»Der Ausgangspunkt dieses Buches war eine Elegie für meine Großmutter, die vor drei Jahren starb und die sich weder für den Talmud noch das Internet besonders interessierte. Dennoch weckten ihr Leben und ihr Tod Gedanken in mir, die weit in die dunkle Vergangenheit des Talmuds zurückführen wie auch hinein in die schwer zu fassende technologische Zukunft.« Jonathan Rosens bewegende »Geschichte von zwei Welten« verbindet Reflexionen und persönliche Erinnerungen; sie wird zu einer intellektuellen Reise, die überraschende Parallelen zwischen Talmud und Internet zutage bringt.
Die unerschöpfliche Fülle der rabbinischen überlieferung, die Seiten des Talmud, wie auch das World Wide Web machen die Chance eines Diskurses sichtbar, zu dessen Wesen es gehört, mit Ungewißheiten und Paradoxien zu leben, anstatt sie mit autoritären Sinnstiftungen aufzuheben. Der Talmud mit seinen die Grenzen von Zeit und Ort übergreifenden Debatten sicherte das überleben des Judentums nach der Zerstörung des Tempels. Die Exilsituation, die über Jahrhunderte jüdische Existenz geprägt hat, wird in Rosens Deutung transparent für eine hoffnungsvolle Wahrnehmung der Gegenwart. Indem er die Geschichte der eigenen Familie erzählt, gelingt ihm eine exemplarische Positionsbestimmung jüdischen Lebens in unserer Zeit.
Die unerschöpfliche Fülle der rabbinischen überlieferung, die Seiten des Talmud, wie auch das World Wide Web machen die Chance eines Diskurses sichtbar, zu dessen Wesen es gehört, mit Ungewißheiten und Paradoxien zu leben, anstatt sie mit autoritären Sinnstiftungen aufzuheben. Der Talmud mit seinen die Grenzen von Zeit und Ort übergreifenden Debatten sicherte das überleben des Judentums nach der Zerstörung des Tempels. Die Exilsituation, die über Jahrhunderte jüdische Existenz geprägt hat, wird in Rosens Deutung transparent für eine hoffnungsvolle Wahrnehmung der Gegenwart. Indem er die Geschichte der eigenen Familie erzählt, gelingt ihm eine exemplarische Positionsbestimmung jüdischen Lebens in unserer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2002Surfen im Talmud
Die Links des Herrn sind unergründlich: Jonathan Rosens Essay
Es ist das große Verdienst von Jonathan Rosens leicht dahinsprudelndem, von Christian Wiese exzellent ins Deutsche übertragenem Essay, neue Metaphern gefunden zu haben. Rosens autobiographische Reflexionen in seinem schmalen Band "Talmud und Internet" eruieren die Befindlichkeit des modernen, assimilierten, in der westlichen Literatur bestens bewanderten amerikanischen Juden, der sich dem Judentum und seiner anspruchsvollen literarischen Tradition kulturell und historisch verbunden weiß und der für sich klären möchte, wie Tradition und Moderne, Talmud und Internet, im eigenen Leben koexistieren können.
Die Forschungsreise in die Vergangenheit, die Rosen auch mit Hilfe des Internet unternimmt (das Wort "journey", Reise, ist Teil des amerikanischen Untertitels), führt ihn zur Entdeckung der fundamentalen Modernität, ja Postmodernität des Talmud, seiner Offenheit und umfassenden Reichweite, seiner undogmatischen Flexibilität, seiner grenzenlosen Wißbegier und seinen endlosen Diskussionen über die verschiedensten Themen. Dies alles macht den Talmud für Rosen strukturell dem Internet vergleichbar.
Das talmudische Grundprinzip der dialektischen Koexistenz, der anhaltenden Spannung zwischen zwei unvereinbaren Meinungen oder Lesarten der Welt, die nur im Notfall durch eine dogmatische Entscheidung aufgelöst wird, führt Rosen weiter zur Entdeckung vieler ähnlicher Spannungen in seinem Leben. Er beschreibt seine emotionale Zerrissenheit zwischen seiner ermordeten Wiener und seiner im hohen Alter verstorbenen New Yorker Großmutter, zwischen der "europäischen Katastrophe" und dem "glücklichen Leben amerikanischen Wohlbefindens". Er ergründet seine intellektuelle Zerrissenheit zwischen Jochanan ben Sakkai, einem heldenhaften Gelehrten des ersten Jahrhunderts, und dem assimilierten jüdisch-römischen Historiker Flavius Josephus, einem "Lügner, Feigling und Verräter", dessen Weigerung, zu Ehren des jüdischen Volkes den Märtyrertod zu sterben, Rosen völlig einleuchtet. "Denn", fragt Rosen, Josephus zitierend, "warum sollte man die innigen Bande, die zwischen Körper und Seele, zerreißen?"
Rosen optiert nolens volens für die Unlösbarkeit der Bande und die Unauflösbarkeit der dialektischen Spannungen. Sein Essay ist eine Suche nach Verbindungsstegen. Er findet sie, wie auch der alternde Marcel auf Besuch in Combray schließlich doch noch eine Abkürzung entdeckte, die die Wege zu Swann und zu den Guermantes miteinander verbindet. Rosens Essay ist ein solcher Verbindungspfad, der die Unterschiedlichkeit der Welten, denen Rosen angehört, nicht in Abrede stellt, sondern argumentiert, daß man auf der steten Reise zwischen ihnen zumindest als Schriftsteller gut leben kann.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Jonathan Rosen: "Talmud und Internet". Eine Geschichte von zwei Welten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Wiese. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 113 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Links des Herrn sind unergründlich: Jonathan Rosens Essay
Es ist das große Verdienst von Jonathan Rosens leicht dahinsprudelndem, von Christian Wiese exzellent ins Deutsche übertragenem Essay, neue Metaphern gefunden zu haben. Rosens autobiographische Reflexionen in seinem schmalen Band "Talmud und Internet" eruieren die Befindlichkeit des modernen, assimilierten, in der westlichen Literatur bestens bewanderten amerikanischen Juden, der sich dem Judentum und seiner anspruchsvollen literarischen Tradition kulturell und historisch verbunden weiß und der für sich klären möchte, wie Tradition und Moderne, Talmud und Internet, im eigenen Leben koexistieren können.
Die Forschungsreise in die Vergangenheit, die Rosen auch mit Hilfe des Internet unternimmt (das Wort "journey", Reise, ist Teil des amerikanischen Untertitels), führt ihn zur Entdeckung der fundamentalen Modernität, ja Postmodernität des Talmud, seiner Offenheit und umfassenden Reichweite, seiner undogmatischen Flexibilität, seiner grenzenlosen Wißbegier und seinen endlosen Diskussionen über die verschiedensten Themen. Dies alles macht den Talmud für Rosen strukturell dem Internet vergleichbar.
Das talmudische Grundprinzip der dialektischen Koexistenz, der anhaltenden Spannung zwischen zwei unvereinbaren Meinungen oder Lesarten der Welt, die nur im Notfall durch eine dogmatische Entscheidung aufgelöst wird, führt Rosen weiter zur Entdeckung vieler ähnlicher Spannungen in seinem Leben. Er beschreibt seine emotionale Zerrissenheit zwischen seiner ermordeten Wiener und seiner im hohen Alter verstorbenen New Yorker Großmutter, zwischen der "europäischen Katastrophe" und dem "glücklichen Leben amerikanischen Wohlbefindens". Er ergründet seine intellektuelle Zerrissenheit zwischen Jochanan ben Sakkai, einem heldenhaften Gelehrten des ersten Jahrhunderts, und dem assimilierten jüdisch-römischen Historiker Flavius Josephus, einem "Lügner, Feigling und Verräter", dessen Weigerung, zu Ehren des jüdischen Volkes den Märtyrertod zu sterben, Rosen völlig einleuchtet. "Denn", fragt Rosen, Josephus zitierend, "warum sollte man die innigen Bande, die zwischen Körper und Seele, zerreißen?"
Rosen optiert nolens volens für die Unlösbarkeit der Bande und die Unauflösbarkeit der dialektischen Spannungen. Sein Essay ist eine Suche nach Verbindungsstegen. Er findet sie, wie auch der alternde Marcel auf Besuch in Combray schließlich doch noch eine Abkürzung entdeckte, die die Wege zu Swann und zu den Guermantes miteinander verbindet. Rosens Essay ist ein solcher Verbindungspfad, der die Unterschiedlichkeit der Welten, denen Rosen angehört, nicht in Abrede stellt, sondern argumentiert, daß man auf der steten Reise zwischen ihnen zumindest als Schriftsteller gut leben kann.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Jonathan Rosen: "Talmud und Internet". Eine Geschichte von zwei Welten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Wiese. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 113 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Ein Glanzstück des Genres", ruft Rezensent Dirk Knipphals begeistert. Der New Yorker Intellektuelle Jonathan Rosen habe "Verblüffendes" mitzuteilen, nämlich die "Strukturähnlichkeit des uralten jüdischen Denkens" mit der intellektuellen Energie, wie sie sich im Internet äußert. Um über solches zu sprechen und es zu begründen, bedarf es laut Knipphals der spezifischen Gattung des Essays. Aus der talmudischen Erkenntnis nämlich, dass "Wissensbeherrschung und Ganzheit seit jeher ein Trugbild waren", ergibt sich ein Nebeneinander, das im Essayband seinen treffendsten Ausdruck findet. Der Talmud, in dem Rosen laut Knipphals ein zweitausendjähriges "Weitersage-Spiel" sieht, habe Kommentatoren und Kommentare, Einsichten und Missverständnisse zu einem eklektischen Buch ohne Autorinstanz verquickt, wie auch das Internet eines ist. Auf diesem Terrain, so Knipphals, bewegt sich Rosen "suchend, tastend, ironisch - essayistisch eben".
© Perlentaucher Medien GmbH
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