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In einer nach-apokalyptischen, von Frauen beherrschten Welt, in der Fortpflanzungsideologien zur tödlichen Gefahr werden. Auf der Flucht vor den Witwen, einem Amazonenvolk, das die verfallenden Städte bewohnt, begibt sich der Einzelgänger Talisman auf eine abenteuerliche Odyssee, die ihn zunächst in das ehemalige Hongkong führt, wo seine Füße aus ideologisch-ästhetischen Gründen durch kostbare Prothesen ersetzt werden. Die Rückkehr in seine Heimat wird zu einer skurrilen gulliverhaften Reise, in der Talisman zu einer Schlüsselfigur im Kampf um Freiheit, Selbstbestimmung und kulturelle…mehr

Produktbeschreibung
In einer nach-apokalyptischen, von Frauen beherrschten Welt, in der Fortpflanzungsideologien zur tödlichen Gefahr werden. Auf der Flucht vor den Witwen, einem Amazonenvolk, das die verfallenden Städte bewohnt, begibt sich der Einzelgänger Talisman auf eine abenteuerliche Odyssee, die ihn zunächst in das ehemalige Hongkong führt, wo seine Füße aus ideologisch-ästhetischen Gründen durch kostbare Prothesen ersetzt werden. Die Rückkehr in seine Heimat wird zu einer skurrilen gulliverhaften Reise, in der Talisman zu einer Schlüsselfigur im Kampf um Freiheit, Selbstbestimmung und kulturelle Tradition wird. Schließlich sesshaft geworden, beginnt er einen Krieg gegen die Witwen in seinem Land. Nach einer schweren Niederlage kehrt er wieder nach Hongkong zurück und erlebt dort erste revolutionäre Versuche zur Entwicklung eines neuen Mannes.
Autorenporträt
Viktoras Pivonas wurde 1933 in Litauen geboren. Nach Jahren kriegsbedingter Flucht studierte er in Deutschland Medizin, Psychologie, Philosophie und Astronomie. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war er u. a. als Redakteur tätig und gründete ein Sozial- und Wirtschaftsforschungsinstitut. Pivonas lebt in Wiesbaden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2010

Barbar in der Bibliothek

Der Wiesbadener Schriftsteller Viktoras Pivonas hat 25 Jahre an seinem Roman geschrieben. Nun ist "Talisman" erschienen: der Entwurf einer neuen, phantastischen Welt.

Von André Weikard

Männer gehen auf allen vieren und fressen aus Trögen. Frauen übernehmen die Herrschaft und jagen, foltern und morden das andere Geschlecht. So sieht die Zukunft in Viktoras Pivonas' neuem Roman "Talisman" aus. Mittendrin irrt ein verwirrter Erzähler durch phantastische Welten, in denen Straßenbahnen von Elefanten gezogen werden und "Samenzüchterinnen" aus dem Norden die Fortpflanzung besorgen.

Der Wiesbadener Autor hat eine Geschichte geschrieben, die ganz weit weg ist von der Realität. Das wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Schließlich ist Pivonas Jahrgang 1933, gebürtiger Litauer und blickt auf ein Leben zurück, das als Reservoir von biographischen Geschichten dienen könnte. Die alle erzählt er in "Talisman" nicht. Nicht von seiner Mutter, die im Ersten Weltkrieg vor den Deutschen nach Moskau floh und dort die Revolution miterlebte, nicht von seinem Vater, der sich freiwillig zum Militär meldete, um gegen die Russen zu kämpfen.

Die Familie mit baltischen, polnischen und deutschen Ursprüngen musste auswandern, als Litauen von der Sowjetunion annektiert wurde. Aus Viktoras wurde Viktor, in der deutschen Schule schrieb man Sütterlin und nicht Latein. Aber es gab noch mehr Dinge, die den Achtjährigen in Erstaunen versetzen. In Lodz, wohin die Familie umgesiedelt wurde, gab es Menschen, die einen gelben Stern auf der Kleidung trugen. Der Junge sah sie von der Straßenbahn aus, die durch das Getto fuhr. Gegenüber im Abteil saß ein SS-Offizier.

Eine Heimat fand die Familie Pivonas auch dort nicht. Elfmal wechselte Viktor die Schule. Der Vater arbeitete in Frontnähe als kaufmännischer Leiter von Großprojekten wie Flughäfen. Die letzte Station, der Krieg war vorüber, war Wolfenbüttel. Hier ging Viktor zur Schule, auch im Winter in kurzen Hosen, wenn es keine langen gab, und barfuß, wenn die Schuhe kaputt waren. Er machte sein Abitur. Dass er einmal Schriftsteller werden würde, war ihm damals noch nicht klar. Seinem Vater schon eher. Der wünschte sich, der Sohn würde Journalist. Die Mutter wollte einen Arzt und setzte sich vorläufig durch.

Pivonas ging nach Göttingen, studierte Medizin und später Psychologie in Mainz. Hier lernte er seine zukünftige Frau kennen, hier wechselte er auch die Seiten. Er schrieb mehr für die dortige Studentenzeitung, als dass er sich für seine Studien interessiert hätte, schließlich wurde er Chefredakteur. "Drei Strophen" hieß der Artikel, für den man ihn von der Uni verwies. Um Nationalsozialisten war es in ihm gegangen, die unter Adenauer rehabilitiert worden waren. Pivonas war nicht besonders bekümmert über die Zwangsexmatrikulation, schrieb für den "Wiesbadener Kurier", später in Pressestellen bei der Industrie. Gemeinsam mit seiner Frau gründete er 1973 ein Marktforschungsinstitut. Das Unternehmen florierte. Man gewann Kunden wie Henkel, die Deutsche Bahn und den ADAC, hatte zwischenzeitlich ein knappes Dutzend feste Mitarbeiter, dazu rund 200 freiberufliche Interviewer.

Büros hatte das Ehepaar, das seit 1961 verheiratet ist, 22 Jahre in Offenbach, ein Haus in Obertshausen. Und auch Pivonas' erster Verlag sollte im Rhein-Main-Gebiet sein. Nicht auf der Straße, sondern im Fernsehen sah er Siegfried Unseld, schätzte den Suhrkamp-Verleger und schickte sein erstes Manuskript. Unseld lud den ambitionierten Schriftsteller zum Kritikertreffen und nahm das Buch schließlich in sein Programm auf. "Das Ende der Suche nach dem verlorenen Samowar" erschien 1976 im Insel Verlag. Später, kurz vor Erscheinen des dritten Romans, sprach Pivonas mit Unseld auch über "Talisman", die ersten zwei Kapitel waren damals schon verfasst. Der Verleger biss nicht so richtig an, das Buch blieb lange liegen.

25 Jahre lang arbeitete Pivonas immer wieder in Schüben daran. Ganz anders als bei seinen übrigen Romanen war diese Arbeit. Es gab keine vorskizzierten Kapitel, keinen Handlungsrahmen, nur ein Grundvertrauen, dass die Geschichte einen Weg finden werde, und eine unbestimmte Wut, die Pivonas immer wieder zum Schreiben brachte. Eine Wut, die er mit einer Erinnerung verbindet. Damals, nach dem Krieg, habe er am Bahnhof in Cottbus einen russischen Offizier beobachtet, der einen Soldaten brutal zusammenschlug. Nicht der Offizier habe ihn erschreckt, sondern zwei russische Frauen, die bei ihm standen und lachten. Was sie sagten, hat man ihm später übersetzt: "armes Volk".

Viktoras spricht von einer "bestimmten Art weiblicher Grausamkeit", die ihn zum Schreiben des Romans veranlasst habe. Frauenfeindlich sei sein Roman aber nicht. Neben den männermordenden Amazonen-Kriegerinnen sind die Männer recht erbärmliche Kreaturen, die sich dauernd gegenseitig bekriegen, ihre Abstammung von den Schweinen herleiten und sich auch so benehmen. Der Erzähler ist ein Getriebener, ein Talisman, Glücksbringer, Spielzeug der Frauen. "Ich bin, was ich darstelle", sagt Pivonas. "Ein Barbar, der sich in eine Bibliothek verirrte." Er meint damit seinen Bildungsweg, der alles andere als gradlinig verlief, er meint aber auch die Literatur als Zufluchtsort.

Im Roman findet der Erzähler immer wieder in Bibliotheken Unterschlupf, Bücher werden auswendig gelernt, um sie zu bewahren wie in Ray Bradburys "Fahrenheit 451", während sich draußen farbige und gefährliche Welten befinden, wie Sindbad sie auf seinen Abenteuerreisen erkunden musste und die so bitter satirisch beschrieben werden, wie Jonathan Swift es in "Gullivers Reisen" tat. Reisen unternahm auch Pivonas. Den Dschungel, der in "Talisman" so eine große Rolle spielt, kennt Pivonas so gut wie die Einsamkeit des Protagonisten. Im März ist "Talisman" nun im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen. Voriges Jahr hat Pivonas die Anteile am gemeinsamen Marktforschungsinstitut seiner Frau übertragen. Jetzt wolle er nur noch schreiben, sagt er. Ob es noch für ein Buch reiche, wisse er nicht. Aber mit diesem Thema, mit den Frauen, sei er noch nicht fertig.

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