Am Sonntag, dem 6. April 1919, fügt der Stockholmer Arzt Pontus Revinge seinen Aufzeichnungen letzte Notizen hinzu. Adressiert sind sie an Hjalmar Söderberg, den von ihm bewunderten Schriftsteller. Ihm hatte Revinge einst die Inspiration zu einem Roman geliefert. Wie man nämlich, ohne Verdacht zu erregen, einen Menschen mittels Zyankali töten kann. Er selbst ermordete später seinen verhassten Arbeitgeber und heiratete dessen Witwe. Damit aber setzt Revinge folgenschwere Ereignisse in Gang. Als plötzlich von einer Obduktion des Toten die Rede ist, packt ihn die Angst Mit diesem vielschichtigen Roman einer Obsession gelingt Kerstin Ekman ein großer psychologischer Roman, der in Schweden zum Bestseller wurde.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2011Die Vorzüge von Zyankali
Kerstin Ekman will in ihrem „Tagebuch eines Mörders“ Hjalmar Söderbergs Skandalroman „Glas“ (1905) übertreffen – aber das alte Buch bleibt lächelnd stärker
Das Schwedenbild der Deutschen gleicht einem Ikea-Schrank, in dem eine Leiche versteckt ist. Es ist aus Bauteilen zusammengebastelt, die von gefälschten Idyllen à la „Inga Lindström“ über den poetischen Kinder-Realismus Astrid Lindgrens bis zur depressiven Sozialkriminalistik Henning Mankells und deren härterer Variante bei Stieg Larsson reichen. Das fertige Möbel strahlt von außen Kinderzimmer-Behaglichkeit aus und birgt im Innern ein finsteres Geheimnis, zumindest aber die Dunkelheit langer nordischer Winternächte, die schon Strindbergs Figuren auf die Seele schlug.
Zum Bausatz gehört auch das Œuvre der mittlerweile 78-jährigen Kerstin Ekman, das nicht so leicht in eine Schublade passt. Die Autorin begann mit Kriminalromanen, wechselte dann ins dokumentarische und historische Genre, spezialisierte sich auf Frauenschicksale, übersetzte ihr Engagement für die Natur in märchenhafte Parabeln und beeindruckte zuletzt mit einer literarischen Wanderung durch Schwedens Wälder und den Wald als mythischen Ort. Sie sagte einmal, jedes ihrer Bücher sei vom Duft des Waldes durchtränkt.
Doch im Wald, da sind die Räuber, und so haben wir es auch hier eher mit dem düsteren Schrankinhalt als mit der freundlichen Fassade schwedischer Lebenswelten zu tun. Ihr jüngstes Werk führt in einen psychischen Innenraum, in den kein Lichtstrahl dringt, und diesmal muss sogar der Waldesduft draußen bleiben: Das „Tagebuch eines Mörders“ ist, als Hommage an Hjalmar Söderberg, den großen literarischen Porträtisten Stockholms im frühen zwanzigsten Jahrhundert, ein genuiner Stadtroman. Und es ist eine Kriminalphantasie, die den umstrittensten Roman Söderbergs ins Zentrum einer ambitionierten Versuchsanordnung stellt.
„Doktor Glas“ löste bei seinem Erscheinen 1905 eine heftige Kontroverse aus und vermag bis heute die Gemüter zu erregen. Ein Arzt wird zum Mörder an einem seiner Patienten, einem Pfarrer, der gewohnheitsmäßig seine Gattin vergewaltigt. Ein Mord aus Barmherzigkeit – nicht nur, denn der Doktor, eine gehemmte, triebgestörte Persönlichkeit, ist in die Frau verliebt. Die schwierige Frage nach Schuld oder Moral beantwortet Söderbergs Held in seinem Tagebuch mit der glasklaren Erkenntnis: „Es gibt keine Schuld.“ Da er als Mediziner den spurlosen Umgang mit Giften beherrscht, gibt es auch keine Aufdeckung des Verbrechens. Die gute Absicht des Mörders scheint, jedenfalls im Kontext des Ro-mans, die Tat zu rechtfertigen.
Das Denkexperiment, das am Beginn der literarischen Moderne in Schweden einen Skandal verursachte, inspirierte Kerstin Ekman nicht etwa zu einer Fortsetzung, sondern zu einer Art Rückblende: Sie erfand eine Figur, die, wäre sie real gewesen, als Vorbild für „Doktor Glas“ hätte dienen können. Der Arzt Pontus Revinge stammt aus ärmlichen Verhältnissen; seine Mutter hat einst Schulden mit Sex bezahlt, um ihm das Studium zu finanzieren. Jetzt lebt er von amtsärztlichen Untersuchungen an Prostituierten und nimmt Einblick in die Niederungen des Geschlechtslebens, was sein Verhältnis zu Frauen nachhaltig beschädigt hat. Er bewundert den Schriftsteller Hjalmar Söderberg wegen seines schonungslosen literarischen Umgangs mit dem Thema Sexualität, aber auch wegen seines eleganten Lebensstils.
Durch Zufall lernt er den Autor kennen. Söderberg macht Andeutungen über eine Romanidee und erkundigt sich nach den medizinischen Aspekten eines Zyankali-Mordes. Revinge, inzwischen Hilfsarzt bei seinem trunksüchtigen Kollegen Johannes Skade, arbeitet sich in die Materie ein, drängt dem Schriftsteller weitere Details auf – und bringt mit der nämlichen Methode seinen verhassten Arbeitgeber um.
Revinges Motive sind, anders als jene, die Söderberg dem etwas vornehmeren Tyko Glas andichtet, eine Mischung aus Größenwahn, Aufstiegssucht und Berechnung. Er profitiert von dem Mord, indem er sich über eine Zweckehe mit Skades Witwe dessen Praxis aneignet, wo die Patienten wenigstens reine Unterwäsche tragen. Auch kann er sich nun Skades heranwachsender Stieftochter Frida, dem einzigen weiblichen Wesen, das Gefühle in ihm weckt, auf onkelhafte Weise nähern.
Seine Bekenntnisse hält er, wie Söderbergs Protagonist, in einem Tagebuch fest. Die Autorin hat es in einem leicht historisierenden Schwedisch abgefasst, das die Übersetzung durch den altertümelnden Gebrauch des Dativ-e („im Amte“, „vor dem Sturme“) wiederzugeben sucht.
Statt der Spannung, die im konventionellen Krimi bei der Täter-Ermittlung entsteht, muss hier die quälende Ungewissheit des Mörders, ob jemand ihm auf die Schliche kommt, die Erzählung tragen. Da das Opfer ein unsympathischer Charakter ist, hält sich das Gerechtigkeitsverlangen des Lesers in Grenzen. Aber auch der Ich-Erzähler ist ein Ekel, und so interessant sein Psychogramm sein mag, so monoton wirkt dieser misanthropische Seelenhaushalt inmitten einer tristen sozialen Realität.
Kerstin Ekman bemängelt in ihrer Nachbemerkung, Söderbergs Roman spiele in einer „Glaswelt“ ohne Gestank, Lärm und Schmutz in einem „von den Turbulenzen der Gesellschaft entrückten Universum“. Sie konterkariert das mit wirklichkeitsnäheren Schilderungen, erzeugt dadurch jedoch eine literarisch unergiebige Totalfinsternis ohne Humor und Hoffnungsschimmer. Hjalmar Söderbergs Roman, der über das Elend einen kühlen Schleier ironischer Melancholie legt und das frühmoderne Stockholm leicht verfremdet und ästhetisiert ins Bild setzt, wird bis heute gelesen. Dass Kerstin Ekmans Replik die nächsten hundert Jahre überlebt, darf, bei allem Respekt, bezweifelt werden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
KERSTIN EKMAN: Tagebuch eines Mörders. Roman. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. Piper Verlag, München 2011. 246 Seiten, 17,95 Euro.
Der Arzt als Mörder – Hjalmar Söderbergs Roman „Doktor Glas“ machte 1905 Skandal. 1942 wurde er von Rune Carlsten verfilmt (links). Jetzt lässt Kerstin Ekman in ihrem „Tagebuch eines Mörders“ den Doktor Glas noch einmal auftreten.
Foto: oh
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Kerstin Ekman will in ihrem „Tagebuch eines Mörders“ Hjalmar Söderbergs Skandalroman „Glas“ (1905) übertreffen – aber das alte Buch bleibt lächelnd stärker
Das Schwedenbild der Deutschen gleicht einem Ikea-Schrank, in dem eine Leiche versteckt ist. Es ist aus Bauteilen zusammengebastelt, die von gefälschten Idyllen à la „Inga Lindström“ über den poetischen Kinder-Realismus Astrid Lindgrens bis zur depressiven Sozialkriminalistik Henning Mankells und deren härterer Variante bei Stieg Larsson reichen. Das fertige Möbel strahlt von außen Kinderzimmer-Behaglichkeit aus und birgt im Innern ein finsteres Geheimnis, zumindest aber die Dunkelheit langer nordischer Winternächte, die schon Strindbergs Figuren auf die Seele schlug.
Zum Bausatz gehört auch das Œuvre der mittlerweile 78-jährigen Kerstin Ekman, das nicht so leicht in eine Schublade passt. Die Autorin begann mit Kriminalromanen, wechselte dann ins dokumentarische und historische Genre, spezialisierte sich auf Frauenschicksale, übersetzte ihr Engagement für die Natur in märchenhafte Parabeln und beeindruckte zuletzt mit einer literarischen Wanderung durch Schwedens Wälder und den Wald als mythischen Ort. Sie sagte einmal, jedes ihrer Bücher sei vom Duft des Waldes durchtränkt.
Doch im Wald, da sind die Räuber, und so haben wir es auch hier eher mit dem düsteren Schrankinhalt als mit der freundlichen Fassade schwedischer Lebenswelten zu tun. Ihr jüngstes Werk führt in einen psychischen Innenraum, in den kein Lichtstrahl dringt, und diesmal muss sogar der Waldesduft draußen bleiben: Das „Tagebuch eines Mörders“ ist, als Hommage an Hjalmar Söderberg, den großen literarischen Porträtisten Stockholms im frühen zwanzigsten Jahrhundert, ein genuiner Stadtroman. Und es ist eine Kriminalphantasie, die den umstrittensten Roman Söderbergs ins Zentrum einer ambitionierten Versuchsanordnung stellt.
„Doktor Glas“ löste bei seinem Erscheinen 1905 eine heftige Kontroverse aus und vermag bis heute die Gemüter zu erregen. Ein Arzt wird zum Mörder an einem seiner Patienten, einem Pfarrer, der gewohnheitsmäßig seine Gattin vergewaltigt. Ein Mord aus Barmherzigkeit – nicht nur, denn der Doktor, eine gehemmte, triebgestörte Persönlichkeit, ist in die Frau verliebt. Die schwierige Frage nach Schuld oder Moral beantwortet Söderbergs Held in seinem Tagebuch mit der glasklaren Erkenntnis: „Es gibt keine Schuld.“ Da er als Mediziner den spurlosen Umgang mit Giften beherrscht, gibt es auch keine Aufdeckung des Verbrechens. Die gute Absicht des Mörders scheint, jedenfalls im Kontext des Ro-mans, die Tat zu rechtfertigen.
Das Denkexperiment, das am Beginn der literarischen Moderne in Schweden einen Skandal verursachte, inspirierte Kerstin Ekman nicht etwa zu einer Fortsetzung, sondern zu einer Art Rückblende: Sie erfand eine Figur, die, wäre sie real gewesen, als Vorbild für „Doktor Glas“ hätte dienen können. Der Arzt Pontus Revinge stammt aus ärmlichen Verhältnissen; seine Mutter hat einst Schulden mit Sex bezahlt, um ihm das Studium zu finanzieren. Jetzt lebt er von amtsärztlichen Untersuchungen an Prostituierten und nimmt Einblick in die Niederungen des Geschlechtslebens, was sein Verhältnis zu Frauen nachhaltig beschädigt hat. Er bewundert den Schriftsteller Hjalmar Söderberg wegen seines schonungslosen literarischen Umgangs mit dem Thema Sexualität, aber auch wegen seines eleganten Lebensstils.
Durch Zufall lernt er den Autor kennen. Söderberg macht Andeutungen über eine Romanidee und erkundigt sich nach den medizinischen Aspekten eines Zyankali-Mordes. Revinge, inzwischen Hilfsarzt bei seinem trunksüchtigen Kollegen Johannes Skade, arbeitet sich in die Materie ein, drängt dem Schriftsteller weitere Details auf – und bringt mit der nämlichen Methode seinen verhassten Arbeitgeber um.
Revinges Motive sind, anders als jene, die Söderberg dem etwas vornehmeren Tyko Glas andichtet, eine Mischung aus Größenwahn, Aufstiegssucht und Berechnung. Er profitiert von dem Mord, indem er sich über eine Zweckehe mit Skades Witwe dessen Praxis aneignet, wo die Patienten wenigstens reine Unterwäsche tragen. Auch kann er sich nun Skades heranwachsender Stieftochter Frida, dem einzigen weiblichen Wesen, das Gefühle in ihm weckt, auf onkelhafte Weise nähern.
Seine Bekenntnisse hält er, wie Söderbergs Protagonist, in einem Tagebuch fest. Die Autorin hat es in einem leicht historisierenden Schwedisch abgefasst, das die Übersetzung durch den altertümelnden Gebrauch des Dativ-e („im Amte“, „vor dem Sturme“) wiederzugeben sucht.
Statt der Spannung, die im konventionellen Krimi bei der Täter-Ermittlung entsteht, muss hier die quälende Ungewissheit des Mörders, ob jemand ihm auf die Schliche kommt, die Erzählung tragen. Da das Opfer ein unsympathischer Charakter ist, hält sich das Gerechtigkeitsverlangen des Lesers in Grenzen. Aber auch der Ich-Erzähler ist ein Ekel, und so interessant sein Psychogramm sein mag, so monoton wirkt dieser misanthropische Seelenhaushalt inmitten einer tristen sozialen Realität.
Kerstin Ekman bemängelt in ihrer Nachbemerkung, Söderbergs Roman spiele in einer „Glaswelt“ ohne Gestank, Lärm und Schmutz in einem „von den Turbulenzen der Gesellschaft entrückten Universum“. Sie konterkariert das mit wirklichkeitsnäheren Schilderungen, erzeugt dadurch jedoch eine literarisch unergiebige Totalfinsternis ohne Humor und Hoffnungsschimmer. Hjalmar Söderbergs Roman, der über das Elend einen kühlen Schleier ironischer Melancholie legt und das frühmoderne Stockholm leicht verfremdet und ästhetisiert ins Bild setzt, wird bis heute gelesen. Dass Kerstin Ekmans Replik die nächsten hundert Jahre überlebt, darf, bei allem Respekt, bezweifelt werden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
KERSTIN EKMAN: Tagebuch eines Mörders. Roman. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder. Piper Verlag, München 2011. 246 Seiten, 17,95 Euro.
Der Arzt als Mörder – Hjalmar Söderbergs Roman „Doktor Glas“ machte 1905 Skandal. 1942 wurde er von Rune Carlsten verfilmt (links). Jetzt lässt Kerstin Ekman in ihrem „Tagebuch eines Mörders“ den Doktor Glas noch einmal auftreten.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit ihrem jüngsten ins Deutsche übersetzten Roman legt die vielseitige Kerstin Ekman eine Würdigung des bis heute gelesenen Hjalmar Söderberg vor und schreibt eine Art "Rückblende" zu seinem Skandalroman "Doktor Glas" von 1905, erklärt Kristina Maidt-Zinke. Allerdings, daran lässt die Rezensentin keinen Zweifel, reicht ihre Geschichte des Arztes Pontus Revinge, der den schwedischen Autor für seine Romanrecherche über Zyankali informiert und mit dem gleichen Gift seinen Arbeitgeber ins Jenseits befördert, an ihr Vorbild nicht heran. Zu rabenschwarz wird in den Augen der Rezensentin die Psyche des unsympathischen Mörders und die ihn umgebende desolate Wirklichkeit gezeichnet, zudem die durchdringende Düsterkeit auf die Dauer auch "monoton" ist, wie sie beklagt. Im Gegensatz zu Söderbergs Roman kann sich Maidt-Zinke deshalb nicht vorstellen, dass die Geschichte von Ekman im nächsten Jahrhundert noch gelesen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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