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Zum 100. Geburtstag Heimito von Doderers (1896-1996) legt der Beck Verlag die Tagebücher des bedeutenden österrreischen Erzählers aus den Jahren 1920 bis 1939 vor. Die Tagebücher bieten einen literarischen, aber insbesondere auch biographischen Kommentar zu Doderers Frühwerk und stellen Marterialien zu strittigen Phasen aus dem privaten und politischen Leben des Autors bereit.

Produktbeschreibung
Zum 100. Geburtstag Heimito von Doderers (1896-1996) legt der Beck Verlag die Tagebücher des bedeutenden österrreischen Erzählers aus den Jahren 1920 bis 1939 vor. Die Tagebücher bieten einen literarischen, aber insbesondere auch biographischen Kommentar zu Doderers Frühwerk und stellen Marterialien zu strittigen Phasen aus dem privaten und politischen Leben des Autors bereit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.1996

Der Abenteurer der Tugend
Roman einer Menschwerdung: Heimito von Doderer in seinen Tagebüchern bis 1939 und in einer neuen Biographie · Von Ulrich Weinzierl

Nach Aphorismus klingt die epische Ouvertüre, doch sie ist zuvörderst Bekenntnis in eigener Sache: "Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will." Als Heimito von Doderers Kriminalroman einer Seele, "Ein Mord den jeder begeht", im Herbst 1938 in München erschien, hatte der gelernte Fatalist die Erfahrung vermeintlicher Unentrinnbarkeit seines Schicksals bis zum Überdruß gemacht. Wie sehr, beweist nun - zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags - die erste und (ungeachtet des gediegenen Rowohlt-Bändchens von Lutz-W. Wolff) auch für die Zukunft gültige Doderer-Biographie. Denn genauer, kritischer und trauriger kann man die Abgründe und Nachtseiten eines Homme de lettres nicht darstellen, als es Wolfgang Fleischer getan hat, weiland "Secretarius" des von ihm verehrten Meisters.

Kein Wunder, daß Fleischers Studie mit einer Warnung anhebt: "Diese Lebensgeschichte ist das klare Gegenteil dessen, was Heimito von Doderer über sich geschrieben hätte wissen wollen." Der hat bekanntlich den Schriftsteller äußerst öffentlichkeitsscheu definiert: "Nichts ist er, garnichts, und man suche nichts hinter ihm. Er ist ein Herr unbestimmbaren Alters, der einem dann und wann im Treppenhause begegnet." Die Maxime war, versteht sich, Strategie: Im Werk sollte die Person völlig aufgehen, um - solcherart von irdischen Schlacken gereinigt - strahlend wiederaufzuerstehen. Hatte einer der großen Prosaisten und Romanciers unseres Jahrhunderts so viel zu verbergen? Aus sittsamer Perspektive gewiß mancherlei und einiges in puncto politischer Korrektheit. Wichtiger ist indes anderes gewesen: Heimito von Doderer hat sich, vielleicht sogar vom ersten bewußten Augenblick an und sicher bis seinem letzten, nicht gemocht. Er verneinte sich radikaler, als es mißgünstige Zeitgenossen oder Nachgeborene konnten und könnten. Fleischer erzählt "Das verleugnete Leben" Doderers. Der Titel schmeckt nach bitterer Wahrheit. Daß eingeschworene "Heimitisten" das ungeschminkte Porträt ihres Idols nicht unbedingt schätzen dürften, liegt auf der Hand. Gemildert wird die Anstößigkeit durch die ungekürzte Veröffentlichung der frühen, die Jahre 1920 bis 1939 umfassenden Tagebücher Doderers: Unübersehbar sind darin die beiden heiklen Bereiche seiner Existenz, das Sexuelle und das Ideologische.

Franz Carl Heimito von Doderer wuchs in finanziell denkbar günstigen Verhältnissen heran. Als führender Bauunternehmer der Donaumonarchie hatte der Vater, Wilhelm Ritter von Doderer, ein gewaltiges Vermögen angehäuft, gemessen an heutiger Kaufkraft betrug es anno 1914 umgerechnet rund siebzig Millionen Mark. Wiewohl der kakanische Patriot und Patriarch, nach Rothschild einer der einflußreichsten Aktionäre der "Creditanstalt", all sein Geld in wertlose Kriegsanleihen steckte, bewirkte das keineswegs den Ruin der Familie: Die Mitgift von Heimitos Mutter war rentabel angelegt. Bis ins fortgeschrittene Erwachsenenstadium blieb das jüngste von sechs Kindern auf demütigende Weise von Zuwendungen der Eltern abhängig. Und der schriftstellerische Ehrgeiz des Spätlings stieß daheim bestenfalls auf Unverständnis.

Vier Jahre, von 1916 bis 1920, hat Doderer in russischer Kriegsgefangenschaft zugebracht; dort - im fernen Osten Sibiriens - reifte der Entschluß, Dichter zu werden. Die militärische Gentleman-Haft bedeutete ihm eine Art Erlösung, zumindest Befreiung von familiärem Druck, im Grunde also Urlaub vom Leben. Er fühlte sich wohl unter den Offizierskameraden, bescherte ihm doch der Zufall Lagergemeinschaft mit seinem Hauslehrer Albrecht Reif, der den fünfzehnjährigen Heimo einst verführt hatte. Die Atmosphäre künstlerisch angehauchter Männerbündelei beflügelte nicht nur ihn, heimliche Freundschaften und Rivalitäten würzten den Alltag auf der Insel der seligen Häftlinge. Trotz mehrerer Beziehungen zu Männern dürfte Fleischers Diagnose zutreffen: Heimito von Doderer war homoerotisch und zugleich heterosexuell veranlagt.

Geschlechtliche Vorlieben und Obsessionen machten ihm schwer zu schaffen. Ins geschrumpfte Österreich zurückgekehrt, nahm er die Tagebucheintragungen unverzüglich auf, weil ein "solches fortlaufendes ,Journal'" für ihn "notwendig" sei. Notwendig nicht zuletzt als Mittel der Disziplinierung. Sein "Sauberkeitsbedürfnis" förderte das dauernde "Herumwühlen im eigenen Dreck" und umgekehrt, er litt unter "sexuellen Krisen und complicationen wie ein Frauenzimmer". Der Mittzwanziger Heimito Doderer, Student der Geschichte und Psychologie an der Universität Wien, ist zeitweilig offenbar Zwangsonanist mit zugehörigen Gewissensqualen gewesen. Doderer war der rebellische Sklave seiner Triebe, selten deren Herr. Außerdem bemerkte der verpatzte Asket in sich die Neigung zu Sadismus und Voyeurismus. Bereits den Gymnasiasten hatte die Schaulust gepackt, das "Hineinsehen in die völlige Intimität einer Fremden". Was er dann in heiterster Sublimationsform als Schnurren des pensionierten Amtsrates Julius Zihal in den "Erleuchteten Fenstern" zu Papier brachte, war aus nicht eben befriedigendem Erleben geschöpft. Der Pedant im Observatorium der Lüste mußte sich auf der nächtlichen Jagd häufig mit "ordinären Weibern" zufriedengeben: "Fast nur Hässliches kommt so in meine Seele, die Abende werden zerrissen und zerstört." Im Gegensatz zu seinem skurrilen Helden vermochte ihm die Dienstpragmatik des k. k. Finanzministeriums nicht zu helfen, kalte Duschen und ein Vollbad in Selbstvorwürfen hatten geringen therapeutischen Effekt.

Näher betrachtet, enthält diese vita sexualis keine Marotte, die in Doderers OEuvre nicht zu entdecken wäre - weder die berüchtigten "Dicken Damen" sind aus der Wiener Luft gegriffen, sie wurden in der Tat mittels Annoncen akquiriert, noch die mittelalterlich anmutenden Folterkammerspiele. Eine Emmy von Novotny, feist und kuhäugig, agierte als williges Opfer in seinen Inszenierungen der Perversion. "Man könnte", seufzte der Täter 1924, "diese Aufzeichnungen bald ,Tagebuch eines Sadisten' nennen!" Auch die bieder-herzensgute zweite Gattin, Emma Thoma aus Landshut, sollte sich an einer nach präzisen Anweisungen errichteten Schandsäule von ihrem Gemahl, dem bösen "Eichkätzl", auspeitschen lassen - gottlob mit samtenen Riemen.

Dorothea Zeemann, die letzte und gleichsam offiziöse Geliebte, hat seinerzeit in ihren Memoiren nicht frei von nachgetragener Ranküne davon berichtet. Zweifellos aber verkörperte ihm "Heimita" das Liebesideal seiner späten Jahre: Die reife, "pöpschige Venus" war von barocker Statur, in poeticis eine gelehrige Schülerin und wurde darum Tochter und Sexualobjekt in einem.

Schon früh hat Heimito von Doderer ein Ziel verfolgt: seine Menschwerdung über den Umweg der Künstlerschaft. Ein paar Jahrgänge der Notate versah er mit dem Motto "Wahrheit und Ausdruck!", eine weitere Devise lautete: "Lauschen! Nicht lärmen!" Mönchische Regeln verbürgten dem Protestanten das Heil - Heilung vom gehaßten Selbst. Auf bedrückende Weise gescheitert ist der Erdenpilger Doderer dabei mit seiner langjährigen Gefährtin und ersten Ehefrau, Gusti Hasterlik. Aus weltoffen-kunstsinnigem, assimiliert jüdischem Milieu stammend, war sie ihm ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Seine Tendenzen zur auch seelischen Grausamkeit wies sie entschieden zurück. Momente der Harmonie wechselten mit peinigenden Konflikten, lassen konnte er von ihr nicht. Ebensowenig war er imstand, auf Ausschweifungen zu verzichten: Der Hypochonder Doderer infizierte Gusti mit Tripper und besaß die Unverfrorenheit, die schwererkrankte Freundin der Untreue zu beschuldigen. Die Hochzeit besiegelte nur das Ende einer beinah unendlichen Affäre. Ausgerechnet in jenen Monaten, da die von Nazischergen Verfolgte seine Einwilligung zur Emigration brauchte, erpreßte er die Scheidung. In der "Strudlhofstiege" und in den "Dämonen" hat er Gusti Hasterlik, mit den Figuren der Grete Siebenschein und Camy von Schlaggenberg, ein Denkmal gesetzt und verschlüsselte Abbitte geleistet.

Die Privatkatastrophe zeitigte obendrein eine politische. Hatte Doderer anfangs den "bornierten Antisemitismus" seiner Schwester Astri verworfen, so geriet er zusehends in die Fänge rassistischen Ressentiments. "Ich bin nicht die arische Gans, die Dir erwiesenermassen doch lieber ist", bleute ihm Gusti Hasterlik 1926 ein. Erfolglosigkeit zermürbte den untauglichen Bürger Doderer bis zur Paranoia: "Was hab' ich in Wien? Kaum eine Redaktion, kaum einen Verleger mehr. Fast alles jüdisch", räsonierte er 1932. Am 1. April 1933 trat er der NSDAP bei, aus der er - entgegen frommen Legenden - nie ausgetreten ist, die Mitgliedschaft ruhte während des Dienstes in der Wehrmacht. Mit feschen Freunden und Zechkumpanen war er eines Sinnes, der Spitzname "Nobel-Standarte" behagte den Döblinger Herrschaften durchaus.

1936 übersiedelte der braune Bohemien nach Dachau, das Konzentrationslager in der Nachbarschaft des "sauberen Städtchens" blendete er aus seinem Blickwinkel aus, dafür exzerpierte er Goebbels-Reden und gelangte zur bemerkenswerten Erkenntnis: "Der Grundbau deutschen Wesens ist der Hervorbringung des nationalen Chauvinismus nicht günstig." Der Apperzeptionsverweigerer Heimito von Doderer war einerseits in die von ihm nachträglich so verachtete "zweite Wirklichkeit" gefallen, zum anderen biederte er sich den Machthabern ohne Hemmungen an: Dem Manuskript der "Dämonen" verpaßte er den konjunkturträchtigen Titel "Die Dämonen der Ostmark".

Allein, die Bemühungen fruchteten nichts, ein völkischer Autor konnte aus Doderer beim besten schlechten Willen nicht werden. Seine Sprache, "die Kernfestung, die Central-Zitadelle im Leben des Schriftstellers", blieb unversehrt. Jegliche "Kraft durch Freude"-Gesinnung widerte ihn an, und binnen Kürze fühlte er sich als Fremder, als "Ausländer" ("Deo gratias") im Dritten Reich. Gestärkt von Misanthropie, die eines Thomas Bernhard würdig wäre, schied er aus dem gesunden Volkskörper aus. Die "bayerische Bevölkerung", verkündet das Tagebuch 1937, "zerfällt in zwei Teile, einen kleineren und einen weit grösseren. Den ersten bilden die, welche von Beruf Metzger sind. Den zweiten, grösseren, jene, die nur so aussehen."

Doderers innere Entfernung vom Nationalsozialismus, sein Rückzug aus dem Bezirk der Ideologien, nachdem er vom "morbus politicus" genesen war, schlug sich nach außen hin mehrfach nieder. 1939 suchte er um ein Visum für die Vereinigten Staaten an, 1940 bekehrte er sich zum Katholizismus, und als Hauptmann im Zweiten Weltkrieg sorgte er für das sehr ungermanische "Tachinieren im Verband". Seine Truppe, die keinen einzigen Verwundeten zu beklagen hatte, wußte ihm den Mangel an Heroismus zu danken.

Außer politischen Irrungen und erotischen Wirrungen hielt der Diarist auch interessante literarische Urteile fest. Karl Kraus galt ihm als der "beste Schriftsteller und Kritiker auf der logisch-discursiven Ebene", und Rilke war so lange sein lyrischer Favorit, bis er ihm von Gütersloh verleidet wurde. Obgleich er die Prosatechnik des "Zauberbergs" als "Brechmittel" verordnete, nötigte ihm der Roman Respekt ab: "Viel entzückendes Détail", Thomas Mann "sollte da wohl den Nobelpreis bekommen". Nicht weniger widersprüchlich die Einschätzung Robert Musils: "eine erhabene Insel im Dreckmeer dieses Heute", dennoch habe der Verfasser des "Mannes ohne Eigenschaften" nicht die "allermindeste Gestaltungskraft". Vorbehaltlos fasziniert hat Doderer freilich die Lektüre Kafkas: "Bei K. bin ich kein Küchenmeister, sondern ein Esser, der sich ernähren will." Vollends verblüfft eine Tagebuch-Parallele. Im August 1914 registrierte Kafka ungerührt: "Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Bei Doderer, der diese Stelle nicht gekannt haben kann, lesen wir unter dem Datum vom 5. September 1939: "Indessen hat man übrigens den Krieg erklärt." Hier fanden ungleiche Brüder in der Kunst des Beiläufigen zueinander.

Mit der Publikation der "Strudlhofstiege" im Frühling 1951 begann der Triumphzug Heimito von Doderers. Er hat den allzulang entbehrten Jubel als verdiente Wiedergutmachung genossen, seine Fehltritte teils korrigiert, teils verdrängt. War aus dem Poseur ein Mann mit Haltung geworden? Ja und nein. Dignität und Dekor sind auch nur Masken des Unglücks gewesen. Der kauzige Wutproduzent und Inbegriff altösterreichischen Charmes ist dem Kerker seiner Verdüsterung nicht mehr entronnen, am Zauber seiner Wiener Monumentalromane ändert dies allerdings nichts. Im "Skizzenbuch für Licea" aus dem Sommer 1943 steht geschrieben: "Die Feder des Schriftstellers ist oft klüger als er selbst, wie mitunter das Pferd gescheiter als der Reiter."

Vom zumeist psychosomatisch bedingten Morbus Crohn geschwächt, starb Heimito von Doderer zu Weihnachten 1966 an Darmkrebs. Im Oktober 1951 hatte er den "Commentarii" seine geheimsten Wünsche anvertraut: "viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endlich und endgültig unterzugehen. Statt dessen hab' ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt."

Wolfgang Fleischer: "Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer". Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 1996. 576 S., geb., 67,- DM.

Heimito von Doderer: "Tagebücher 1920- 1939". Herausgegeben von Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer. Verlag C. H. Beck, München 1996. Zwei Bände in Kassette, 1350 S., geb., 248,- DM.

Lutz-W. Wolff: "Heimito von Doderer". (Rowohlts Monographien) Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 160 S., br., Abb., 12,90 DM.

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