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Als die junge Regisseurin Jenny Erpenbeck 1999 mit "Geschichte vom alten Kind" ihren ersten Roman vorlegte, ging ein Raunen durch die Feuilletons. Wie schon in diesem furiosen Debüt, ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis, zeigt sich die Autorin auch in ihren Geschichten als Meisterin literarischer Verdichtung. Jenny Erpenbeck erschafft eine verblüffend vielschichtige Prosa, sprachlich präzise und von großer Tiefenschärfe. Ob sie in der Titelgeschichte Szenen aus dem Leben ihrer alternden Großmutter erzählt oder in der preisgekrönten Erzählung "Sibirien" eine aus dem Krieg heimkehrende…mehr

Produktbeschreibung
Als die junge Regisseurin Jenny Erpenbeck 1999 mit "Geschichte vom alten Kind" ihren ersten Roman vorlegte, ging ein Raunen durch die Feuilletons. Wie schon in diesem furiosen Debüt, ausgezeichnet mit dem aspekte-Literaturpreis, zeigt sich die Autorin auch in ihren Geschichten als Meisterin literarischer Verdichtung. Jenny Erpenbeck erschafft eine verblüffend vielschichtige Prosa, sprachlich präzise und von großer Tiefenschärfe. Ob sie in der Titelgeschichte Szenen aus dem Leben ihrer alternden Großmutter erzählt oder in der preisgekrönten Erzählung "Sibirien" eine aus dem Krieg heimkehrende Frau ihren Mann von der Geliebten zurückerobert - und ihn damit endgültig verliert: Immer sind es die Menschen und ihre komplexen Beziehungen, die im Mittelpunkt stehen.

Autorenporträt
Erpenbeck, Jenny§Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u.a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Meer ist auch bloß Wasser
Jenny Erpenbeck entzaubert zauberhaft / Von Pia Reinacher

Ihr literarisches Zaubermittel war von Anfang an der Röntgenblick. Das zeigte sich schon vor zwei Jahren, als Jenny Erpenbeck mit dem Prosatext "Die Geschichte vom alten Kind" ein aufsehenerregendes Debüt feierte. Schon damals war man verblüfft über den beklemmenden Ernst, mit dem sie eine Fieberblase auf den Lippen des geächteten Außenseiterkindes beschreiben und mit dieser winzigen Beobachtung schon fast alles über das Wesen dieses dumpfen, verstoßenen, triebgesteuerten Geschöpfes mitteilen konnte.

Immer, wenn sie ihren scharfen Blick auf die Dinge richtet, verändern sie sich blitzartig. Die Oberfläche schmilzt. Darunter kommt zum Vorschein, was als subkutane Irritation die Figuren bewegt. Ob sie das beim Theater gelernt hat? Jenny Erpenbeck hat sich als Requisiteuse und Ankleiderin an der Staatsoper Berlin versucht, später Theaterwissenschaften und Musiktheaterregie studiert und schließlich als Regisseurin gearbeitet. Jedenfalls stechen auch in ihren neuen Geschichten die ausgeklügelten Bildersequenzen und die überlegt komponierten Szenerien heraus.

Die meisten Texte des Erzählbandes wurden bereits in Zeitungen oder Anthologien publiziert, eine davon, "Sibirien", hat der Autorin im letzten Juni in Klagenfurt den Preis der Jury eingetragen. Nicht alle Geschichten sind auf gleichem Niveau. Aber es ist eine Handvoll darunter, die den Leser sofort in Bann schlägt. "Sibirien" gehört dazu. Mit den ersten Sätzen fällt der Leser mitten ins Drama: "Mein Vater sagt, an den Haaren habe seine Mutter damals ihre Widersacherin aus dem Haus geschleift. Habe sie an den schwarzen Haaren gepackt, im Flur ein- oder zweimal herumgeschleudert und dann aus dem Haus geworfen. Keine Chance hätte sein Vater, mein Großvater, damals gehabt."

Erzählt wird die Geschichte der Großmutter, die zwei Jahre nach Kriegsende aus dem Gefangenenlager heimkehrt, im eigenen Haus den Ehemann mit einer neuen Freundin auffindet und den verlorenen Platz mit rabiater Gewalt zurückerobert. Alles hat die Frau überlebt: die Kälte, den Hunger, die Erniedrigung, den Typhus, den Tod. Auf diesem letzten Feld, dem ureigensten, wird sie nichts hergeben. Wir schauen zu, wie die Frau mit sakraler Würde ins Dorf reitet, eine verwüstete, kahlköpfige Königin; rittlings sitzt sie auf einem Tankwagen, der geisterhafte Triumphzug einer Geschundenen. Genau da, in der Zeichnung dieses gespenstischen Bildes, beweist sich die Imaginationskraft der Autorin - und ihr Blick, der am Theater geschult ist.

Zwei gegenläufige Bewegungen halten dabei den Text in eigenartiger Balance: Hitze und Kälte, Raserei und Distanzierung. Jenny Erpenbeck nämlich wendet einen strukturellen Trick an und bricht die Emotionen, indem sie den Filter der indirekten Rede einschiebt. Es ist der Vater, der seiner Tochter die Geschichte der Großeltern rapportiert. Die Erzählung über mehrere Brechungen schafft Abstand und Spielraum für eigene Rückschlüsse. In ihrer lakonischen Art treibt die Autorin die Verhältnisse voran, bis sie lautlos umkippen in die Katastrophe. Oberflächlich hat die Mutter den Kampf gewonnen. Ihr Mann aber schreibt jetzt Botschaften, die er in den Mauerschlitz beim Haus der Freundin steckt. Immer häufiger sitzt er wortlos im Schuppen, ihre Briefe in den Händen. Er trinkt. Er schweigt. Er zerbricht. Als er im Sterben liegt, steht die Freundin auf der anderen Straßenseite, schweigend.

Auch in diesem Buch erweist sich Jenny Erpenbeck als kühle Analytikerin menschlicher Beziehungen. Ihr Gebiet sind dabei die Relationen zwischen Mann und Frau, wobei sie sich zusätzlich beliebig steigern kann, wenn eine Dreieckskonstellation vorliegt. Der Dritte muß gar nicht erst auf der Spielfläche auftauchen. In der hinreißenden Geschichte "a ist gleich v durch t" heißt die Leerstelle vorerst kurz und bündig "Drecksfaktor". Im Gegensatz zur Mathematik, sagt nämlich der Vater, sei das Interessante an der Physik, daß man sehen könne, daß nicht alles berechenbar sei, was vorkomme. Ein Drecksfaktor eben, der urplötzlich in Form von Kontoauszügen Gestalt bekommt, welche der Mutter in die Hände fallen und Abzüge über all die Ehejahre ausweisen. Die Lösung der Formel? Ein aus dem Nichts auftauchender Halbbruder, der ein paar Straßenzüge neben der Erzählerin aufgewachsen ist.

Und wieder demonstriert die Autorin, daß sie ohne Moral und ohne Erklärung auskommt und dabei zu einprägsamen Bildern findet. Der Physiker und das Meer zum Beispiel. Der Vater lebt jetzt in einer Einzimmerwohnung. Ein einziges Bild hat er von zu Hause mitgenommen. Es weist auf das Meer. Hier sei vor Jahrmillionen die Erde auseinandergebrochen, Schollen seien entstanden, die auseinanderdrifteten. Das sogenannte Meer, erklärt er, sei nichts anderes als Wasser, das sich breitgemacht habe in den Rissen zwischen den Schollen.

So unprätentiös die Geschichten daherkommen, so raffiniert verhüllen sie ihren wahren Kern. Auf imponierende Weise belegt das die Titelgeschichte des Bandes, "Tand". Schon lange nicht mehr ist von einer jungen Autorin Altwerden, Sterben und Untergang auf derart diskrete und subtile Weise zur Sprache gebracht worden. Wir ahnen, worauf es hinausläuft, als wir zusehen, wie die Großmutter sich zum täglichen Bad langsam in den See hinaus bewegt, "den toten Mann macht" und sich treiben läßt. Wir übersehen die feinen Signale nicht, die am Horizont wetterleuchten: als wir hören, wie die Schauspielerin hinter der Milchglasscheibe "Tand, Tand! Ist das Gebilde von Menschenhand!" rezitiert und die Zeile plötzlich nicht mehr vollenden kann; als wir zusehen, wie sie plötzlich nicht mehr auftreten will und statt dessen die Enkelin vorschickt; als die Rollen wie zerknitterte Häute von ihr fallen und die Enkelin sie eines Morgens hinter der verschlossenen Türe lachen hört, aber nicht so wie im Theater, sondern zart, wie ein junges Mädchen, als sei das Kinderlachen zurückgekehrt. Und so sind wir nicht erstaunt, als sie zum Schluß auf die Frage nach dem Ziel nur noch meint, sie sei "auf dem Weg zum Goldenen Vlies".

Kaum einmal fällt in dieser Erzählung das Wort "Tod". Und doch ist Jenny Erpenbeck mit "Tand" eine ebenso komprimierte wie eindringliche Beschreibung des Lebens auf die Auslöschung, auf das finale Verschwinden hin gelungen. Kein leichtes Spiel für einen Schriftsteller. An diesem Punkt weiß der Leser, daß er sich bei dieser Autorin noch auf einiges gefaßt machen muß.

Jenny Erpenbeck: "Tand". Erzählungen. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2001. 117 S., geb., 32,- DM.

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