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"Der Mensch ist ein Dichter. Und wenn er kein Dichter mehr ist, dann ist er auch kein Mensch mehr", schreibt Martin Walser im April 1979 in sein Tagebuch. Leben und Schreiben? So waren seine Tagebücher bisher überschrieben, aber nun, in diesem vierten Band, ist die Gewichtung eine andere. "Schreiben und Leben" heißt es jetzt: Das Schreiben erst gibt dem Leben seinen Sinn. Und es bringt Schönheiten hervor, die genauso Wahrheiten sind dafür liefert dieses Tagebuch hinreißende Beweise. Und doch. Es wird gelebt, es wird erlebt, und dann erst wird geschrieben. Über Herbert Achternbusch, Thomas…mehr

Produktbeschreibung
"Der Mensch ist ein Dichter. Und wenn er kein Dichter mehr ist, dann ist er auch kein Mensch mehr", schreibt Martin Walser im April 1979 in sein Tagebuch. Leben und Schreiben? So waren seine Tagebücher bisher überschrieben, aber nun, in diesem vierten Band, ist die Gewichtung eine andere. "Schreiben und Leben" heißt es jetzt: Das Schreiben erst gibt dem Leben seinen Sinn. Und es bringt Schönheiten hervor, die genauso Wahrheiten sind dafür liefert dieses Tagebuch hinreißende Beweise. Und doch. Es wird gelebt, es wird erlebt, und dann erst wird geschrieben. Über Herbert Achternbusch, Thomas Bernhard, Heinrich Böll, Nicolas Born, Hilde Domin, Hannelore Elsner, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Fest, Max Frisch, Manfred Fuhrmann, Günter Grass, Lars Gustafsson, Jürgen Habermas, Peter Hamm, Peter Handke, Wolfgang Hilbig, Wolfgang Hildesheimer, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Ruth Klüger, Herbert Marcuse, Freya von Moltke, Ivan Nagel, Gert Neumann, Joyce Carol Oates, Ulrich Plenzdorf, Fritz J. Raddatz, Marcel Reich-Ranicki, Gershom Scholem, Günter Schöllkopf, Edgar Selge, Manès Sperber, Thaddäus Troll, Werner Tübke, Joachim Unseld, Siegfried Unseld, die Töchter Alissa, Franziska, Johanna und Theresia Walser, Käthe Walser, Peter Weiss, Christa Wolf und viele andere mehr.

"Was Martin Walser erlebt und beschrieben hat, das ist der abenteuerliche Weg zu einem großen Werk." Martin Lüdke, frankfurter rundschau
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Autorenporträt
Walser, MartinMartin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger begrüßt den vierten Teil der Tagebücher Martin Walsers, die ganz zurecht nicht mehr "Leben und Schreiben" wie die ersten drei Teile heißen, sondern: "Schreiben und Leben". Denn der Kritiker stellt hier während der Lektüre fest, wie sehr das Schreiben immer mehr von Walser Besitz ergreift, ihm so aber auch einen tieferen Einblick in das Leben ermöglicht. Und so liest Böttiger auf den hier auf 700 Seiten zusammengefassten Jahren 1979 - 1981, die selbst Kafkas Schreibwut hinter sich lassen, wie Walser nahezu besessen "Bestenlisten" und "Bestsellerlisten" durchschaut, sein eigenes Schreiben kommentiert und sehnsuchtsvoll, fast verzweifelnd den Büchnerpreis erwartet. Sinnliche Beobachtungen und Empfindungen liest der Rezensent hier, die ihm in ihrer wortgewaltigen Schönheit den Atem verschlagen. Doch besticht ihn dieser vierte Band der Tagebücher vor allem durch seine "identifikationssuchenden Gefühls- und Befindlichkeitskaskaden", schließt der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2014

Gleißender Tag, wachsendes Unglück
Martin Walsers Tagebücher von 1979 bis 1981 künden von der Sehnsucht
nach einer Schriftstellerexistenz, die es endgültig nicht mehr gibt
VON HELMUT BÖTTIGER
In Martin Walser schreibt es permanent. Es ist ein dezidiert körperlicher Vorgang, in einem Atemzug zu nennen mit Essen und Trinken, und erst im Lauf der Jahre macht er sich dies bewusst. Die Tagebücher der Jahre 1979 bis 1981, die jetzt als vierter Band der 1953 im Alter von 26 Jahren begonnenen Skripte vorliegen, zeigen, wie gerade dieses Bewusstsein wiederum zu einem Schub des Schreibens führt: drei Jahre auf fast 700 Seiten, das ist bisher der größte Schnitt.
  Die ersten drei Bände hatten jeweils den Titel „Leben und Schreiben“, dieser vierte aber „Schreiben und Leben“. Das ist die konsequente Umsetzung dessen, was dem Autor mit Anfang 50 immer klarer vor Augen zu stehen beginnt: Das Leben ist fast vollkommen in den Akt des Schreibens übergegangen, und erst in diesem Akt wird es möglich, das Leben als solches genauer zu erfassen und zu spüren. Der Vorgang wirkt paradox: Am Anfang, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, herrschten fast zeitlose Notate über die Existenz des Schriftstellers vor, stark an der prägenden Lektüre Franz Kafkas orientiert, in der Art von Skizzenbüchern und literarischen Probeläufen. Doch unmerklich drängt sich später der Alltag in den Vordergrund, mehren sich Familienszenen und vor allem Schlaglichter auf den Literaturbetrieb. Das „Schreiben“ steht im Titel nun an erster Stelle, aber das „Leben“ nimmt unter der Hand einen immer größeren Raum ein.
  Eine wichtige Weichenstellung dafür bildet die einschneidende Erfahrung des Jahres 1976, als der Kritiker Marcel Reich-Ranicki den Roman „Jenseits der Liebe“ verriss, bis hin zur gefühlten Vernichtung des Autors Walser. In Walsers Tagebuch von 1974-1978 drehten sich mehr als hundert Druckseiten besessen und manisch ausschließlich um jene Kritik, und von diesem Zeitpunkt an geht es auch weiterhin oft exzessiv um den Literaturbetrieb, um die Kollegen, um den Verleger. Das umfangreiche Tagebuch der Jahre 1979 bis 1981 sprengt da bei Weitem den Rahmen, den früher einmal Kafka gesetzt hat.
  Die „Liste“ spielt eine erhebliche Rolle. Das ist zum einen die vom damaligen SWF initiierte „Bestenliste“, in der Literaturkritiker bis heute nach ästhetischen Kriterien die für sie wichtigsten Titel nennen – sie ist aber anscheinend nicht ganz so wichtig, kitzelt nur eine bestimmte Form des Narzissmus – und zum anderen die Bestsellerliste, die für den Publikumserfolg steht. Woche für Woche verfolgt Walser, spürbar atemlos, dieses Ranking: „Mein Buch ist noch nicht auf der Liste. Das ist der Verlag! Nach drei Wochen noch nicht!“ Von heute aus gesehen scheint diese Selbstverständlichkeit, mit der ein literarisch ernstzunehmender Autor von einer Platzierung auf der Bestsellerliste ausgeht, auf paradiesische Zustände zu verweisen. Und dann: „Heute im ‚Spiegel‘ Pl. 3, mit Bestenliste 1 (114 Punkte, nächste Chr. Wolf mit 82 Pkten)“.
  Die Klammer kündet dabei von einem besonderen Triumph. Denn Christa Wolf spielt im Jahr 1980 für Walser eine ganz besondere Rolle: „Sie haben den Büchner-Preis an Christa Wolf gegeben. Jetzt kann ich das Spiel in meinem Innenraum ein Jahr weiterspielen: Nehme ich ihn noch, oder nehme ich ihn nicht. Dieses Jahr frag ich mich schon: Trete ich aus oder nicht?“
  Das „Austreten“ betrifft Walsers Mitgliedschaft in der Darmstädter „Akademie für Sprache und Dichtung“, die den Büchnerpreis vergibt. Schon vorher, im Winter, konzipiert Walser im Tagebuch ein langes Schreiben, in dem er seinen Austritt aus der Akademie begründet – wort- und fintenreich, sich in die eigenen rhetorischen Möglichkeiten hineinsteigernd, das dient offenkundig der psychischen Entlastung und funktioniert erstaunlich gut. Dann, angesichts der akuten Not bei der Christa-Wolf-Auszeichnung, fällt er sich kenntnisreich ins Wort: „Aber ich werde nicht austreten. Wie groß müsste mein Markt-Erfolg sein, dass ich austreten könnte?“ Bei einer Reise nach Schweden, bei der er lange mit Peter Weiss spricht, aber Lars Gustafsson „kühl bis kalt“ begegnet, werden die Knabenmorgenblütenträume noch lustvoller inszeniert: „Dabei führt der Weg zum Nobelpreis nur über Lars Gustafsson, nicht über Peter Weiss.“
  Nachdem Reich-Ranicki über „Ein fliehendes Pferd“ 1978 auf einmal eine Lobeshymne verfasst hat und die Bestsellerliste lockt, tauchen am Horizont plötzlich ganz neue Lichter auf (zumal der Büchnerpreis 1981 doch noch kommt). Walser kontrolliert sein Tagebuchschreiben nicht mehr so stark, er überlässt sich rückhaltlos seinen Stimmungen und Eingebungen, und so findet er im Schreibprozess zu kurzen und ekstatischen Glücksmomenten, zu etwas Rauschhaftem, das durch die Niederschrift die Möglichkeit einer Dauer aufblitzen lässt. Da das Schreiben immer sinnlichere Qualitäten entfaltet, greift eine unbändige Lebensenergie Raum. Das Schriftsteller-Ich, das hier seine Beobachtungen und Empfindungen notiert, und Romanfiguren wie Franz Horn oder Gottlieb Zürn gehen unmittelbar ineinander über.
  In manchen Passagen kann man nicht mehr unterscheiden, wer hier spricht, ob es sich um erste Erprobungen einer Romanszene handelt oder um eine Luftspiegelung des Autors Martin Walser. Vom Schreiben geht alles aus, und im Schreiben endet alles: „Papier ersetzt mir schon bald alles. Das Schönste ist ein dicht bedecktes Papier. Enggedrängte Buchstaben, dicht unter einander stehende Zeilen und eine voll schwarze Tinte.“
  Dies ist der Ausgangspunkt von Walsers spezifischer Verzweiflungsartistik. Der Kritiker Joachim Kaiser ist für den jetzt über 50-Jährigen ein Bote „aus einer Zeit, in der ich noch lebte“. Das Gefühl, nicht hinreichen zu können, nicht ständig das Leben in vollen Zügen auskosten zu können, aber zu ahnen, dass es überall ringsumher stattfinden könnte, verbindet sich mit den lustvollen, von der Handbewegung des Schreibens ausgelösten Sprachwirbeln, in denen alles zugelassen werden kann. Bei einem Aufenthalt am Dartmouth-College in den USA initiiert „die Schöne“ wiederkehrende Phantasien in Walser: „Heute beim Selbstmordkapitel des ‚Prozess‘-Romans konnte ich Jane F. überhaupt nicht anschauen. Es war zum Schreien.“ Und das letzte Bild von ihr bildet einen ganzen, einzelnen Absatz: „Jane F.: Sie sehen müde aus, sagte sie und lachte und sprang auf und ging.“ Hier verbindet Walser wie hingehaucht seine Situation als in die Jahre gekommener Gastprofessor mit dem Lebensgefühl, das er bei Kafka und Robert Walser inhaliert hat und das ihn nicht mehr loslässt.
  Beiläufig, beim Hinausschauen aus dem Fenster, gelingen Walser mit diesem inneren Blick phantastische Sätze. Sie scheinen ihm mühelos zuzufliegen: „Der Wunsch, etwas Schönes zu machen, nimmt zu am gleißenden Tag, die Fähigkeit nicht. So wächst das Unglück. Die Osterglocken und Forsythien geben ihr Gelb wie einen Pistolenschuss in die verschwimmende Skala. Bei den Amseln sieht das Vögeln aus wie Streit. Erst wenn sie danach zum selben Ast hochfliegen und stumm herunterschauen auf den Kampfplatz, merkt man, dass man nichts versteht.“
  Man spürt in Walsers Tagebuch ständig eine charakteristische Spannung, sie macht seine Schriftstellerexistenz aus: „Ich will nicht verstanden werden. Das möchte ich sagen können.“ Es ist die Spannung zwischen dem existenziellen Ton seiner Penaten Hölderlin, Kafka und Robert Walser, zwischen deren mitunter paukenschlagartigen, erratischen Sätzen und dem gegenteiligen Summen und Sausen, dem sich Walser überlässt, den suggestiven Satzschleifen, den identifikationssuchenden Gefühls- und Befindlichkeitskaskaden. Es ist die Sehnsucht nach einem Autorendasein, das es früher vielleicht einmal gegeben haben könnte und das es nun endgültig nicht mehr gibt. In dieser Sehnsucht ist Martin Walser ohne Vergleich.
Martin Walser: Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 704 Seiten, 26,95 Euro.
„Der Weg zum Nobelpreis
führt nur über Lars Gustafsson,
nicht über Peter Weiss.“
„Papier ersetzt mir schon
bald alles. Das Schönste ist ein
dicht bedecktes Papier.“
Mittwoch, 3.9.1980: „Herz, stich doch nicht so, als wären wir in einem Kartenspiel.“ Der Tagebuchschreiber Martin Walser im Jahr 1980.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2014

Mein GT
Ich, einfach unverbesserlich IV: Walsers Tagebücher

Zum Beispiel die Frauen. Man müsste einmal die Geschichte der Frauen der Gruppe 47 schreiben. Also nicht über Ingeborg Bachmann, Gisela Elsner, Ilse Aichinger, Gabriele Wohmann, das auch, das auch. Aber ich meine jetzt: über die Frauen der Männer der Gruppe 47. Was für duldsame, stoische, tolerante Heldinnen, könnte man sagen. Oder: was für leidensbereite, bemitleidenswerte Ehegefangene. Wir wissen ja inzwischen über die intimsten Details des Intimlebens der Gruppe 47 nach der Veröffentlichung der Tagebücher von Siegfried Unseld, Hans Werner Richter, Fritz J. Raddatz und der ersten Bände Martin Walsers so ungefähr komplett Bescheid. Es gibt da kein Geheimnis mehr. Wenn man die alle gelesen hat, sagt man sich: Nein, ich wollte das alles überhaupt nicht wissen. Und auch den gerade erschienenen vierten Band der Tagebücher Martin Walsers wollte ich unbedingt auf keinen Fall eigentlich lesen. Und fing an und hörte nicht mehr auf. Schrecklich.

Die ersten vier Bände trugen den Titel "Leben und Schreiben", der neue heißt "Schreiben und Leben" und umfasst die Jahre 1979 bis 1981. Der Grund für den Wortwechsel erschließt sich jetzt nicht so direkt. Held und schreibendes "Ich" ist ein Mann, der jeden Tag in seinem Leben schwankt zwischen Mickrigkeit und Größenwahn, Selbstverachtung und Selbstbegeisterung, der in sich nichts als Leere spürt und doch immer nur von sich erzählen will. Ein Held im Taumel der Superlative, der in den klarsten Momenten immer wieder ahnt, dass die wahre Selbstbeschreibung nicht im größten, noch im kleinsten Selbstbild steckt, sondern - in der Mitte. Dass sein Geheimnis die perfekte Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit ist. Dass er sich aber da nicht einpendelt, sondern immer wieder vom Gigantismus zum Minimalismus geschossen wird, das hält ihn am Leben und am Schreiben.

Aber immer wieder, plötzlich Erkenntnis: "ICH: Dass alles mit mir zu tun hat, lähmt mich mehr, als es mich schreckt. Es gibt nichts Abschnürenderes als dieses irrsinnige zunehmende Interesse für mich selbst. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich dieses Interesse, das ich für mich entwickle, nicht wert bin. Wirklich nicht. Ich bin armselig. Und trotzdem interessiere ich mich für nichts als für mich. Ich bin wirklich langweilig. Ich bewache mich von morgens bis abends. Umsonst. Kein Einfall. Keine Überraschung. Nichts Nennenswertes. Ich gähne aber nicht. Ich bleibe gespannt."

Gespannt auf sich selbst, auf neue, gähnende, innere Leeren, vor allem aber auf neue Frauen, neue "GV"-Möglichkeiten, im Traum oder in der Wirklichkeit. Es ist beachtlich, wo Martin Walser überall Busen sieht, gern werden Kleider beschimpft, die einen tiefen Einblick zu versprechen scheinen, aber den Blick doch nicht freigeben, wie bei Joachim Kaisers Ehefrau. Oder eine Agathe, weil sie im Morgengrauen womöglich zu keinem "GV" zu überreden ist. Mit seinem "Geschlechtsteil", das er praktischerweise, man hat ja auch noch anderes zu schreiben, kurz "GT" nennt. Und Käthe, seine Frau, was sagt eigentlich Käthe dazu? Einmal, als sein Freigängertum offenbar auch den Töchtern nicht mehr verborgen bleibt, notiert er: "Alissas wildes Drängen zu erfahren, ob ich Freundinnen habe oder nicht. Um sie nicht völlig in einer unerträglich falschen, zu günstigen Meinung zu halten, habe ich angedeutet, dass das Sichverlieben wie eine Infektion sei, die nach 14 Tagen von selber nachlasse. Jetzt will sie Namen. Wann zuletzt. Und ob jetzt. Sie fragt Käthe: Das sei ihr egal."

Sie ist tolerant bis zur Gleichgültigkeit, er dagegen natürlich hyperempfindlich wie ein zartes Blümchen im Wind: "Wie Käthe mit mir telefoniert, ist eigentlich ungeheuer. Dieses Tschüü-üs am Schluss klingt, wie wenn eine fröhliche Bekannte einen fröhlichen Bekannten anruft. Sie kann kein Gefühl für meine Empfindungen haben, wenn sie so mit mir spricht." Es ist empörend. Eine freundschaftlich flötende Ehefrau - der Mann ist zu bemitleiden.

Am jammervollsten sind jedoch die Eheszenen, die Walser über seinen Verleger notiert. Das Leben von Hilde Unseld erscheint hier wahrlich als Martyrium, Siegfried lebt seine Liebesbeziehungen aufs offenste aus, die Demütigungen seiner Frau werden nicht verhüllt. Einmal, an Hildes Geburtstag, redet eine Freundin von ihr Siegfried ins Gewissen, "seine Frau sei am Ende, sie könne nicht mehr, das habe sie ihr gesagt". Darauf der Verleger: "Er sei der beste Ehemann in Europa. Das lasse er sich nicht bieten." Was diese Frau ihm antue, das sage er nicht, nur so viel: "Schnarchen tue sie auch." Könnte lustig sein, wenn es nicht so traurig wäre. Oder ist es doch alles eine Karikatur, ein einziger großer Männerwitz? "Frau Merkle, Bosch-Boss-Gattin, wurde bei einer Geburtstagsfeier des Herrn Guth, des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, von Siegfried aus Versehen am Busen berührt. Sie rief ihn an, das hat sie erschüttert, fast ein Orgasmus." Äh, ja.

Einmal immerhin sieht sich selbst Walser zum Einschreiten gezwungen, als sein Verleger, betrunken, Geliebte im Arm, das Gesicht seiner Frau, das Aussehen seiner Frau angreift. Sie ruft verzweifelt: "Ich bin 60, was willst du." Unseld: "Dieses Gesicht habe nichts mit 60 zu tun, das hast du deinem Nürnberger Zahnarzt zu verdanken." Die Solidarität der Anwesenden sieht dann so aus: "Wir beteuern, dass sie nicht anders aussehe als sonst."

Der neue Band der Tagebücher Martin Walsers hat natürlich noch viele andere Themen, das hier ist eine arge Verkürzung. Aber wenn man diese Passagen liest, über diese Männer, die den Geist der Bundesrepublik, wie es heißt, literarisch geprägt haben und repräsentieren, da kann man als Leser von heute schon mal die Fassung verlieren. Ja, vielleicht waren die Zeiten auch damals anders, fünfunddreißig Jahre Abstand sind ein ganzes Zeitalter in Fragen der Emanzipation und des Respekts. Aber es war ja nun auch nicht jeder Mann so. Das Traurige an Walsers Betrachtung der Welt: sein Beziehungsbild überträgt er auf die ganze Welt. Wenn Max Frisch in New York ein Loft kauft, um dort mit seiner Geliebten Alice zu leben, und ihm, Walser sagt, später könne sie das mal haben, das Loft, dann kommentiert Walser: "Das ist der Preis. So trostlos." Als müsste auch diese Liebesbeziehung selbstverständlich als Prostitution verstanden werden.

Darüber hinaus wird alles ausgeplaudert, mitgeteilt und aufgeschrieben. Jedes Gerücht, jeder Verdacht. Welcher Kritiker seinem Sohn dringend von einer Heirat abriet, wen er dann zur Abtreibung drängte. Ja, es ist ein lächerlicher, ein spießiger, ein im Grunde literaturfeindlicher Vorwurf gegen das Werk eines Schriftstellers, aber dieses Tagebuch ist auf unangenehme Weise schamlos und frivol. Wie gesagt, erkennt Walser das immer wieder auch durchaus selbst. Als Autoren und Verleger einmal mit Bundeskanzler Helmut Schmidt zusammenkommen und kein rechtes Gespräch zustande kommt, notiert er die Gründe: "Schmidt trocken, konkret, wir verkrampft um Sachen bemüht, als müssten wir verbergen, dass wir keine haben und uns für keine außer uns selbst interessieren."

Die Geschichte der Frauen der Gruppe 47 müsste eigentlich von diesen selbst geschrieben werden. Wie Sofja Tolstaja, die in "Eine Frage der Schuld" ein phantastisches Gegenbuch zur "Kreutzersonate" ihres Mannes Leo Tolstoi geschrieben hat. Eine Heldinnengeschichte. Käthe Walser: Es wäre so toll!

VOLKER WEIDERMANN

Martin Walser: "Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981". Rowohlt, 700 Seiten, 26,96 Euro

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Lustvolle, von der Handbewegung des Schreibens ausgelöste Sprachwirbel, in denen alles zugelassen werden kann. Süddeutsche Zeitung