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Michail Prischwin (1873-1954) schrieb seine Tagebücher unter dem Sowjetregime im Verborgenen. Mit diesem heimlichen Schreiben wollte er sichergehen, dass er nicht in politische Schwierigkeiten geriet, doch es ging ihm ebenso sehr auch um psychischen Selbstschutz: Die Tagebücher sind ein Versuch, den eigenen weltwahrnehmenden Blick, das eigene Fühlen und Denken und die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele unterlagen aus Angst, aus Glaube oder aus mangelnder Kraft, in Diskrepanz zur Umgebung zu leben.
Prischwins Tagebücher bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen,
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Produktbeschreibung
Michail Prischwin (1873-1954) schrieb seine Tagebücher unter dem Sowjetregime im Verborgenen. Mit diesem heimlichen Schreiben wollte er sichergehen, dass er nicht in politische Schwierigkeiten geriet, doch es ging ihm ebenso sehr auch um psychischen Selbstschutz: Die Tagebücher sind ein Versuch, den eigenen weltwahrnehmenden Blick, das eigene Fühlen und Denken und die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele unterlagen aus Angst, aus Glaube oder aus mangelnder Kraft, in Diskrepanz zur Umgebung zu leben.

Prischwins Tagebücher bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten wie einfachen Menschen, Betrachtungen zur Literatur und Philosophie, Träumen, Naturschilderungen, Skizzen zu literarischen Arbeiten und vielem mehr. Aber vor allem verzeichnen sie kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im einzelnen Menschen und in der Sprache. In den Tagebüchern ist "Leben gesammelt" wie in Victor Klemperers Tagebüchern, mit denen sie manches gemeinsam haben.

Eveline Passet stellt aus 18 russischen Bänden mit 13.000 Seiten eine vierbändige Auswahl zusammen, die sie übersetzt und kommentiert. Der erste Band reicht von 1917, dem Jahr der Februar- und der Oktoberrevolution, bis 1920, jenem Bürgerkriegsjahr, das den Sieg der Bolschewiki besiegelte. Darin zeigt sich ein Mensch, der das, was um ihn herum passiert, mitdenkt und zu verstehen versucht. Er leidet an den Zeiten und schafft es doch, selbst in Bedrängnis, sich zur Welt - auch der jenseits des Politischen gelegenen - mit aller Wahrnehmungskraft zu öffnen.
Autorenporträt
Michail Prischwin (1873-1954) wird als Kaufmannssohn nahe Jelez im Dorf Chruschtschowo geboren, studiert zunächst in Riga, wo er 1897 festgenommen und später unter Hausarrest gestellt wird, weil er sich an der Verbreitung revolutionärer Schriften beteiligt hat. Nach einer kurzen Episode als Agronom arbeitet er als Journalist und während des Bürgerkriegs als Dorflehrer, Bibliothekar und Museumskustos. Ab 1905 führt Prischwin Tagebuch und veröffentlicht erste literarische Texte. Neben Erzählungen begründen vor allem sein autobiografischer Roman »Die Kette des Kaschtschej« und die Erzählung »Shen-Schen« seinen Ruf. Lange blieb unbekannt, dass Prischwin nach 1917 auch Werke politisch-philosophischen Charakters schrieb, die aus Zensurgründen erst Jahrzehnte später erscheinen konnten - etwa »Der irdische Kelch«. Die 1991 begonnene russische Edition seiner Tagebücher wurde 2017 abgeschlossen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2020

Die Revolution, ein böses Tier

Das erste Jahrzehnt der Sowjetunion war ein literarisches Dorado unter Terror. Das zeigen ein Roman von Olga Forsch und Michail Prischwins Tagebücher.

In den Memoiren der russischen Schriftstellerin Nina Berberowa tritt deren Kollegin Olga Forsch nur wenige Male auf. Aber gleich beim ersten Mal mit Aplomb, denn da wird sie vorgestellt als die kommende Autorin eines Buchs, das als Schlüsselroman über die Petrograder Literaturszene in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution zu lesen sei; einen Titel aber nennt Berberowa nicht. Wozu auch? Olga Forschs Roman war 1972, als Berberowas Autobiographie erstmals erschien, kaum greifbar. 1930 war er in der Sowjetunion erschienen, danach dauerte es bis 1988, ehe er dort wieder gedruckt werden durfte, und die einzige zwischenzeitliche Ausgabe war 1964 auf Russisch von einem amerikanischen Verlag herausgegeben worden. Übersetzungen gab es noch gar nicht, die erste und für lange Zeit auch einzige erfolgte erst 1991 als "Il vascello folle" ins Italienische. Nun ist als zweite eine deutsche erschienen, unter dem Titel "Russisches Narrenschiff", und man darf sagen: Das neunzigjährige Warten hat sich gelohnt.

Das ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass Christiane Pöhlmann, Lesern dieser Zeitung bekannt als Literaturrezensentin, sich nicht aufs bloße Übersetzen beschränkt hat - was bei Forschs Sprachreichtum und Formbewusstsein schon anspruchsvoll genug gewesen wäre -, sondern den Romantext auch durch einen nicht ausufernden, aber gerade deshalb sehr hilfreichen Anmerkungsapparat ergänzt, vor allem aber dem "Narrenschiff" noch zwei Abschnitte beigegeben hat, die keck als "Lyrisches Gepäck" und "Passagiere der Narretei, auch Blinde, und die Crew" betitelt sind. Dieses Gepäck besteht aus einer kleinen Auswahl von Gedichten der russischen Avantgarde, die der Roman entweder selbst zitiert oder auf die er anspielt. Die Passagier- und Crewliste wiederum setzt sich zusammen aus Kurzbiographien von literarischen Akteuren der frühen Sowjetzeit, die im Roman unter ihren Klarnamen (selten), Pseudonymen (häufig) oder auch gar nicht explizit auftreten (deshalb "Blinde Passagiere"), aber für Olga Forsch eine wichtige Rolle gespielt haben.

Bevor man nun abgeschreckt werden könnte durch das Gefühl, sich auf der Grundlage eines gerade einmal zweihundertseitigen Romans ein ganzes Universum erschließen zu müssen, sei gesagt: Die Lektüre jedes der Zusatzteile ist kein geringeres Vergnügen als die des "Narrenschiffs" selbst, denn einfallsreicher und vor allem gefühlvoller gedichtet als im Russland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wurde in der westlichen Literatur nicht, und Pöhlmann beherrscht die große Kunst, mit knappsten Bemerkungen ganze Persönlichkeiten zu umreißen. Wer aus diesem "Russischen Narrenschiff" wieder herauskommt (und man wird es nur ungern wieder verlassen), der verspürt eine unbändige Trauer um die untergegangene, ja leider muss man sagen: größtenteils mörderisch vernichtete literarische Welt der russischen Avantgarde.

Olga Forsch überlebte den Stalinismus, indem sie sich anpasste. Und weil ihr Roman 1930 zu einem Zeitpunkt erschien, als sein wichtigster Schauplatz, das Haus der Künste in Petrograd, in dem die literarische Avantgarde für kurze Zeit ein staatlich geduldetes Forum gefunden hatte, schon seit 1923 wieder geschlossen war. So konnten nur noch Insider im "Narrenschiff" das Porträt dieser Epoche erkennen, aber natürlich reichte auch das, um den Roman danach in der Sowjetunion unmöglich zu machen - und seine 1873 geborene, also damals beinahe schon sechzigjährige Autorin fortan übervorsichtig. Als Forsch Anfang der dreißiger Jahre Nina Berberowa in deren Pariser Exil besuchte, brach sie den lang entbehrten Kontakt zu der Freundin aus alten Petrograder Tagen nach dem ersten Treffen wieder ab, weil ihr vom russischen Konsulat zu verstehen gegeben worden war, dass Berberowa und ihr Mann Wladislaw Chodassewitsch weiterhin als Feinde der Sowjetunion betrachtet wurden.

So überstand Forsch dann auch die Säuberungen der Folgejahre, schrieb erfolgreiche Historienromane und starb erst 1961. Ihren längst toten, bisweilen auch ermordeten jüngeren Weggefährten wie etwa Sergej Jessenin, Nikolaj Kljujew, Sergej Neldichin, Lew Lunz oder Nikolaj Gumiljow hat sie im "Narrenschiff" bewegende Denkmale gesetzt.

"Was soll das bloß für ein Roman sein?" Diese Frage wird vom "Narrenschiff" einem imaginierten Leser in den Mund gelegt: "Was für eine Gattung? Und, wenn die Frage erlaubt ist, an welchen Leser richtet er sich eigentlich?" Die Antwort auf die letzte Frage ist leicht zu geben: an alle, die Herz und Hirn gleichermaßen adressiert sehen wollen. Mit den anderen beiden Fragen verhält es sich schwieriger. Christiane Pöhlmann verwahrt sich gegen die Einordnung des von ihr übersetzten Textes als Schlüsselroman, denn er ziele "nicht auf Demaskierung, sondern verhandelt die eigene künstlerische Position oder Poetologie" - siehe eben die drei Fragen. Man könnte "Narrenschiff" eine Satire nennen, doch das würde nicht dem Ernst gerecht, der aus dem Pathos der Trauer spricht, die immer spürbarer wird. Forsch teilte ihr Buch in neun "Wellen" statt Kapiteln auf, anknüpfend an eine russische apokalyptische Tradition, und so wird denn im Roman auch alles immer schlimmer, aber zugleich literarisch immer besser, denn da schreibt eine Frau um ihr Leben - buchstäblich, denn sie riskierte mit der Liebeserklärung an eine verfemte Literatur mehr als nur die berufliche Existenz, und inhaltlich, denn Forsch bewahrt im "Narrenschiff" auf, was ehedem ihr Leben war und 1930 längst nicht mehr sein durfte.

Ähnlich risikoreich, nur vollkommen im Verborgenen gehalten, war zu Beginn der bolschewistischen Herrschaft das Schreiben des im selben Jahr wie Olga Forsch geborenen Michail Prischwin. Aus ihm wurde später einer der erfolgreichsten sowjetischen Schriftsteller, weil er sich publizistisch konsequent maskierte und seine Ablehnung des Systems nur in den seit 1905 geführten Tagebüchern festhielt. Schon im März 1919 notierte er: "Natürlich befinden wir uns in der Hand von Verbrechern, aber auf sie zeigen und sagen: ,Die da sind schuld!' können wir nicht, insgeheim fühlen wir, dass wir alle schuld sind, und deshalb sind wir machtlos, sind wir Gefangene." Solcher Einträge wegen verbarg er die Tagebücher sorgfältig, und so hielten es nach Prischwins Tod 1954 auch seine Witwe und dann deren Nachlassverwalter, die aber die zahllosen Hefte schon einmal transkribierten. Aber erst 1991 konnte eine russische Edition beginnen, die dann vor zwei Jahren mit Band 18 endlich abgeschlossen wurde: mehr als 12 000 Seiten mit unkaschierten Ansichten eines Intellektuellen in der Sowjetunion, dargeboten in einer Formenvielfalt, die von Alltagseindrücken über Traumnotate, Allegorien, Aphorismen bis zu regelrechten Reportagen reicht.

Aus dieser Fülle an Material hat Eveline Passet in den letzten Jahren eine Auswahl getroffen, sie ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Vier Bände sollen daraus werden mit zusammen rund 1200 Seiten reinen Notaten, also einem runden Zehntel des Bestands. Nun ist der erste Teil erschienen, mit Tagebucheinträgen der Jahre 1917 bis 1920; natürlich kann man sich gar keine interessantere Zeit in der russischen Geschichte denken als die der beiden Revolutionen von 1917, des Bürgerkriegs und der beginnenden Etablierung des kommunistischen Systems. Es waren zugleich jene Jahre, in denen sich der literarische Kreis, den Olga Forsch im "Narrenschiff" beschreibt, in Petrograd zusammenfand, wo Prischwin in den Wintern lebte, während er im Sommer das Familiengut im südlich von Moskau gelegenen Städtchen Jelez bewirtschaftete.

Es gab indes selten unmittelbare Berührungspunkte von Prischwins Umkreis mit jenen Dichtern, die das Personal von Froschs Roman bilden: Andrej Bely und Alexander Blok spielen etwa in beiden Büchern eine Rolle, bei Prischwin indes nur vermittelt durch ihre publizistische Wirkung. Prischwin selbst scheute in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution die Teilnahme am intellektuellen Leben, um sich nicht im Gespräch zu diskreditieren, veröffentlichte fast gar nicht mehr und gab bald auch seinen Wohnsitz in Petrograd zugunsten von Moskau auf. Wie er sich durch die Schrecken des Bürgerkriegs, durch Hunger, Bespitzelung und Verrat bewegte, einmal sogar als bürgerliche Geisel in Haft kam und im Jahr 1919 drei Geschwister verlor, das macht seine Tagebücher zu einer Geschichte, die man sich nicht träumen lassen möchte. Es ist das scheinbar noch phantastischere dieser beiden Bücher, etwa in Passagen wie dieser vom Januar 1920: "Wir hatten damit gerechnet, in diesem Winter vor Hunger und Kälte zu sterben, aber es gab mehr Mehl als im vorigen Jahr, auch an Holz mangelt es nicht allzu sehr, dafür aber hat sich der geistige Hunger derart ausgewachsen, dass wir an ihm sterben."

Michail Prischwin sättigte diesen Hunger in der Manier eines Baron Münchhausen: indem er sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zog, also selbst scharfsinnig schrieb, wo ihn sonst keine Literatur mehr inspirierte. Ein Tagebucheintrag vom Juli 1917, also zwischen den beiden Revolutionen jenes Jahres notiert, ist in Metaphorik und gedanklicher Tiefe eine Vorwegnahme von Benjamins "Thesen über den Begriff von Geschichte", nur deftiger formuliert: "Das Gesicht der Revolution hat niemand gesehen, denn niemand kann ihr vorauseilen. Diejenigen, die mit ihr dahinjagen, können nichts über sie sagen. Aber auch diejenigen, an denen sie vorbeistürmt, sehen nichts: Staub, Schutt, und allerlei aufgewirbelter Plunder verhüllen ihnen das Licht. Natürlich ist die Revolution ein halb menschliches, halb tierisches Wesen. Und diejenigen, die nicht mit ihr dahinjagen, sehen nur das riesige, Unreinheit zurücklassende Hinterteil des Tiers."

ANDREAS PLATTHAUS

Olga Forsch: "Russisches Narrenschiff". Roman.

Aus dem Russischen, mit Anmerkungen und Nachwort von Christiane Pöhlmann. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 323 S., geb., 44,- [Euro].

Michail Prischwin: "Tagebücher". Band 1: 1917 bis 1920.

Hrsg. und aus dem Russischen von Eveline Passet. Guggolz Verlag, Berlin 2019. 460 S., 2 Abb., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2020

Schweigen in einer
geschwätzigen Zeit
Die Tagebücher von Michail Prischwin zeigen das
geheime Werk eines oberflächlich angepassten Autors
VON STEPHAN WACKWITZ
Als John Updike 1964 die Sowjetunion bereiste, schenkte ihm seine Dolmetscherin zum Abschied und Andenken einen Band des Verlags für fremdsprachige Literatur: Nature Writing von Michail Prischwin. An ihrer Geste kann man ablesen, welche Stellung diesem Schriftsteller im Ensemble der Sowjetliteratur zugewiesen war. Auch auf Russisch, das sollte der berühmte amerikanische Gast wissen und mit nach Hause nehmen, gab es – abseits des offiziellen sozialistischen Realismus – Prosa einer Qualität, die sich mit Updikes Kunst messen konnte. Und die subtilen Feldbeobachtungen und Waldläuferprotokolle des russischen Naturschriftstellers Prischwin sollten den großen amerikanischen Leser und Kenner, wenn er wieder in seiner Heimat war, an jene geheimnisvolle (vielleicht imaginäre) Entität erinnern, die man die russische Seele nennt.
Michail Michailowitsch Prischwin, Jahrgang 1873, stammte aus einem Dorf im westrussischen Schwarzerdegebiet. In seiner Studentenzeit als angehender Agronom in Riga fiel er den Autoritäten durch sozialistische Sympathien ins Auge, die sich nach Bekanntschaft mit der bolschewistischen Revolution allerdings schnell verflüchtigten. Trotzdem grüßte Prischwin in der Folge dann sorgfältig alle jeweils erforderlichen revolutionären Gesslerhüte, vermied durch apolitische Distanznahme die Bekanntschaft mit den bolschewistischen Säuberungen und war deshalb spätestens Mitte der 20er-Jahre dank seiner brillanten Naturtagebücher, einem autobiografischen Roman und einiger Erzählungen bis zu seinem Tod im Jahr 1954 eine gesetzte Größe im literarischen Establishment der Sowjetunion.
Erst nach 1990 wurde bekannt, dass während all dieser Anpassungs- und Arrivierungsanstrengungen ein klandestines Hauptwerk von monumentalen Ausmaßen entstanden war: Prischwins Tagebücher, die in einer vierbändigen Auswahl der Übersetzerin Eveline Passet 2019 auf Deutsch zu erscheinen begonnen haben – womit der Guggolz-Verlag sein bewundernswertes Engagement für das vergessene Universum der osteuropäischen Moderne fortsetzt.
Prischwins Notizen von 1917 bis 1920, vom Oktoberputsch bis zum Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg, füllen den ersten Band. Sie haben zwei gegensätzliche Schauplätze. Im revolutionären St. Petersburg korrespondiert der Dichter mit Trotzki, pflegt Umgang mit Kamenew und lernt infolge eines unbotmäßigen Artikels das bolschewistische Rechtswesen und seine Gefängnisse kennen. In seinem Heimatdorf, wohin er danach seinen Lebensmittelpunkt verlegt, beobachtet er Bürgerkrieg und Revolution auf dem Land.
Auch für einen historisch einigermaßen beschlagenen und illusionslosen Leser ist es schockierend und deprimierend, in Michail Prischwins Aufzeichnungen authentische Vignetten aus dem Inneren des revolutionären Chaos nachzuerleben: die allgemeine Plünderei und Gewalttätigkeit, die jahrhundertalte, jetzt plötzlich „revolutionär“ mobilisierte Idiotie des Landlebens, die mit hochtrabenden Phrasen kostümierte Inkompetenz, die unfreiwillige Komik und das allseitige gesellschaftliche Unglück, aus dem die angeblich „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ in Wirklichkeit bestanden hat.
Prischwin beobachtete „Analphabeten (...) in den Händen eines Häufleins von blutrünstigen Gelehrten“ und den schreienden Gegensatz von Menschheitspropaganda und Pogrom: „Um des Wohles der ganzen Menschheit willen wird gegen lebendige Menschen grausame Gewalt ausgeübt, doch aus Erbarmen für unseren sichtbaren Menschen beginnt da und dort ein Aufstand.“
Der Schriftsteller und studierte Agronom versucht zunehmend verzweifelt und resigniert, ein ererbtes Grundstück zu bewirtschaften und vor „Expropriation“ zu schützen, er arbeitet als Lehrer, nimmt an den Volksversammlungen teil, verhandelt mit dem Dorfsowjet, protokolliert Gerüchte, Zeitungsmeldungen, belauscht Gespräche und urban legends und kämpft mit den entsetzlichen Lebensverhältnissen: „In den Häusern herrscht eine Kälte wie in Schützengräben, die Körperläuse vermehren sich auf den Menschen. Wir fuhren ins Dorf, um uns zu waschen.“
Prischwin war sich darüber im Klaren, dass er sich mit diesen Notaten in Lebensgefahr begab. Trotzdem führte er sie durch die finsteren Zeiten des Stalinismus hindurch bis zu seinem Tod weiter. Erst nach dem Untergang der Sowjetunion wurden sie auf Russisch veröffentlicht: 18 Bände, aus denen der deutsche Verlag seine auf vier projektierte Auswahl zusammengestellt hat.
Die Dorflehrerexistenz Prischwins während des Bürgerkriegs gleicht in der Zerissenheit zwischen Anpassung an die offizielle Lüge und genauester Beobachtung der Wirklichkeit derjenigen Wilhelm Lehmanns, jenes deutschen Naturschriftstellers und Kleinstadtlehrers zur Zeit des Nationalsozialismus und der „Inneren Emigration“, dessen nach 1945 berühmt gewordenes „Bukolisches Tagebuch“ er nach dem Krieg kennengelernt haben könnte.
Weniger die äußeren Lebensumstände als die souveräne und gleichsam hochmütige Wendung von der politischen Misere zum unberührten Leben der Natur ist von frappierender Parallelität. „Beim Lesen von Maeterlincks ‚Das Schweigen‘ kam ich auf die Idee, unsere schwülstiggeschwätzige Zeit vom Schweigen her zu erhellen: zu erhellen, worüber die Russen während der Kommune schwiegen, es nicht unter dem Druck der äußeren Gewalt verschwiegen, sondern davon schwiegen, weil es nicht sagbar war. Wer weiß, vielleicht spielt die Gewalt der Zensur gegen das Wort ja auch die Rolle des Schnees, der gegenwärtig unsere Felder bedeckt: Er richtet die Stängel und Blüten zugrunde, schützt aber die unterirdischen schweigenden Wurzeln“, schreibt er – oder mit der Lakonie eines japanischen Haiku: „Unter dem Schnee hervorkommende Blüten. Lenin ist ein Popanz.“
Die Lektüre der Tagebücher Michail Prischwins ist eine gute Einführung in das Werk eines bedeutenden und in Deutschland so gut wie unbekannten russischen Schriftstellers. Und sie kann einen belehren über die verschwiegene politische Dimension des derzeit von breiten Leserschichten wiederentdeckten und oft als Luxusartikel missverstandenen Genres des Nature Writing.
Michail Prischwin: Tagebücher. Band I. 1917 – 1920. Aus dem Russischen, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Eveline Passet. Mit einem Essay von Michail Schischkin. Guggolz Verlag, Berlin 2019. 457 Seiten, 34 Euro.
Selbst den illusionslosen Leser
schockieren diese Vignetten aus
dem revolutionären Chaos
Es gibt auch etwas zu lernen über
die verschwiegene politische
Dimension des Nature Writing
Szene revolutionärer Mobilisierung: 1917 wird das St. Petersburger
Winterpalais erstürmt.
Unten der Tagebuchschreiber
Michail Prischwin (1873 – 1854).
Foto: imago / Photo12 / Guggolz Verlag
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