Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 1,74 €
Produktdetails
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.09.2010

Einladung an die Taliban
Ahmed Rashid über Fehler der US-Politik in Afghanistan
Der Anruf am Abend des 11. September kam nicht überraschend. Beide Gesprächspartner wussten, dass sich ihre Welt vor wenigen Stunden verändert hatte, nachdem zwei Passagierflugzeuge in die New Yorker Zwillingstürme geflogen waren. Am einen Ende der Telefonleitung sprach Hamid Karsai, ein Paschtune aus dem Süden Afghanistans, der 1994 vor den Taliban nach Pakistan geflohen war und den Islamisten den Mord an seinem Vater vorwarf. Er telefonierte mit seinem Freund Ahmed Rashid, dem wohl besten Kenner des Extremismus in Zentralasien. Vom Ausgang des Gesprächs berichtet Rashid nicht. Auf jeden Fall stieg Karsai wenige Tage später auf ein Motorrad, um nach Afghanistan zu fahren und bei der Rückeroberung des Landes zu helfen, dessen Präsident er bald werden sollte.
Ahmed Rashid publizierte im Jahr 2000 das Buch „Taliban“ , das nach den Anschlägen in New York zum Standardwerk wurde und nun in aktualisierter Fassung erschienen ist. Nach dem 11. September 2001 besuchte er die neuen Verstecke der Taliban, er traf sich weiterhin mit Karsai und wurde einmal von US-Präsident Barack Obama eingeladen. Diese Erfahrungen fasste er in dem Buch „Sturz ins Chaos“ zusammen. Darin beschreibt Rashid verpasste Gelegenheiten bei Afghanistans Wiederaufbau.
Es begann mit Karsais Motorradfahrt in die von Taliban kontrollierte südafghanische Stadt Tarin Kot: Dort versucht Karsai, Paschtunen für den Kampf gegen die Islamisten zu gewinnen, während US-Kampfflugzeuge die Gotteskrieger im Norden des Landes attackieren. Die Taliban erkennen die Gefahr, die Karsai in ihrem Hoheitsgebiet verbreitet, und schicken einen Konvoi von 100 Geländewagen mit insgesamt 1000 Mann, um ihn zu fassen. Doch als eine amerikanische Präzisionsbombe 30 Fahrzeuge des Konvois zerstört, ist der Kampfeswille der Gotteskrieger gebrochen. Wenige Tage später erfährt Karsai noch in Afghanistan, dass er auf der Bonner Konferenz von verschiedenen afghanischen Fraktionen zum Übergangspräsidenten seines Landes bestimmt wurde.
Doch während die Taliban auf der Flucht sind, ergibt sich bereits das erste Hindernis für Afghanistan: das doppelte Spiel der Pakistaner. So sind Anfang November 2001 Tausende Islamisten nördlich der Stadt Kundus in die Enge getrieben. Pakistans Präsident Pervez Musharraf sorgt sich jedoch um Agenten seines Geheimdienstes ISI, die mit den Taliban in Kundus gekämpft haben. Er ruft US-Präsident George W. Bush an und setzt eine Feuerpause durch. In den folgenden Nächten fliegen pakistanische Flugzeuge bis zu 1000 Kämpfer aus – darunter etliche Anführer der Taliban und der al-Qaida. Während die US-Regierung die Aktion leugnet, jubeln ISI-Offiziere über den „Great Escape“, der ihren Einfluss über die Islamisten verstärkt. Amerikanische Soldaten, die die Aktion von einer Anhöhe verfolgen, nennen sie nur „Operation Böse Luftbrücke“.
Damit beschreiben sie auch ein zweites Problem: die verfehlte Strategie der USA. Diese hat 2001 nur das Ziel, Mitglieder von al-Qaida zu fassen. Nachdem es dafür der Hilfe des ISI bedarf, erhält Islamabad freie Hand, die afghanischen Taliban weiter zu stützen, solange nur arabische Al-Qaida-Kämpfer ausgeliefert werden. Zugleich stärkt die CIA gefürchtete Warlords. Bis zum Frühsommer 2002 heuert die CIA 45 000 Söldner an, die auch Zugriff auf versteckte Waffen erhalten, die sie später an die Taliban verkaufen. Die Afghanen erkennen, dass die USA die Taliban durch neue Gewaltherrscher ersetzen.
Somit schafft Washington einen Nährboden an Frustration, auf den die Taliban bei ihrer Rückkehr bauen. Präsident Bush, der sich für den Wiederaufbau des Landes nicht interessiert, konzentriert sich zunehmend auf den geplanten Krieg gegen den Irak. Damit lädt er die Taliban und den ISI förmlich ein, Afghanistan zurückzuerobern. JANEK SCHMIDT
AHMED RASHID: Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch. Aus dem Englischen von Harald Riemann und Rita Seuß. Verlag C. H. Beck, München 2010. 480 Seiten, 14, 95 Euro.
AHMED RASHID: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban. Aus dem Englischen von Alexandra Steffes und Henning Hoff. Edition Weltkiosk, Berlin 2010. 340 Seiten, 19, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr