomas Jefferson die beiden im Regierungsauftrag auf den Weg geschickt hatte.
Im Schnittpunkt genialer amerikanischer Diplomatie in Paris und mangelnder Fortune Napoleons mit seinen Armeen in der Karibik hatten die Vereinigten Staaten mit dem "Louisiana Purchase" 1803 der französischen Nation für fünfzehn Millionen Dollar das Gebiet zwischen dem Mississippi und der kontinentalen Wasserscheide in den Rocky Mountains abgekauft - und damit ihr Staatsgebiet binnen eines Wimpernschlags verdoppelt. Schon in den Jahren zuvor hatte Jefferson versucht, heimlich Kundschafter in diese Region senden. Nun wurde der Trupp zur offiziellen Delegation, die mit geradezu missionarischem Eifer den Indianerstämmen entlang der Route Flaggen und Medaillen schenkte und die Friedenswünsche des "Großen Vaters in Washington" übermittelte. So überzeugend war ihr Auftreten und so harmonisch waren die meisten Begegnungen bei Tanz und Pfeife, daß etliche Häuptlinge in die Hauptstadt reisten, noch bevor die Expedition zurückgekommen war.
Im Vordergrund aber standen handfeste wirtschaftliche Interessen, die sich zunächst auf die Entdeckung eines Verkehrswegs nach Westen konzentrierten und damit der alten Vision eines kurzen Wasserwegs nach Asien folgten, die sich seit Kolumbus in den Köpfen der Menschen eingenistet hatte und die 1792 mit der Entdeckung des Columbia River an der Westküste Amerikas neue Nahrung erhalten hatte. Konsequent richteten Lewis und Clark ihr Augenmerk auf alle Wasserläufe und gaben noch dem kleinsten Bach einen Namen, ganz und gar untheatralisch und fern jeglichen Eroberungsrausches - selbst die größten Berge hingegen beachteten sie kaum.
Zum anderen überprüfte die Expedition das Land durchaus auf Möglichkeiten der Ausbeutung und künftigen Besiedlung. In einer Art Schnellkurs war deshalb Meriwether Lewis, gerade einmal neunundzwanzig Jahre alt, noch unmittelbar vor seinem Aufbruch in Philadelphia von den bekanntesten Wissenschaftlern der Zeit in den wichtigsten Feldern der Flora, Fauna und Mineralogie unterrichtet worden. So intensiv und erfolgreich waren unterwegs die Studien, daß der Vorrat an ethnologischen wie naturwissenschaftlichen Ergebnissen schier unüberschaubar ist - und sogar zwei von den Offizieren entdeckte Pflanzenarten Lewisia und Clarkia benannt worden sind.
Man darf also bei der Lektüre keineswegs einen Abenteuerroman erwarten. Immer geht es vielmehr vor allem darum, das Land zu untersuchen und seinen Wert zu bemessen. Das Wetter mit Temperaturen bis unter minus vierzig Grad, die Zahl der gejagten Tiere, die Schiffbarkeit der Flüsse, die Bodenschätze, die Art der Bäume und Qualität der Weidegründe sowie ihre Tauglichkeit für den Ackerbau sind bis zum Überdruß wiederkehrende Themen. Erst wenn in fast einhundert Eintragungen hintereinander stoisch distanziert der starke Regen erwähnt wird, ahnt man, welche Herausforderungen die Tour auch jenseits der puren Kraftanstrengung an die Mannschaft gestellt hat. Man erschaudert angesichts der buchhalterischen Sachlichkeit, mit der Clark das halsbrecherische Unternehmen beschreibt, einen Pfad in einen bewaldeten Hang zu schlagen, "wo Mehrere Pferde stürzten, Manche überschlugen sich, und andere Rutschten Steile Abhänge hinab, ein Pferd verkrüppelt & 2 am Ende". Und man verspürt Mitleid bei Insektenplagen: "Die Misquiter seehr schlimm." Ganz offenbar allerdings haben die beiden Leiter der Expedition im Laufe der Reise immer mehr Gefallen an ihren Aufzeichnungen gefunden. Vor allem Lewis' Notizen werden von Monat zu Monat länger und detaillierter, widmen sich den Bräuchen der Indianer, dem eigenen Lagerleben bis hin zu den "Geschl.-Ld." als Folgen eines gar zu engen Austauschs von Interessen zwischen seinen Männern und den Indianerinnen, und bisweilen blitzt aller unmenschlichen Strapazen zum Trotz zwischen den Zeilen eine fast romantisch zu nennende Empfindung für die Wildnis auf. Nirgends wird das Dilemma, in dem die Entdecker stecken, deutlicher als in solchen Passagen.
Gebannt von der einzigartigen Schönheit des als Garten empfundenen Lands, das niemand zuvor gesehen hat und dessen Zauber sie nun in ungelenken Worten zu bannen versuchen, weil sie keine Vorbilder haben, zugleich aber geprägt von dem Anspruch einer genauen Vermessung, vermischen sich nicht nur bei der Schilderung von "schäumenden + kochenden" Stromschnellen und Wasserfällen innerhalb eines Satzes die Prosa der exakten Zahl mit der Poesie gewagter Adjektive zu einer rührenden Befangenheit, die es so vielleicht nie zuvor und nie wieder später in der Entdeckungsgeschichte gegeben hat. Selbst beim Anblick der weiten Prärie verbietet sich Lewis die reine Emotion, wenn er an einer Stelle notiert: "Junges Gras schoß biß zu einer Höhe von 4 Zoll auf und bot mir das Grün des Frühlings dar."
Meriwether Lewis und William Clark: "Tagebuch". Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Friedhelm Rathjen. Zweitausendeins, Frankfurt 2004. 656 S., geb., eine beigelegte Karte, 40,- [Euro].
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Nach zweihundert Jahren auf deutsch: Die Tagebücher von Lewis und Clark / Von Freddy Langer
Am Ende werden die Tagebucheinträge immer knapper. Für den 23. September 1806 eine winzige Passage über die Ankunft in St. Louis und den großartigen Empfang im Hafen. Am 25. September bloß noch Stichworte zu formellen Besuchen und einem Festessen samt Ball. Dem 26. September schließlich ist ein einziger Satz in der unfreiwillig eigenen und in der Übersetzung wunderbar nachempfundenen Orthographie gewidmet: "ein prächtiger Morgen wir begannen zu schreihben &c." Das Abenteuer war vorüber.
Knapp zweieinhalb Jahre zuvor, am 14. Mai 1804, waren Meriwether Lewis und William Clark mit einer Truppe von etwa dreißig Mann von St. Louis aus aufgebrochen zur "ersten Expedition zu den Quellen des Missouri, sodann über die Rocky Mountains zur Mündung des Columbia in den Pazifik und zurück" - wie später ihr Bericht überschrieben sein würde. Es war ein grandioses Unternehmen: die Durchquerung eines halben Kontinents, einer Landschaft, die für die weißen Bewohner Amerikas bis dahin terra incognita war und über deren Ausdehnung nur sehr vage Vorstellungen herrschten. Die Reise mit Booten, zu Fuß und zu Pferde zählt zu den Meilensteinen der amerikanischen Geschichte; die identitätsstiftende Wirkung der Berichte für die gerade erst entstehende Nation kann nicht überschätzt werden. Etliche Geschehnisse zählen heute zum amerikanischen Anekdotenschatz. Und neben den beiden Führern der Expedition werden der Teilnehmer John Colter sowie die indianische Dolmetscherin Sacajawea als Helden des frühen Wilden Westens verehrt. So wurden die Tagebücher von Lewis und Clark zu einer Art nationalem Epos und damit in Amerika Teil des kulturellen Kanons. In den vergangenen zweihundert Jahren erschienen sie dort in etwa einem Dutzend unterschiedlich sorgfältig edierten Ausgaben, die vollständigste umfaßt dreizehn Bände. Daß eine deutsche Fassung erst jetzt zum ersten Mal vorliegt, scheint überraschend genug. Überraschender noch aber für die verlegerische Leistung ist der Anlaß: Als reichte der zweihundertste Jahrestag der Expedition nicht aus, begründet der Zweitausendeins Verlag den Band mit Arno Schmidts neunzigstem Geburtstag im Januar dieses Jahres.
Schmidt nannte den Reisebericht in "Zettel's Traum" gewohnt prätentiös "ein dolles=Buch: dás=mal, ,con'=genial, ins Deutsche übersetzt! (Zeit würz allmählich.)" Welche Rolle er im Schmidtschen Gedankenkosmos spielte, erläutert Friedhelm Rathjen, der Übersetzer und Herausgeber des Bands, in seinem Nachwort sehr ausführlich und selbst für Nicht-Arno-Schmidt-Exegeten schlüssig: als Klammer, um seine beiden Antipoden der Literatur, James Joyce und Edgar Allen Poe, zusammenzubringen. Kaum aber, daß man das Tagebuch zu lesen beginnt, sind einem derlei Probleme wur=scht (!). Und es waren ganz bestimmt zuallerletzt die schriftstellerischen Qualitäten der Offiziere Lewis und Clark, deretwegen der amerikanische Präsident Thomas Jefferson die beiden im Regierungsauftrag auf den Weg geschickt hatte.
Im Schnittpunkt genialer amerikanischer Diplomatie in Paris und mangelnder Fortune Napoleons mit seinen Armeen in der Karibik hatten die Vereinigten Staaten mit dem "Louisiana Purchase" 1803 der französischen Nation für fünfzehn Millionen Dollar das Gebiet zwischen dem Mississippi und der kontinentalen Wasserscheide in den Rocky Mountains abgekauft - und damit ihr Staatsgebiet binnen eines Wimpernschlags verdoppelt. Schon in den Jahren zuvor hatte Jefferson versucht, heimlich Kundschafter in diese Region senden. Nun wurde der Trupp zur offiziellen Delegation, die mit geradezu missionarischem Eifer den Indianerstämmen entlang der Route Flaggen und Medaillen schenkte und die Friedenswünsche des "Großen Vaters in Washington" übermittelte. So überzeugend war ihr Auftreten und so harmonisch waren die meisten Begegnungen bei Tanz und Pfeife, daß etliche Häuptlinge in die Hauptstadt reisten, noch bevor die Expedition zurückgekommen war.
Im Vordergrund aber standen handfeste wirtschaftliche Interessen, die sich zunächst auf die Entdeckung eines Verkehrswegs nach Westen konzentrierten und damit der alten Vision eines kurzen Wasserwegs nach Asien folgten, die sich seit Kolumbus in den Köpfen der Menschen eingenistet hatte und die 1792 mit der Entdeckung des Columbia River an der Westküste Amerikas neue Nahrung erhalten hatte. Konsequent richteten Lewis und Clark ihr Augenmerk auf alle Wasserläufe und gaben noch dem kleinsten Bach einen Namen, ganz und gar untheatralisch und fern jeglichen Eroberungsrausches - selbst die größten Berge hingegen beachteten sie kaum.
Zum anderen überprüfte die Expedition das Land durchaus auf Möglichkeiten der Ausbeutung und künftigen Besiedlung. In einer Art Schnellkurs war deshalb Meriwether Lewis, gerade einmal neunundzwanzig Jahre alt, noch unmittelbar vor seinem Aufbruch in Philadelphia von den bekanntesten Wissenschaftlern der Zeit in den wichtigsten Feldern der Flora, Fauna und Mineralogie unterrichtet worden. So intensiv und erfolgreich waren unterwegs die Studien, daß der Vorrat an ethnologischen wie naturwissenschaftlichen Ergebnissen schier unüberschaubar ist - und sogar zwei von den Offizieren entdeckte Pflanzenarten Lewisia und Clarkia benannt worden sind.
Man darf also bei der Lektüre keineswegs einen Abenteuerroman erwarten. Immer geht es vielmehr vor allem darum, das Land zu untersuchen und seinen Wert zu bemessen. Das Wetter mit Temperaturen bis unter minus vierzig Grad, die Zahl der gejagten Tiere, die Schiffbarkeit der Flüsse, die Bodenschätze, die Art der Bäume und Qualität der Weidegründe sowie ihre Tauglichkeit für den Ackerbau sind bis zum Überdruß wiederkehrende Themen. Erst wenn in fast einhundert Eintragungen hintereinander stoisch distanziert der starke Regen erwähnt wird, ahnt man, welche Herausforderungen die Tour auch jenseits der puren Kraftanstrengung an die Mannschaft gestellt hat. Man erschaudert angesichts der buchhalterischen Sachlichkeit, mit der Clark das halsbrecherische Unternehmen beschreibt, einen Pfad in einen bewaldeten Hang zu schlagen, "wo Mehrere Pferde stürzten, Manche überschlugen sich, und andere Rutschten Steile Abhänge hinab, ein Pferd verkrüppelt & 2 am Ende". Und man verspürt Mitleid bei Insektenplagen: "Die Misquiter seehr schlimm." Ganz offenbar allerdings haben die beiden Leiter der Expedition im Laufe der Reise immer mehr Gefallen an ihren Aufzeichnungen gefunden. Vor allem Lewis' Notizen werden von Monat zu Monat länger und detaillierter, widmen sich den Bräuchen der Indianer, dem eigenen Lagerleben bis hin zu den "Geschl.-Ld." als Folgen eines gar zu engen Austauschs von Interessen zwischen seinen Männern und den Indianerinnen, und bisweilen blitzt aller unmenschlichen Strapazen zum Trotz zwischen den Zeilen eine fast romantisch zu nennende Empfindung für die Wildnis auf. Nirgends wird das Dilemma, in dem die Entdecker stecken, deutlicher als in solchen Passagen.
Gebannt von der einzigartigen Schönheit des als Garten empfundenen Lands, das niemand zuvor gesehen hat und dessen Zauber sie nun in ungelenken Worten zu bannen versuchen, weil sie keine Vorbilder haben, zugleich aber geprägt von dem Anspruch einer genauen Vermessung, vermischen sich nicht nur bei der Schilderung von "schäumenden + kochenden" Stromschnellen und Wasserfällen innerhalb eines Satzes die Prosa der exakten Zahl mit der Poesie gewagter Adjektive zu einer rührenden Befangenheit, die es so vielleicht nie zuvor und nie wieder später in der Entdeckungsgeschichte gegeben hat. Selbst beim Anblick der weiten Prärie verbietet sich Lewis die reine Emotion, wenn er an einer Stelle notiert: "Junges Gras schoß biß zu einer Höhe von 4 Zoll auf und bot mir das Grün des Frühlings dar."
Meriwether Lewis und William Clark: "Tagebuch". Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Friedhelm Rathjen. Zweitausendeins, Frankfurt 2004. 656 S., geb., eine beigelegte Karte, 40,- [Euro].
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