Marc Augé beschreibt in diesem fiktiven Tagebuch fünf Monate im Leben eines "modernen Obdachlosen". Aufgrund der Zwänge moderner Arbeitsverhältnisse und steigender Mietpreise wächst in Großstädten eine Masse von neuen Heimatlosen heran, die sich, obwohl sie durchaus Geld haben, keine festen Wohnsitze mehr leisten können (oder wollen). Sie müssen mobil und flexibel sein, nehmen befristete Jobs für zu wenig Geld an und übernachten bei Freunden auf der Couch oder in ihrem Auto. Der Tagebuchschreiber bildet sich zwar ein, seine bisherige mentale Verfassung aufrechterhalten zu können, der Leser merkt aber schnell, dass mit dem Verlust der festen Behausung auch eine schleichende Erosion von Orientierung, Identität und sozialen Kompetenzen einhergeht.
Augé nennt die Form des Tagebuchs Ethnofiktion. "Candide oder Montesquieus Perser waren ethnofiktive Figuren, aber sie beobachteten die Welt, um sich darüber zu wundern. Die ethnofiktive Person, die sich heute selbst beobachtet, enthüllt dagegen den Wahnsinn der Welt."
Augé nennt die Form des Tagebuchs Ethnofiktion. "Candide oder Montesquieus Perser waren ethnofiktive Figuren, aber sie beobachteten die Welt, um sich darüber zu wundern. Die ethnofiktive Person, die sich heute selbst beobachtet, enthüllt dagegen den Wahnsinn der Welt."
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Marc Auges "Tagebuch eines Obdachlosen" hat es Sabine Vogel angetan - besonders die Ethnofiktion: die Konstruktion der Romanfigur mit sozialwissenschaftlichem Anspruch, beladen mit gesellschaftlichem Ballast. Die Rezensentin schildert, wie der Protagonist der Geschichte, ein Pensionär, seine Wohnung aufgeben muss und sich Schritt für Schritt von allen gesellschaftlichen Banden befreit. Sie sieht in den Orten, an denen sich sein Leben fortan abspielt Nicht-Orte, eigentlich nur Durchgangspunkte des täglichen Lebens. Im Drang zur Auflösung der eigenen Identität, im Brechen mit den persönlichen Fixpunkten, erkennt sie den Tod des Sozialen - festgehalten in einem Tagebuch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012Erzählung Warum nicht einfach eine Erzählung? Warum nennt Marc Augé sein "Tagebuch eines Obdachlosen" (Verlag C.H.Beck, 10,95 Euro) eine "Ethnofiktion"? Jedenfalls ist dies kein gefälschter Forschungsbericht und keine erfundene Sozialreportage. Es ist die in Tagebuchform präsentierte Erzählung von Henri Cariou, der allein lebt, erst von der ersten, dann von der zweiten Frau verlassen, in Paris, von einer nicht allzu schlechten Rente, die aber nicht mehr für die Miete reicht, weshalb er fortan auf der Rückbank seines Mercedes schläft. Man wird bei der Lektüre nervös, will an Henri rütteln, damit er vernünftig wird, die teure Stadt verlässt. Augé macht prekäre finanzielle Verhältnisse zum Thema, aber im Gegensatz dazu auch die Entfremdung des Menschen durch das Materielle. So ist das Prekäre an Henris neuem Leben auch ein bisschen das Abenteuer, nach dem er sich sehnt. Er wird zum Beobachter des öffentlichen Lebens, nur um sein eigenes Leben kümmert er sich nicht. "Liebe Deine Stadt!", ist die sozialromantische Botschaft dieses angenehm kurzen und durchaus betörenden Buches.
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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