Thomas Manns gewaltiges Tagebuch über Jahrzehnte seines Lebens, Leidens und Schaffens ist ein Text von bedeutender Eigenart. An keinem anderen Ort hat sich der Schriftsteller so unverstellt über sich selbst, aber auch über das eigene Werk ausgesprochen. Lange zögerte der Autor, dieses »Hauptwerk« der Nachwelt zu hinterlassen: gab es nicht Aufschluß über zuviel Intimes, Persönliches und Charakteristisches des Menschen? Von seinen Hypochondrien ist die Rede und von seiner Homoerotik, von den Lebensängsten des Verwöhnten und von den Affekten des Zeitbetrachters. Der Essay von Martin Meyer gibt eine analytische Lektüre der Tagebücher. Themen und Motive werden verknüpft, die oft in der Chronologie weit auseinanderliegen. So entsteht ein Porträt, das Thomas Manns Tagebuch als Zeugnis einer eindrucksvollen und beunruhigenden Ambivalenz ausweist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.1999Weltkomfort mit beheizter Geschichte
Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz: Thomas Mann und das späte Leid der Tagebücher · Von Thomas Wirtz
Als Thomas Mann im Jahr 1953 seinen 78. Geburtstag feiert, meißeln die Gratulanten ihre guten Wünsche in klassizistischen Marmor. Eine Schweizer Zeitung findet den endgültigen Vergleich: "Es ist das erstaunlichste Leben unseres Jahrhunderts, jenem Goethes vergleichbar." Schamröte durchzieht nicht das marmorne Ädergeflecht, und so überträgt der Gefeierte diesen Satz umstandslos in sein Tagebuch, hängt ihm aber einen lakonischen Kommentar an: "Fiel mir auch schon auf." Fünf Worte, in denen Leiden und Größe Thomas Manns sich so vermischen, dass sie am Ende eins geworden sind. Denn nur Goethe kann dem Lübecker Großbürger für einen Vergleich genügen, aber auch nur ein Schatten werfender Vergleich seine Einmaligkeit ausmachen - und deshalb widerrufen. Thomas Mann ist ein Zuspätgeborener, eine abgeleitete Größe, die nur auf den geliehenen Krücken eines Vorbilds ihren Weg durch die Moderne nimmt. So wie Goethe zu sein heißt weniger als Goethe sein, denn Urheberschaft ist unteilbar. Thomas Manns Kommentar rettet sich deshalb in einen ernsten Witz, der dem Gruseln vor einem Zerrspiegel ähnelt. Der anständig gekleidete Bürger Mann schrumpft als Widergänger zur traurigen Gestalt.
Nach dem Ersten Weltkrieg tastet der Bürger über einen schwankenden Lebensgrund, und Martin Meyer bestätigt seine Unsicherheit mit seismographischen Daten. Mit "Tagebuch und spätes Leid" hat er eine in jedem Sinne bewegende Studie vorgelegt, die in der Trauer über den Verfall einer gesellschaftlichen Familie nicht ihre Beobachtungsschärfe verliert. Es sind Gedanken zum letzten Bürgergeleit, die dem Toten mit Respekt folgen, die sentimentalische Verklärungsträne aber ungeweint lassen. Erst auf den letzten Seiten des Buches findet sich ein Lob, das Thomas Mann angenommen hätte, ohne dass er darüber - wie wohl über alle Selbsterkenntnis - glücklich gewesen wäre: Mann eigne, so Meyer, ein "Erzählen, wie trotz allem nur er es beherrscht: wo das Frivole sich der Bildung einnistet". Zweideutiger kann Anerkennung nicht sein. Denn wo das Frivole sich einschleicht, zahlt alleine der Wirt die Rechnung, das Anzügliche macht den Anzug des Bürgers fadenscheinig. Noch im Lob für den Erzähler nistet die leise Verratsklage, mehr Trauerarbeit als Vorwurf.
In den Tagebüchern findet Martin Meyer die dünnste Schale um ein Werk und seinen Autor, die beide unter dem Verdacht der Kernlosigkeit standen. Während die Romane ihre Erzählwelt virtuos konstruieren und mit ausladender Geste das Panorama subtiler Untergänge aufstellen, schwächt das Tagebuch schon als Gattung den langen Atem. Thomas Manns Tagebücher mit ihren zehn Bänden sind umfangreich, aber eben nicht monumental; sie sind beharrlich im Kleinen, ohne souverän das Ganze zu überschauen. Meyer spricht von "Miniaturen der Selbstentfremdung", die Tag für Tag die Seiten füllen, ein diszipliniertes Abbruchunternehmen am Denkmal. Denn die Strenge, mit der Thomas Mann seinen öffentlichen Auftritten die definitive Bügelfalte einpresst, entlastet sich nur um so mehr in den formlosen Notaten des Privaten. Hier heben die Widrigkeiten des Alltags - der böige Wind und die erotische Flaute - zum vielstrophigen Klagegesang an, hier zeichnet sich der Meister der großen Form als Leidender am Detail. Der Maßanzug des Werks entsteht unter den Nadelstichen des Alltags.
Martin Meyer weiß, dass Authentizität auch in diesen Heften nicht zu haben ist. Keine eigentlichere Wahrheit, sondern nur die dunkle Kehrseite der Werkmünze ist hier auszumachen. Beide zusammen ergeben den Preis, den Thomas Mann für seinen Ruhm bezahlt hat. Wie wenig ihm an wirklicher Entblößung gelegen war, zeigt die Vernichtung der Lebensjahre zwischen 1922 und 1932, als er im amerikanischen Exil das Autodafé eines ganzen Tagebuch-Jahrzehnts veranstaltet. Und auch der Auszug "Leiden an Deutschland", 1946 im Privatdruck erschienen, hat Seelenfalten glattgebügelt: Antisemitisches bleibt ungedruckt, politische Einsichten werden vordatiert, um die private Person nahestmöglich an die öffentliche heranzuführen. Die Verkleidungslust endet nicht zwischen Tagebuchdeckeln; auch die Depression ist ein Auftritt, der Beifall verdienen soll.
Thomas Mann hat die Vertreibung aus Deutschland im Jahr 1933 als "schweren Stil- und Schicksalsfehler" erfahren. Mit dem zurückgelassenen Haus an der Poschingerstraße in München hat seine gesamte Existenz ihre Stütze verloren; dem unbehausten Repräsentanten ist eine Welt weggebrochen. In den folgenden Jahren baut er sich zwischen der Schweiz und den Staaten die Wohnkulisse wie einen bürgerlichen Wanderzirkus stets gleich auf. Das Interieur ist eine schützende Höhle vor politischen Unwettern, die korrekte Lage des Schreibzeugs und die Kissenfülle in der Leseecke umfangen den erschütterten Charakter. Martin Meyer begleitet diese Umzüge mit Sorgfalt, weil in den geretteten Dingen die Biographie mit eingeschlossen ist: das Inventar als Personenbeschreibung. Wenn Thomas Mann das aufgestellte Grammofon mit einem Tagebuchgruß liebkost, dann nimmt sein Lebensbeschreiber dies mit traurigem Respekt zur Kenntnis und folgert, dass hier ein Bürger in die unsichere Mobilität geworfen wurde. Meyer selbst schmerzt Thomas Manns Anhänglichkeit an den "sanften Pudel" Niko, dieses sentimentalische Zerfließen ins Organische, weil es eine Labilität jenseits des Persönlichen anzeigt. Denn der Typus des Bürgers ist auf den Hund gekommen, die Politik führt ihn an der langen Leine.
Das unwillig auferlegte Exil erfüllt Thomas Mann mit Scham. Schon die Überfahrt in die Staaten ist ein narzisstisches Desaster, weil der Kapitän es an gebührender Aufmerksamkeit fehlen lässt: "Ich kann mich gewisser Empfindungen der Beschämung angesichts der herrschenden völligen Unbekanntschaft mit meiner Existenz nicht entschlagen." Dieser Bürger kann sich das Inkognito eines reisenden Prinzen nicht erlauben, weil er vom umgangsförmlich gemilderten Applaus lebt. Äußerliches muss den Schrecken innerer Leere mildern. Thomas Mann aber ist zu klug, um sich in diesem Beifall zufrieden einrichten zu können. Anfang 1935 notiert er eine vernichtende Einsicht: "Moralisch und kulturell gewinnt meinesgleichen bei zunehmender Applanierung etwas einsam Ragendes." Seine Größe verdankt sich vor allem der Kleinwüchsigkeit der Zeit. Und was ist der Beifall eines Publikums wert, das in seiner sittlichen Gedrücktheit gar nicht zur Höhe des Stils aufschauen kann? Thomas Mann lebt von einer Zustimmung, die wertlos ist, er spürt das Unbehagen an einer Kultur, deren Zeit läuft.
Martin Meyer begleitet den Bürger auf seinen Wegen durchs Exil, weil er den politischen Kommentator Thomas Mann kennen lernen will. Und so muss er erfahren, dass der Widerstand gegen Hitler nur widerwillig beginnt. Die Tochter Erika und die Gleichgültigkeit der neuen Machthaber bedrängen ihn so lange, bis er die Rolle des guten Humanisten nicht mehr hinausschieben kann. Doch unter den wohlanständig klingenden Reden läuft das Tagebuch misstönend weiter. Hier nickt Mann dem Nationalsozialismus als einer "enthusiastischen, funkensprühenden Revolution" verständnisvoll zu, mokiert er sich über das amerikanische "Gangsterland" und misstraut selbst der Schweiz. Die geschichtsphilosophische Schwärze Spenglers färbt seinen Nihilismus ein, die Streitgespräche des "Zauberberg" wiederholt er im Sowohl-als-auch der eigenen Meinungslosigkeit. Thomas Mann ist kein politischer Kopf, sondern ein bürgerlicher Körper auf der Suche nach "Weltkomfort". Die "Auflösung ins Planetarische", von der das Tagebuch träumt, wird öffentlich, wenn Mann die Ankunft des Kultursozialismus verspricht. Dies ist seine Version eines endzeitlichen Hazardspiels, eine Selbstanästhesie im Auslaufen der Geschichte. Der Bürger ist der Unruhe überdrüssig und entledigt sich der Entscheidung im politischen Dornröschenschlaf.
Die Verteidigung des Liberalismus gegen seinen bürgerlichen Verächter: Martin Meyer hat seine eigene Porträtstudie geschmerzt. Im Tagebuch hat er nachlesen müssen, wie eine untergehende Welt sich an die Form verliert. Thomas Mann trifft keine Verachtung, weil er nur das Symptom dieser bürgerlichen Krankheit zum Tode ist. Er selbst nannte sein Werk "einen Notbehelf - mit einigem Kulturreiz". Diese Ironie trifft nicht Meyers Studie. Vielmehr ist ihr Erfolg, sich den Anspruch auf Entscheidung vorzubehalten, ohne den ruhebedürftigen Bürger zu denunzieren. Meyer hält seinem Thomas Mann die Treue wie einer verlorenen Chance.
Martin Meyer: "Tagebuch und spätes Leid. Über Thomas Mann". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1999. 300 S., brosch., 39,80 DM.
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Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz: Thomas Mann und das späte Leid der Tagebücher · Von Thomas Wirtz
Als Thomas Mann im Jahr 1953 seinen 78. Geburtstag feiert, meißeln die Gratulanten ihre guten Wünsche in klassizistischen Marmor. Eine Schweizer Zeitung findet den endgültigen Vergleich: "Es ist das erstaunlichste Leben unseres Jahrhunderts, jenem Goethes vergleichbar." Schamröte durchzieht nicht das marmorne Ädergeflecht, und so überträgt der Gefeierte diesen Satz umstandslos in sein Tagebuch, hängt ihm aber einen lakonischen Kommentar an: "Fiel mir auch schon auf." Fünf Worte, in denen Leiden und Größe Thomas Manns sich so vermischen, dass sie am Ende eins geworden sind. Denn nur Goethe kann dem Lübecker Großbürger für einen Vergleich genügen, aber auch nur ein Schatten werfender Vergleich seine Einmaligkeit ausmachen - und deshalb widerrufen. Thomas Mann ist ein Zuspätgeborener, eine abgeleitete Größe, die nur auf den geliehenen Krücken eines Vorbilds ihren Weg durch die Moderne nimmt. So wie Goethe zu sein heißt weniger als Goethe sein, denn Urheberschaft ist unteilbar. Thomas Manns Kommentar rettet sich deshalb in einen ernsten Witz, der dem Gruseln vor einem Zerrspiegel ähnelt. Der anständig gekleidete Bürger Mann schrumpft als Widergänger zur traurigen Gestalt.
Nach dem Ersten Weltkrieg tastet der Bürger über einen schwankenden Lebensgrund, und Martin Meyer bestätigt seine Unsicherheit mit seismographischen Daten. Mit "Tagebuch und spätes Leid" hat er eine in jedem Sinne bewegende Studie vorgelegt, die in der Trauer über den Verfall einer gesellschaftlichen Familie nicht ihre Beobachtungsschärfe verliert. Es sind Gedanken zum letzten Bürgergeleit, die dem Toten mit Respekt folgen, die sentimentalische Verklärungsträne aber ungeweint lassen. Erst auf den letzten Seiten des Buches findet sich ein Lob, das Thomas Mann angenommen hätte, ohne dass er darüber - wie wohl über alle Selbsterkenntnis - glücklich gewesen wäre: Mann eigne, so Meyer, ein "Erzählen, wie trotz allem nur er es beherrscht: wo das Frivole sich der Bildung einnistet". Zweideutiger kann Anerkennung nicht sein. Denn wo das Frivole sich einschleicht, zahlt alleine der Wirt die Rechnung, das Anzügliche macht den Anzug des Bürgers fadenscheinig. Noch im Lob für den Erzähler nistet die leise Verratsklage, mehr Trauerarbeit als Vorwurf.
In den Tagebüchern findet Martin Meyer die dünnste Schale um ein Werk und seinen Autor, die beide unter dem Verdacht der Kernlosigkeit standen. Während die Romane ihre Erzählwelt virtuos konstruieren und mit ausladender Geste das Panorama subtiler Untergänge aufstellen, schwächt das Tagebuch schon als Gattung den langen Atem. Thomas Manns Tagebücher mit ihren zehn Bänden sind umfangreich, aber eben nicht monumental; sie sind beharrlich im Kleinen, ohne souverän das Ganze zu überschauen. Meyer spricht von "Miniaturen der Selbstentfremdung", die Tag für Tag die Seiten füllen, ein diszipliniertes Abbruchunternehmen am Denkmal. Denn die Strenge, mit der Thomas Mann seinen öffentlichen Auftritten die definitive Bügelfalte einpresst, entlastet sich nur um so mehr in den formlosen Notaten des Privaten. Hier heben die Widrigkeiten des Alltags - der böige Wind und die erotische Flaute - zum vielstrophigen Klagegesang an, hier zeichnet sich der Meister der großen Form als Leidender am Detail. Der Maßanzug des Werks entsteht unter den Nadelstichen des Alltags.
Martin Meyer weiß, dass Authentizität auch in diesen Heften nicht zu haben ist. Keine eigentlichere Wahrheit, sondern nur die dunkle Kehrseite der Werkmünze ist hier auszumachen. Beide zusammen ergeben den Preis, den Thomas Mann für seinen Ruhm bezahlt hat. Wie wenig ihm an wirklicher Entblößung gelegen war, zeigt die Vernichtung der Lebensjahre zwischen 1922 und 1932, als er im amerikanischen Exil das Autodafé eines ganzen Tagebuch-Jahrzehnts veranstaltet. Und auch der Auszug "Leiden an Deutschland", 1946 im Privatdruck erschienen, hat Seelenfalten glattgebügelt: Antisemitisches bleibt ungedruckt, politische Einsichten werden vordatiert, um die private Person nahestmöglich an die öffentliche heranzuführen. Die Verkleidungslust endet nicht zwischen Tagebuchdeckeln; auch die Depression ist ein Auftritt, der Beifall verdienen soll.
Thomas Mann hat die Vertreibung aus Deutschland im Jahr 1933 als "schweren Stil- und Schicksalsfehler" erfahren. Mit dem zurückgelassenen Haus an der Poschingerstraße in München hat seine gesamte Existenz ihre Stütze verloren; dem unbehausten Repräsentanten ist eine Welt weggebrochen. In den folgenden Jahren baut er sich zwischen der Schweiz und den Staaten die Wohnkulisse wie einen bürgerlichen Wanderzirkus stets gleich auf. Das Interieur ist eine schützende Höhle vor politischen Unwettern, die korrekte Lage des Schreibzeugs und die Kissenfülle in der Leseecke umfangen den erschütterten Charakter. Martin Meyer begleitet diese Umzüge mit Sorgfalt, weil in den geretteten Dingen die Biographie mit eingeschlossen ist: das Inventar als Personenbeschreibung. Wenn Thomas Mann das aufgestellte Grammofon mit einem Tagebuchgruß liebkost, dann nimmt sein Lebensbeschreiber dies mit traurigem Respekt zur Kenntnis und folgert, dass hier ein Bürger in die unsichere Mobilität geworfen wurde. Meyer selbst schmerzt Thomas Manns Anhänglichkeit an den "sanften Pudel" Niko, dieses sentimentalische Zerfließen ins Organische, weil es eine Labilität jenseits des Persönlichen anzeigt. Denn der Typus des Bürgers ist auf den Hund gekommen, die Politik führt ihn an der langen Leine.
Das unwillig auferlegte Exil erfüllt Thomas Mann mit Scham. Schon die Überfahrt in die Staaten ist ein narzisstisches Desaster, weil der Kapitän es an gebührender Aufmerksamkeit fehlen lässt: "Ich kann mich gewisser Empfindungen der Beschämung angesichts der herrschenden völligen Unbekanntschaft mit meiner Existenz nicht entschlagen." Dieser Bürger kann sich das Inkognito eines reisenden Prinzen nicht erlauben, weil er vom umgangsförmlich gemilderten Applaus lebt. Äußerliches muss den Schrecken innerer Leere mildern. Thomas Mann aber ist zu klug, um sich in diesem Beifall zufrieden einrichten zu können. Anfang 1935 notiert er eine vernichtende Einsicht: "Moralisch und kulturell gewinnt meinesgleichen bei zunehmender Applanierung etwas einsam Ragendes." Seine Größe verdankt sich vor allem der Kleinwüchsigkeit der Zeit. Und was ist der Beifall eines Publikums wert, das in seiner sittlichen Gedrücktheit gar nicht zur Höhe des Stils aufschauen kann? Thomas Mann lebt von einer Zustimmung, die wertlos ist, er spürt das Unbehagen an einer Kultur, deren Zeit läuft.
Martin Meyer begleitet den Bürger auf seinen Wegen durchs Exil, weil er den politischen Kommentator Thomas Mann kennen lernen will. Und so muss er erfahren, dass der Widerstand gegen Hitler nur widerwillig beginnt. Die Tochter Erika und die Gleichgültigkeit der neuen Machthaber bedrängen ihn so lange, bis er die Rolle des guten Humanisten nicht mehr hinausschieben kann. Doch unter den wohlanständig klingenden Reden läuft das Tagebuch misstönend weiter. Hier nickt Mann dem Nationalsozialismus als einer "enthusiastischen, funkensprühenden Revolution" verständnisvoll zu, mokiert er sich über das amerikanische "Gangsterland" und misstraut selbst der Schweiz. Die geschichtsphilosophische Schwärze Spenglers färbt seinen Nihilismus ein, die Streitgespräche des "Zauberberg" wiederholt er im Sowohl-als-auch der eigenen Meinungslosigkeit. Thomas Mann ist kein politischer Kopf, sondern ein bürgerlicher Körper auf der Suche nach "Weltkomfort". Die "Auflösung ins Planetarische", von der das Tagebuch träumt, wird öffentlich, wenn Mann die Ankunft des Kultursozialismus verspricht. Dies ist seine Version eines endzeitlichen Hazardspiels, eine Selbstanästhesie im Auslaufen der Geschichte. Der Bürger ist der Unruhe überdrüssig und entledigt sich der Entscheidung im politischen Dornröschenschlaf.
Die Verteidigung des Liberalismus gegen seinen bürgerlichen Verächter: Martin Meyer hat seine eigene Porträtstudie geschmerzt. Im Tagebuch hat er nachlesen müssen, wie eine untergehende Welt sich an die Form verliert. Thomas Mann trifft keine Verachtung, weil er nur das Symptom dieser bürgerlichen Krankheit zum Tode ist. Er selbst nannte sein Werk "einen Notbehelf - mit einigem Kulturreiz". Diese Ironie trifft nicht Meyers Studie. Vielmehr ist ihr Erfolg, sich den Anspruch auf Entscheidung vorzubehalten, ohne den ruhebedürftigen Bürger zu denunzieren. Meyer hält seinem Thomas Mann die Treue wie einer verlorenen Chance.
Martin Meyer: "Tagebuch und spätes Leid. Über Thomas Mann". Carl Hanser Verlag, München und Wien 1999. 300 S., brosch., 39,80 DM.
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