Die Bewohner eines einsam gelegenen Hofes werden erschlagen aufgefunden. Eigenbrötler sollen sie gewesen sein, bauernschlau und geizig. Der Leser wird Zeuge des Verbrechens, das auf einem authentischen Fall beruht, und begleitet jeden Schritt des Mörders, ohne dessen Identität zu kennen. Schließlich entfalten sich die traumatischen Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft, die dazu führten, dass einer von ihnen grausam Rache nahm.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2007Der Herrgott und die Seinigen
Die nackte kalte Welt der Andrea Maria Schenkel
Wer das Grauen sucht, ist auf dem Land nie verkehrt. Wenn dort – anders als in multikulturellen, multiethnischen, multinationalen Städten, wo man das Verbrechen als beinah logische Folge ungelöster Konflikte betrachtet – ein Mord geschieht, schallt es wie automatisch aus dem Wald: Von uns war’s keiner! Warum eigentlich nicht? Weil in den Dörfern, Weilern und Siedlungen lauter lautere, tiefgläubige Seelen wohnen, die das fünfte Gebot achten und das Alte Testament seit jeher überblättern? Weil der Herrgott das nicht will, dass einer gegen den anderen die Hand erhebt? Oder das Beil? Oder die Spitzhacke?
„Ich bin fest der Meinung, es kann keiner aus unserer Mitte der Täter sein. Keinem meiner Gemeindemitglieder würde ich solch eine Tat zutrauen. Solch eine teuflische Tat kann doch kein rechtschaffener Christ verübt haben.” So spricht Hochwürden Meißner, und so denken die meisten, eigentlich alle, sogar der Täter. Der fühlt sich irgendwie außerirdisch. Oder überirdisch. Oder unterirdisch, praktisch teuflisch. Wie denn auch sonst? Alles hängt mit dem Herrgott zusammen und mit seinem gestürzten Engel Luzifer. Denn dieser macht keinen Bogen um das Land, wo immer er einen Menschen erkennt – und sei es in Hinterkaifeck oder in Tannöd –, wittert er einen Wirt für das Böse, um es ihm einzupflanzen wie einen Parasiten auf Lebenszeit.
Andrea Maria Schenkel lebt mit ihrer Familie in Regensburg, sie kennt ihre Pappenheimer. Und wer aus einer Gegend stammt, in der Kardinal Joseph Ratzinger gelehrt und gewirkt hat (mit der Folge, dass sein Wirken späterhin Papst-Semmeln, Papst-Kuchen und allerlei sonstiges profanes Papst-Zeug hervorbrachte), dem gerät vermutlich zwangsläufig die Wahrnehmung des täglichen Miteinanders zu einer Studie des mordsmäßig Unheiligen hinter dem rosenkranzbeseelten Antlitz. Vor allem, wenn so jemand seinen ersten Roman (Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Roman. Edition Nautilus, 12,90 Euro) plant.
Also ließ sich Andrea Maria Schenkel bei ihrem Debüt von der Realität inspirieren, einem Mordfall aus dem oberbayerischen Hinterkaifeck bei Schrobenhausen. Sechs Menschen, unter ihnen zwei Kinder, fielen dort im Frühjahr 1922 einem bis heute ungeklärten Verbrechen zum Opfer. Nachdem der Münchner Journalist Peter Leuschner über die unheimlichen Ereignisse auf dem Einödhof bereits zwei Sachbücher verfasst hatte, verlagerte Andrea Maria Schenkel das Geschehen ins rurale Niemandsland und nannte es Tannöd. Zudem spielt ihr Roman nicht in den zwanziger Jahren, sondern 1955, Nazizeit und Nachkriegszeit wabern wie giftiger Nebel über die Wiesen und Felder und in die Stuben der sechs Hauptfiguren, deren Leben in der Nacht zum 19. März auf grausige Weise zu Ende geht.
„Wie bereits berichtet”, zitiert Schenkel aus einem fiktiven Zeitungsartikel, „wurden am vergangenen Dienstag die Leichen des Landwirts Hermann Danner sowie seiner Frau Theresia, seiner Tochter Barbara Spangler, deren Kinder Marianne und Josef und die der als Magd auf dem Anwesen beschäftigten Maria Meiler aufgefunden.” Tatwaffe war eine im Heustadel gefundene Spitzhacke. Die Magd Maria hatte gerade ihren ersten Tag auf dem abgelegenen Einödhof hinter sich gebracht.
In wechselnden Monologen und knapp gehaltenen, auktorial erzählten Passagen – unterbrochen von Fürbitten aus der Liturgie – lässt die Autorin Leute zu Wort kommen, die die Familie zwar kannten, aber eigentlich nur aus der Ferne. Wer näher mit dem mürrischen Bauern zu tun hatte, findet auch nach dessen Tod nicht gerade christliche Worte für ihn. „Eigenbrötlerisch” sei er gewesen, tyrannisch, geizig, brutal, verschlagen, unberechenbar. Und jeder in der Gemeinde Einhausen, zu der Tannöd gehört, wusste: Die Kinder Marianne und Josef waren nicht von Vinzenz Spangler, dem auf dubiose Weise nach Amerika verschwundenen Ehemann der Danner-Tochter, und auch nicht vom Landwirt Georg Hauer, der ein Verhältnis mit der Barbara hatte und dann von ihr derart abserviert wurde, dass er sich von dieser Schmach nie wieder erholte. Der zweijährige Josef und die achtjährige Marianne entstanden aus der inzestuösen Verbindung zwischen Vater und Tochter. Die Mutter schaute zu, indem sie wegschaute.
Muss man sagen: So geht’s zu auf dem Land? Oder zumindest früher?
Ein 120-Seiten-Roman in karger Sprache, ein Regionalkrimi, dessen Straßen man nicht abgehen, dessen Winkel man nicht fotografieren, dessen Gerichte man nicht nachkochen kann und dessen Menschen man nicht unbedingt begegnen möchte. Und doch die wahrhaftige Erzählung einer Schriftstellerin, die es ernst meint mit ihren Pappenheimern, bis in deren erkaltete Herzen hinein. „Diese Sippschaft da draußen ist vom Luzifer geholt worden”, sagt die Pfarrersköchin und will ihn sogar „mit Hut und Feder auf dem Kopf” gesehen haben. Und der Mörder – kein Fremder, kein Außerirdischer, keiner aus der Stadt – schreit zum Himmel hinauf: „Es gibt keinen Gott auf dieser Welt, es gibt nur die Hölle.”
Wer das Grauen sucht, ist auf dem katholischen Land nie verkehrt.
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Die nackte kalte Welt der Andrea Maria Schenkel
Wer das Grauen sucht, ist auf dem Land nie verkehrt. Wenn dort – anders als in multikulturellen, multiethnischen, multinationalen Städten, wo man das Verbrechen als beinah logische Folge ungelöster Konflikte betrachtet – ein Mord geschieht, schallt es wie automatisch aus dem Wald: Von uns war’s keiner! Warum eigentlich nicht? Weil in den Dörfern, Weilern und Siedlungen lauter lautere, tiefgläubige Seelen wohnen, die das fünfte Gebot achten und das Alte Testament seit jeher überblättern? Weil der Herrgott das nicht will, dass einer gegen den anderen die Hand erhebt? Oder das Beil? Oder die Spitzhacke?
„Ich bin fest der Meinung, es kann keiner aus unserer Mitte der Täter sein. Keinem meiner Gemeindemitglieder würde ich solch eine Tat zutrauen. Solch eine teuflische Tat kann doch kein rechtschaffener Christ verübt haben.” So spricht Hochwürden Meißner, und so denken die meisten, eigentlich alle, sogar der Täter. Der fühlt sich irgendwie außerirdisch. Oder überirdisch. Oder unterirdisch, praktisch teuflisch. Wie denn auch sonst? Alles hängt mit dem Herrgott zusammen und mit seinem gestürzten Engel Luzifer. Denn dieser macht keinen Bogen um das Land, wo immer er einen Menschen erkennt – und sei es in Hinterkaifeck oder in Tannöd –, wittert er einen Wirt für das Böse, um es ihm einzupflanzen wie einen Parasiten auf Lebenszeit.
Andrea Maria Schenkel lebt mit ihrer Familie in Regensburg, sie kennt ihre Pappenheimer. Und wer aus einer Gegend stammt, in der Kardinal Joseph Ratzinger gelehrt und gewirkt hat (mit der Folge, dass sein Wirken späterhin Papst-Semmeln, Papst-Kuchen und allerlei sonstiges profanes Papst-Zeug hervorbrachte), dem gerät vermutlich zwangsläufig die Wahrnehmung des täglichen Miteinanders zu einer Studie des mordsmäßig Unheiligen hinter dem rosenkranzbeseelten Antlitz. Vor allem, wenn so jemand seinen ersten Roman (Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Roman. Edition Nautilus, 12,90 Euro) plant.
Also ließ sich Andrea Maria Schenkel bei ihrem Debüt von der Realität inspirieren, einem Mordfall aus dem oberbayerischen Hinterkaifeck bei Schrobenhausen. Sechs Menschen, unter ihnen zwei Kinder, fielen dort im Frühjahr 1922 einem bis heute ungeklärten Verbrechen zum Opfer. Nachdem der Münchner Journalist Peter Leuschner über die unheimlichen Ereignisse auf dem Einödhof bereits zwei Sachbücher verfasst hatte, verlagerte Andrea Maria Schenkel das Geschehen ins rurale Niemandsland und nannte es Tannöd. Zudem spielt ihr Roman nicht in den zwanziger Jahren, sondern 1955, Nazizeit und Nachkriegszeit wabern wie giftiger Nebel über die Wiesen und Felder und in die Stuben der sechs Hauptfiguren, deren Leben in der Nacht zum 19. März auf grausige Weise zu Ende geht.
„Wie bereits berichtet”, zitiert Schenkel aus einem fiktiven Zeitungsartikel, „wurden am vergangenen Dienstag die Leichen des Landwirts Hermann Danner sowie seiner Frau Theresia, seiner Tochter Barbara Spangler, deren Kinder Marianne und Josef und die der als Magd auf dem Anwesen beschäftigten Maria Meiler aufgefunden.” Tatwaffe war eine im Heustadel gefundene Spitzhacke. Die Magd Maria hatte gerade ihren ersten Tag auf dem abgelegenen Einödhof hinter sich gebracht.
In wechselnden Monologen und knapp gehaltenen, auktorial erzählten Passagen – unterbrochen von Fürbitten aus der Liturgie – lässt die Autorin Leute zu Wort kommen, die die Familie zwar kannten, aber eigentlich nur aus der Ferne. Wer näher mit dem mürrischen Bauern zu tun hatte, findet auch nach dessen Tod nicht gerade christliche Worte für ihn. „Eigenbrötlerisch” sei er gewesen, tyrannisch, geizig, brutal, verschlagen, unberechenbar. Und jeder in der Gemeinde Einhausen, zu der Tannöd gehört, wusste: Die Kinder Marianne und Josef waren nicht von Vinzenz Spangler, dem auf dubiose Weise nach Amerika verschwundenen Ehemann der Danner-Tochter, und auch nicht vom Landwirt Georg Hauer, der ein Verhältnis mit der Barbara hatte und dann von ihr derart abserviert wurde, dass er sich von dieser Schmach nie wieder erholte. Der zweijährige Josef und die achtjährige Marianne entstanden aus der inzestuösen Verbindung zwischen Vater und Tochter. Die Mutter schaute zu, indem sie wegschaute.
Muss man sagen: So geht’s zu auf dem Land? Oder zumindest früher?
Ein 120-Seiten-Roman in karger Sprache, ein Regionalkrimi, dessen Straßen man nicht abgehen, dessen Winkel man nicht fotografieren, dessen Gerichte man nicht nachkochen kann und dessen Menschen man nicht unbedingt begegnen möchte. Und doch die wahrhaftige Erzählung einer Schriftstellerin, die es ernst meint mit ihren Pappenheimern, bis in deren erkaltete Herzen hinein. „Diese Sippschaft da draußen ist vom Luzifer geholt worden”, sagt die Pfarrersköchin und will ihn sogar „mit Hut und Feder auf dem Kopf” gesehen haben. Und der Mörder – kein Fremder, kein Außerirdischer, keiner aus der Stadt – schreit zum Himmel hinauf: „Es gibt keinen Gott auf dieser Welt, es gibt nur die Hölle.”
Wer das Grauen sucht, ist auf dem katholischen Land nie verkehrt.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die Besonderheit von Andrea Maria Schenkels ohnehin schon "großartigem" Romandebüt ist für Tobias Gohlis, dass Schenkel das "Verstummen" selbst zum Thema macht, dass die Beteiligten angesichts einer Mordtat befällt. Die Erzählerin kehrt in ihr Heimatdorf zurück, in dem eine ganze Familie ermordet wurde. Die Autorin umgehe Tatort und Tat in kreisenden Bewegungen, in einer "knappen, ungeheuer dichten Annäherung", wie der faszinierte Rezensent befindet. Nur einmal, in einem "kurzen, schaurigen Moment", wird das Verbrechen direkt verbildlicht. "Selten ist lakonischer auf die Einsicht hingewiesen worden, dass es 'keinen Gott gibt auf dieser Welt'", resümiert Gohlis voller Bewunderung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ein extrem reduziertes Buch: 125 eindringliche Seiten, ein Skelett mit Zeugenprotokollen und sparsamsten Erzählpassagen, erzählen vom Mord an sechs Menschen auf einem bayerischen Aussiedlerhof in den 50er Jahren, wo weder Aufklärung noch Moderne je angekommen sind. Weil das eigentliche Thema von "Tannöd" aber Heuchelei, Dumpfheit und Bigotterie ist, deshalb könnte dieser schöne und bemerkenswerte Krimi überall und zu jeder Zeit in Deutschland spielen. (Denis Scheck in "Druckfrisch" in "Das Erste ARD")
"Fabelhaft. Ein unglaubliches Buch!" Elke Heidenreich in "Lesen!"