Der ehemalige linke Ministerpräsident aus Thüreingen sprach es laut und deutlich aus, er redete von den braunen A…n, mit verzerrtem Gesicht. Höflichkeit und Taktgefühl fehlen den meisten Politikern, die Anwesenheit dieser Eigenschaften ist einer der Gründe für den Erfolg von Sahra Wagenknecht, die
sich selten aus der Fassung bringen lässt. Sie ist höflich, wahrt also Distanz, und kann auch Momente…mehrDer ehemalige linke Ministerpräsident aus Thüreingen sprach es laut und deutlich aus, er redete von den braunen A…n, mit verzerrtem Gesicht. Höflichkeit und Taktgefühl fehlen den meisten Politikern, die Anwesenheit dieser Eigenschaften ist einer der Gründe für den Erfolg von Sahra Wagenknecht, die sich selten aus der Fassung bringen lässt. Sie ist höflich, wahrt also Distanz, und kann auch Momente der Nähe erzeugen, mithin sehr taktvoll sein.
Baldassare Castiglione (1478-1529) war ein italienischer Höfling, Diplomat und Schriftsteller , der vor allem für seinen Dialog Il libro del cortegiano (1528; Das Buch des Höflings) bekannt ist. Martin Scherer startet sein Buch mit den lesenswerten Gedanken aus diesem ersten Fundus eines Diplomaten. Der Höflichkeit kommt eine relativierende Funktion zu: „Sie vermittelt diskret zwischen Sichtweisen, Temperamenten, Hierarchien und ja, auch zwischen den Geschlechtern.“ Direkte Botschaften, offenes Kritisieren und Herabwürdigen, undenkbar im Spiel der Höflinge.
Aber in der deutschen Kleinstaaterei war es weit weg platziert, im Jenseits des Alltags und der Politik. „Ein übellauniger Protestantismus gibt bis heute den Rest.“ Dagegen tritt der ideale Hofmann auch heute als Virtuose der Selbstinszenierung auf, der seinem Dasein eine zweite Natur zu geben versteht.
Viele Kennzeichnungen in diesem Buch habe ich mir rausgeschrieben, sie sind atemberaubend und treffsicher: so pflegt der Taktvolle eine elastische Distanziertheit zu sich selbst! Die Frage bliebe, wo und wie er die Distanziertheit dann kompensiert.
Ich habe in diesem Buch falsche Verhaltensweisen erkannt, auch die deutsche Direktheit und mich köstlich über die Ideen und Vorteile des Taktes amüsiert. Wendet man das alles für die heutige Multikulti-Vielfalts-Ideologie an, dann wäre durchaus zu kritisieren, dass klare negative Adressierungen nicht mehr erlaubt sind, bei größter Gefahr für das eigene Leben und Handeln.
Höchste Toleranz bei notwendigem öffentlichen Opportunismus, dieses Gemisch kann in der heutigen Social-Media-Gesellschaft tödlich werden. Wenn die Glocke der Toleranz Diskussionen erstickt, werden Höflichkeit und Takt zum Problem.
Trotzdem, man braucht sie im Umgang mit anderen täglich, ungebremste Ehrlichkeit wäre ein Desaster ohne die Anreicherung mit taktvollem Gefühl. Wenn ich ehrlich sein darf, wirken einige Sätze des Buches etwas überspannt, man muss sie des öfteren lesen, sich auseinandersetzen, aber das ist nichts Falsches. Es ist höchst anregend. „Höflichkeit spielt. Höflichkeit schützt. Höflichkeit zivilisiert.“
„Alle Konventionen tendieren zum Faden.“ Trotzdem befrieden sie in einer heftigeren Welt und leider laufen sie oft auch läppisch ins Leere. Der Autor erwähnt die Mission Statements globaler Unternehmen, die sich chamäleonhaft zu den angesagten Werten wie Diversität, Inklusion und Gleichstellung bekennen, ohne die oft problematischen Produktangebote zu reflektieren. Die Liturgie der politischen Korrektheit überzieht zumindest die westliche Welt. „Fragwürdig scheint auch die zugrundeliegende Vorstellung, sämtliche menschlichen Verhältnisse könnten so figuriert werden, dass sie nicht mehr vieldeutig und ambivalent, sondern nur noch von vermeintlich guter, reiner und geordneter Art sind.“ Dieser Satz gefällt mir besonders gut: „Teilen nicht alle Ideologien diese militante Feinsäuberlichkeit miteinander?“ Und natürlich dieser Hinweis: „Muss, wer an ihr zu zweifeln wagt, sich nicht beinahe zwangsläufig von empörten Chören zum Feind erklären lassen?“
Wir bewegen uns im Buch auf den Menschen zu, der feinfühlig verstehen, andeuten und gekonnt reagieren kann: „Taktfähige Existenzen können mit einem Minimalismus im Ausdruck aufwarten, wo dem großen Rest nur der breite Pinsel zur Verfügung steht.“ Sie huldigen dem Gebot des Augenblicks und zeigen lieber das Signal einer gelassenen Co-Ahnungslosigkeit. Diese Menschen begehen keine Taktlosigkeiten, das Vulgäre wie oben vom linken Ministerpräsidenten formuliert, ist ihnen fremd.
„Höflichkeit ist Design, Takt ist Kunst.“ Bis zur Seite 105 durfte ich gespannt sein, um diese Differenzierung zu begreifen. Erst mit diesen beiden Elementen kann jede andere Person begriffen und nicht per se als Vollidiot eingestuft werden, nur so sind Unterhaltungen und Verstehen möglich. Der deutsche Hang nach Ehrlichkeit und Wahrheit steht dem oft entgegen und entfaltet in einer aktuellen Ideologie (Multikulti) seine kompromisslose, unhöfliche, taktlose Ausgrenzung.
Tatsächlich wurde meine Kritik beim Lesen (Hang zur Paraphrase) am Ende des Buches aufgegriffen und zurecht angeführt. Die Möglichkeit zur Würde erfordert das Wiederholen, die Einübung, um das innere Raubtier zu zähmen, ihm Grazie und Eleganz zu verleihen.