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Produktdetails
  • Verlag: S. FISCHER
  • Seitenzahl: 301
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 812g
  • ISBN-13: 9783100299116
  • ISBN-10: 3100299116
  • Artikelnr.: 24138249
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.1997

Turm bei Vollmond
Ein Maler der Ordnung: Keith Haring in seinen Tagebüchern · Von Hans Scherer

Erst nach der Lektüre von Keith Harings Tagebüchern denkt man darüber nach: Was hatte man von diesen Aufzeichnungen eigentlich erwartet? Das witzige Selbstporträt eines stets spaßigen Pop-art-Künstlers, das mancher nach einem Blick auf die tausendfach multiplizierten kleinen Männchen seiner Bilder erwarten mochte, ist Harings Tagebuch jedenfalls nicht. Dieser Hallodri, dieser Tausendsassa, dieser widerwillige Urvater aller Graffiti-Maler war ein ernster, fast grüblerischer Künstler, der sich mit Kunstgeschichte und chinesischen Gedichten beschäftigte und von Keats' Briefen bis zu Sartre und zeitgeschichtlichen Werken las, was ihm unterkam. Die wenigen, doch kenntnisreich ausgesuchten Abbildungen zeigen: Er war gar kein Graffiti-Maler; dafür sind seine Bilder viel zu sehr geplant und zu elegant gemalt. Er war einfach ein guter Maler.

Alle, die ihn kannten, rühmen seine "Großzügigkeit", seine Eigenart, allen, die ihn danach fragten, seine Bilder zu schenken. Er verschleuderte seine Kunst wie sein Leben. Am 16. Februar 1990 ist er gestorben. Er war einunddreißig Jahre alt.

Das Tagebuch umfaßt den Zeitraum von 1977 bis 1989, die letzte Eintragung stammt vom 22. September 1989. Der Anfang - etwa bis zum Jahre 1982 - könnte den Titel "die Lehrjahre" tragen. Haring liest, studiert, experimentiert und sucht seinen eigenen Standort. Die Eintragungen geraten ihm zu kleinen Aufsätzen. Oft schreibt er unbeholfen. Triviale Erkenntnisse erscheinen ihm so wichtig, daß er sie zu einem Manifest zusammenstellt. Doch schon in der nächsten Eintragung widerruft er das vorige Manifest und schreibt ein neues. Eine lange Eintragung vom 14. Oktober 1978 endet gestelzt: "Wir haben die Wahl, ob wir die Entwicklung auf diesem Planeten fortsetzen wollen oder nicht. Ich stimme dafür." Das hat eine gewisse Komik, vor allem in Zusammenhang mit der Eintragung vom 7. November 1978: "Ich habe gerade wieder ein bahnbrechendes (für mich jedenfalls) Bild fertiggestellt." Er beschreibt dann die neue Technik seines Malens. Da war Haring noch sehr jung.

Im Jahre 1979 findet man im Tagebuch vorwiegend Gedichte. Es sind schöne, heitere, fast fromme Gedichte über Erotik und Sexualität. Zum ersten Mal entdeckt der Leser auch ein paar knappe private Äußerungen. So am 30. Oktober 1979: "Ist meine Mutter noch da? Großmutter stirbt, und ich heule, weil ich erst 21 bin und ich stehe auf der 54. Straße und weiß nicht, warum. Ich habe keine Antworten und keine Zeit zu warten. Es fehlt mir. Fehlt mir. Fehlt mir. Antworten fehlen. Leute schaun her und wenden sich ab. Ich will abgewiesen werden."

Für 1980 und 1981 fehlen alle Eintragungen. Auch für 1982 gibt es nur zwei Eintragungen. Aber Haring ist ein anderer Mensch geworden. Er ist nun schon fast so berühmt wie ein Pop-Star. Am 4. Mai 1982 steht zum ersten Mal neben dem Datum eine Ortsangabe, wie sie von da an zur Regel werden sollte: "Auf dem Brüsseler Flughafen". Haring schreibt sein Tagebuch vorwiegend in Flugzeugen, Hotelhallen und auf Flughäfen. Er reist nun ruhelos durch die Welt, meist auf Einladungen von Museen und Mäzenen. Er bemalt Kirchen-, Schul- und Museumsfassaden, er reist zu Eröffnungen von Ausstellungen, und er genießt das Leben im Jet-Set.

Später entdeckt er seine Liebe zu Europa. "Jedesmal, wenn ich nach Europa komme, denke ich, ich werde ewig leben." Es fällt ihm schwer, sich zu entscheiden, wo er am liebsten ist, in Italien, in Paris, an der Côte d'Azur, in Düsseldorf. Gewinnen wird am Ende Knokke in Belgien, wo seine Freunde Jean Tinguely und Niki de St. Phalle leben. Jeder Abschied von Europa wird nun zu einem traurigen Ereignis. Haring fühlt den unaufhaltsamen Strom der Zeit, die Unwiederbringlichkeit des Lebens. Zum ersten Mal taucht hier die Formulierung auf, die auf den nahenden Tod hinweist: "Das sind die Augenblicke, für die ich gern länger leben würde." Der Satz wird im Tagebuch noch oft wiederholt werden.

Es ist in Harings Tagebuch nicht ablesbar, wann genau er von dem todbringenden Virus in seinem Körper erfahren hat. Etwa von 1984 an werden die Eintragungen melancholischer und privater. Haring achtet auf die oben erwähnten Augenblicke. Das Leben um ihn herum, das er stets genau beobachtet hatte, sieht er nun unter der Möglichkeit des Endes. Das hält ihn nicht ab, kritisch die Kunst zu betrachten, seine eigene und die der anderen. Mit den neuen deutschen Wilden, A. R. Penck zum Beispiel, kann er sich nicht anfreunden. Denn er ist ein Maler der Ordnung, der klaren Linien.

In Barcelona bemalt Haring 1989 eine Wand. Er schreibt am 24. Februar 1989, wie ein Junge ihm eine Bleistiftschachtel mit einem Bleistift darin schenkte. "Das war wohl der Höhepunkt der Tage." Nur wenige Tage später, am 6. März 1989 in Casablanca, notiert er: "Es fällt mir wirklich schwer, mich damit abzufinden, daß ich meine Sexualität vollständig verloren habe." Wie Thomas Mann in seinem Tagebuch verbindet auch Haring Sexualität und künstlerische Produktivität. Am 12. März 1989 erfährt er vom Aids-Tod Robert Mapplethorpes. Haring wünscht ihm, daß muskulöse Schwarze seinen Sarg tragen. Am 22. September 1989 ist er in Mailand und schreibt über seinen Aufenthalt in Pisa: "Der Turm ist erstaunlich. Wir sahen ihn erst bei Tageslicht und dann bei Vollmond. Er ist wirklich großartig und hysterisch zugleich. Jedesmal, wenn man ihn anschaut, muß man lächeln." An dieser Stelle bricht das Tagebuch ab.

Keith Haring: "Tagebücher". Mit einer Einleitung von Robert Farris Thompson. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Krege. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 302 S., Abb., geb., 48,- DM.

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"Selten hatte ein Künstler so erfolgreich über die Kunstszene hinaus die Welt erobert wie Haring mit seinen Strichmännchen und Piktogrammen. Von Beginn an beherrschte er virtuos die Verbreitungsmechanismen. New York machte er auf sich aufmerksam, indem er U-Bahnschächte mit Kreidegemälden ausstattete, und seine erste größere Einzelausstellung, 1982 bei Tony Shafrazi, wurde zum überraschenden Medienerfolg. Noch im gleichen Jahr war er, vierundzwanzigjährig, auf der documenta vertreten..." (Sebastian Preuss, Frankfurter Allgemeine Zeitung)