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Mit sechzig noch so jung, unausgelastet trotz Ehefrau und Geliebter: Auch die fette Abfindung kann Lorenzo die Arbeit nicht ersetzten - er wird Känguruh.

Produktbeschreibung
Mit sechzig noch so jung, unausgelastet trotz Ehefrau und Geliebter: Auch die fette Abfindung kann Lorenzo die Arbeit nicht ersetzten - er wird Känguruh.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.1996

Der Künstler und sein Känguruh
Klassentreffen: Miguel Delibes belebt ein ziemlich altes Geschöpf

Mitunter kommt es vor, daß ein Dichter während der Arbeit an seinem Roman zu einem der erdachten Geschöpfe ein besonders inniges Verhältnis entwickelt. Ist die Arbeit am Werk abgeschlossen, trennen sich jedoch ihre Wege; der Dichter wendet sich Neuem zu, mag als Künstler reifen und auch als Mensch - oder einfach nur altern. Dieses Schicksal bleibt der Kunstfigur erspart. Unveränderlich besteht sie fort, ein Denkmal vergangenen Schaffens. Nur einer kann etwas daran ändern: der Künstler selbst.

Vor über dreißig Jahren äußerte der spanische Schriftsteller Miguel Delibes den Wunsch, mit seinem Geschöpf Lorenzo alt zu werden. In zwei Romanen, im "Tagebuch eines Jägers" (1955) und im "Tagebuch eines Emigranten" (1958), ließ er den jungen Pedell und leidenschaftlichen Jäger aus der kastilischen Provinz seinen Alltag beschreiben - in lebendiger, unverblümter, drastischer Sprache. Vor allem wegen der gekonnten Handhabung des volkstümlichen Jargons erhielt Delibes für das "Tagebuch eines Jägers" den Premio Nacional de Literatura.

Viel Zeit ist seitdem vergangen. Längst zählt Delibes zu den großen Schriftstellern unserer Tage, dessen Werk mit den höchsten Auszeichnungen dekoriert worden ist, zuletzt 1993 mit dem Premio Cervantes. Von Lorenzos weiterem Lebensweg dagegen erfuhr man nichts. Sollte er, wie er es sich einst erträumt hatte, Mitbesitzer eines Jagdreviers geworden sein? "Ich hätte eine vornehme Ausrüstung, einen Repetierer, Marke Jabalí, eine Meute von Settern und alle nur möglichen Bequemlichkeiten", schrieb er damals.

Jetzt aber wissen wir: Alles ist ganz anders gekommen. Im dritten Lorenzo-Tagebuch, das nun auf deutsch vorliegt, hat sich der Dichter seinen Wunsch doch noch erfüllt: Sein Geschöpf Lorenzo ist mit ihm gealtert. Mit der Jagd allerdings hat der inzwischen einundsechzig Jahre alte zweifache Großvater nichts mehr im Sinn; statt wie früher nach Wachteln und Rebhühnern zu pirschen, verbringt er die Tage mit Ehefrau Anita vor dem Fernsehgerät und schreibt Postkarten, um als Quiz-Kandidat ausgewählt zu werden. Aus dem Berufsleben hat er sich verabschiedet - und somit das "Vorzimmer des Todes" betreten, wie es Don Eloy ausdrücken würde, Delibes' Romanheld in "Das rote Blatt".

Naturgemäß fühlt sich Lorenzo dort nicht wohl, und so tritt er eine neue Stelle an. Als eine Art Babysitter (spanisch: canguro) begleitet er den achtzig Jahre alten Dichter Tadeo Piera auf seinen Spaziergängen - und erzählt davon im "Tagebuch eines alten Känguruhs"; ein reichlich irreführender deutscher Titel übrigens, mit dem der Verlag die Schlichtheit des Diario de un jubilado ("Tagebuch eines Pensionärs") zu übertrumpfen versucht. Für Lorenzo, obgleich er stets damit prahlt, zwanzig Jahre "an einer höheren Schule" gewesen zu sein (als Hausmeister, wie gesagt), eröffnet sich nun eine neue Welt: die der Gebildeten, der schönen Künste - und des Reichtums.

Abermals stellt Delibes Menschen verschiedener Schichten und Sprachen einander gegenüber. Den vornehmen Kreisen begegnet Lorenzo mit gewohnt naivem Blick und kaum zu bändigendem Mundwerk. In der Sprache freilich liegt ein Problem des Buches: Der Slang des kastilischen Proletariats mit seinen farbigen Umschreibungen, Wortspielen und Kraftausdrücken ist schlichtweg nicht ins Deutsche zu übertragen, ohne daß es gekünstelt oder vulgär wirkte. Der Übersetzer Michael Hofmann hat konsequenterweise gar nicht erst versucht, für jede Redewendung ein ähnlich kurioses Äquivalent zu finden - mit dem Ergebnis freilich, daß ein gut Teil des Witzes der Vorlage verlorengeht.

Auch so bleiben Unebenheiten. Wenn Lorenzo etwa erklärt, die Fernsehserien, denen er täglich gebannt folgt, seien historias de puta madre, so ist dies ein häufig gebrauchter Ausdruck von Begeisterung - in der Übersetzung dagegen ärgert er sich sinnentstellend über die "schmutzigen Geschichten". Das Wort cojones wird als "Hundlinge" übersetzt, und das zärtliche chavala ("Mädel"), mit dem Lorenzo seine Gattin bedenkt, mutiert zu "meine Angetraute" oder zur "besseren Hälfte".

Für das Unbehagen, das den Leser angesichts der Figur des Don Tadeo befällt, ist die Übersetzung freilich nicht verantwortlich. Gnadenlos skizziert Delibes das Bild eines unwürdigen Alten, als gelte es, mit einem ganzen Berufsstand abzurechnen: Piera ist überheblich, geltungssüchtig, doppelzüngig, ein schlechter Lyriker, eine abstoßende "alte Schwuchtel" (Lorenzo) mit Neigung zur Pädophilie. Selbst als Karikatur scheint dieser Dichter überzeichnet.

Bezogen schließlich die ersten Tagebücher aus der Banalität des Geschilderten ihre Authentizität, so liefert Delibes seinem Helden nun allerhand Aufregung: Die Liaison mit einer Hure versetzt Lorenzo in den Irrglauben, an Aids erkrankt zu sein, und verstrickt ihn dann in eine Erpressungsaffäre, in der er sich als Amateurdetektiv betätigt. Das Ganze endet mit einer Lösegeldübergabe zwischen zwei fahrenden Autos. Auch hier gilt: Weniger wäre mehr gewesen. Die Lektüre des jüngsten Teils von Delibes' Lorenzo-Trilogie erinnert an eine Erfahrung, die man von Klassentreffen kennt: Die Freude beim Wiedersehen mit alten Bekannten weicht, und am Ende bleibt die Ernüchterung. JÖRG THOMANN

Miguel Delibes: "Tagebuch eines alten Känguruhs". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Michael Hofmann. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1996. 140 S., geb., 29,80 DM.

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