Tante Martl ist scheinbar unscheinbar, in Wahrheit aber ganz besonders. Der Leser spürt es gleich an der Art, wie sie ihre Telefonanrufe eröffnet: mit einem Stöhnen, dem ein unerwarteter Satz folgt. Geboren als dritte Tochter eines Vaters, der nur Söhne wollte, ist Martl die ungeliebte Jüngste, die keinen Mann findet, dafür aber einen Beruf als Volksschullehrerin. Nie verlässt sie die westpfälzische Kleinstadt, in der sie geboren wurde, ja nicht einmal ihr Elternhaus. Und obwohl sie ihren Vater jahrelang pflegt, während ihre Schwestern Familien gründen, bewahrt sie ihre Selbstständigkeit. Wie Tante Martl das schafft und in hohem Alter noch einen großen Fernsehauftritt bekommt, erzählt Ursula März mit staunender Empathie und widerständigem Humor.
buecher-magazin.deTante Martl ist die Tante und Patin der Literaturkritikerin Ursula März. Tante Martl ist eine, die anruft und ins Telefon stöhnt, weil „de dumm Lackaff“ Gottschalk am Abend vorher wieder „Wetten dass …?“ moderiert hat, eine, die ein Butterbrot eine „redlisch Mahlzeit“ nennt. Tante Martl, geboren 1925 im westpfälzischen Zweibrücken, war Lehrerin, gebildet, niemals verheiratet und blieb kinderlos. Sie besaß, im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern, schon in den Fünfzigerjahren ein Bankkonto und Auto. Ihre Gefühle zum eigentlichen Kindheitstrauma holen sie erst im Altersheim ein. Der Vater hatte auf dem Standesamt zunächst den Namen Martin angegeben, aus Enttäuschung über das Geschlecht seines dritten Kindes. Facettenreich erzählt Ursula März von der tragischen Komik dieser Episode und wie Martl, nach Jahren der Leugnung ihres Leides, das sie durch die Ablehnung des Vaters erfuhr, doch noch schimpft: „Die habbe e Bub aus mir gemacht!“ Tante Martl ist eine zärtliche und gleichzeitig augenöffnende Hommage an eine Frau, die für ihre Zeit zu selbstständig war, um sich einzufügen, die Stil und Abenteuerlust besaß und sich dennoch nie von ihrem provinziellen, patriarchalischen Elternhaus lösen konnte. Die den Vater noch pflegt, der ihr seine Liebe vorenthielt.
© BÜCHERmagazin, Meike Dannenberg (md)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2019Die Martl, die ein Martin hätte werden sollen
Ursula März gewinnt aus ihrer Familiengeschichte den Stoff für einen bewegenden Roman
Dieser Roman kommt so leise, so unaufgeregt daher, dass man ihn beinahe übersehen könnte, was ein großes Pech wäre, weil er einem die Protagonistin Tante Martl mit all ihren Widersprüchen und Verschrobenheiten derart nahebringt, dass man am Ende beinahe Traurigkeit beim Abschiednehmen spürt. "Tante Martl", das ist auch der Titel des autobiographischen Romans der Literaturkritikerin Ursula März. Er erzählt die Geschichte Martinas, der dritten Tochter der Familie, des Nesthäkchens, geboren an einem Juni-Sonntag 1925. Nur hat sich der Vater so innig einen Sohn gewünscht, dass er seine Tochter als Martin ins Geburtsregister der pfälzischen Kleinstadt eintragen lässt.
Eine brutale Geste der Ablehnung, die der kleinen Martina von Beginn an ihren festen Platz in der Familie zuweist: am Rand. Rutscht des Vaters Hand aus, was sie häufig tut, trifft es weder die prinzessinnenhafte Rosemarie noch Bärbel, sondern immer Martl. Doch deren Position im familiären Abseits, das Kleinhalten, die Züchtigungen, all das hindert Martl nicht daran, ihren Weg zu gehen und sich Freiheiten zu erkämpfen, die für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich waren.
Ursula März erzählt im Grunde, und das macht diesen Roman besonders, feinfühlig zwei Versionen eines Lebens. In einer Version ist Martl die stets Hintangestellte, die trotz aller Zurückweisungen ihr Elternhaus nie verlassen wird, die - nicht eben mit Schönheit gesegnet - keinen Mann abkriegt und sich immer viel kleiner macht, als sie in Wahrheit ist. "Zwei Schwestern heirateten, bauten ihre eigenen Familien auf, sparten auf ihre eigenen Häuser, die dritte nicht. Ich bezweifle, dass ihr Vater je das Paradoxe dieses Musters erkannte. Ausgerechnet die Tochter, die er am wenigsten gewollt hatte, wurde die Stütze seines Lebens", schreibt Ursula März. Die ewig treue Tochter (und ewige Junggesellin) hält weit über den Tod der Eltern hinaus die Stellung im Haus, dessen Verkauf ihr wie ein Verrat vorgekommen wäre.
Die andere, die zweite Version erzählt von einer ihren verheirateten Schwestern in vieler Hinsicht weit überlegenen Frau, die schon in den fünfziger Jahren den Führerschein macht, sich ein Auto kauft, als Volksschullehrerin arbeitet, reist, sogar einmal im Fernsehen auftritt und Herrin über ihre Finanzen ist, während ihre Schwestern nicht einmal ein eigenes Bankkonto besitzen. Geschweige denn, dass sie auch nur die geringste Ahnung davon hätten, was ein Ölwechsel ist. Dass all die Freiheiten, die heute selbstverständlich genossen werden, hart erkämpft werden mussten, auch daran erinnert einen "Tante Martl": Von welchem Leben durfte man als Frau damals träumen, welches Leben erwarten, und was macht man eigentlich selbst aus all den Freiheiten in einer Multioptionsgesellschaft?
Der in den Tiefen der Psyche vergrabene Schmerz über die kontinuierliche Bevorzugung ihrer Schwestern aber bricht am Lebensende, demenzumnebelt, noch einmal aus Martl heraus. Sie hat die ihr zugefügte himmelschreiende Ungerechtigkeit nie überwunden - wie auch?
Ursula März, von Martl "Ursi" genannt, bleibt stets dicht an ihrer Tante, bewegt sich erzählerisch nie weiter als nötig von ihr fort. Gleichzeitig behält sie die Familiendynamik - besonders die erbitterte und prägende Konkurrenz zwischen Rosemarie (Rössche) und Martl - im Blick, und man wundert sich, dass es angesichts der oft bösartigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden nie zu einem endgültigen Bruch kommt. Lange Zeit fällt der schönen, sich in Adels- und Großbürgertumwelten hineinphantasierenden Rosemarie alles in den Schoß, auch einen geeigneten Gatten findet sie, Mediziner und Sprössling einer wohlhabenden Familie, der ihre Sehnsüchte befriedigt. Er fällt im Krieg. Die große Liebe ist tot, und Rosemarie, die zwar jemand anderen heiratet und Kinder bekommt, erholt sich nie wirklich von diesem Schicksalsschlag. Liest man Ursula März' Roman auch als eine (Neben-)Geschichte über seelische Widerstandsfähigkeit, so kommt die schon als Kind oft auf sich selbst gestellte Martl mit den Tiefen des Lebens am Ende besser zurecht als Rosemarie. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist freilich hoch. Das Buch, das mit Martls Geburt und der Namenslüge beginnt, endet mit Martls Tod, und auch da spielt der Name eine Rolle. Um sicherzugehen, dass der Steinmetz auch die richtigen Buchstaben in die Grabplatte eingraviert, sucht Ursi ihn noch einmal auf - und am Tag der Beerdigung steht er natürlich auf dem Stein, der richtige Name: Martina.
MELANIE MÜHL
Ursula März:
"Tante Martl".
Roman.
Piper Verlag, München 2019. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ursula März gewinnt aus ihrer Familiengeschichte den Stoff für einen bewegenden Roman
Dieser Roman kommt so leise, so unaufgeregt daher, dass man ihn beinahe übersehen könnte, was ein großes Pech wäre, weil er einem die Protagonistin Tante Martl mit all ihren Widersprüchen und Verschrobenheiten derart nahebringt, dass man am Ende beinahe Traurigkeit beim Abschiednehmen spürt. "Tante Martl", das ist auch der Titel des autobiographischen Romans der Literaturkritikerin Ursula März. Er erzählt die Geschichte Martinas, der dritten Tochter der Familie, des Nesthäkchens, geboren an einem Juni-Sonntag 1925. Nur hat sich der Vater so innig einen Sohn gewünscht, dass er seine Tochter als Martin ins Geburtsregister der pfälzischen Kleinstadt eintragen lässt.
Eine brutale Geste der Ablehnung, die der kleinen Martina von Beginn an ihren festen Platz in der Familie zuweist: am Rand. Rutscht des Vaters Hand aus, was sie häufig tut, trifft es weder die prinzessinnenhafte Rosemarie noch Bärbel, sondern immer Martl. Doch deren Position im familiären Abseits, das Kleinhalten, die Züchtigungen, all das hindert Martl nicht daran, ihren Weg zu gehen und sich Freiheiten zu erkämpfen, die für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich waren.
Ursula März erzählt im Grunde, und das macht diesen Roman besonders, feinfühlig zwei Versionen eines Lebens. In einer Version ist Martl die stets Hintangestellte, die trotz aller Zurückweisungen ihr Elternhaus nie verlassen wird, die - nicht eben mit Schönheit gesegnet - keinen Mann abkriegt und sich immer viel kleiner macht, als sie in Wahrheit ist. "Zwei Schwestern heirateten, bauten ihre eigenen Familien auf, sparten auf ihre eigenen Häuser, die dritte nicht. Ich bezweifle, dass ihr Vater je das Paradoxe dieses Musters erkannte. Ausgerechnet die Tochter, die er am wenigsten gewollt hatte, wurde die Stütze seines Lebens", schreibt Ursula März. Die ewig treue Tochter (und ewige Junggesellin) hält weit über den Tod der Eltern hinaus die Stellung im Haus, dessen Verkauf ihr wie ein Verrat vorgekommen wäre.
Die andere, die zweite Version erzählt von einer ihren verheirateten Schwestern in vieler Hinsicht weit überlegenen Frau, die schon in den fünfziger Jahren den Führerschein macht, sich ein Auto kauft, als Volksschullehrerin arbeitet, reist, sogar einmal im Fernsehen auftritt und Herrin über ihre Finanzen ist, während ihre Schwestern nicht einmal ein eigenes Bankkonto besitzen. Geschweige denn, dass sie auch nur die geringste Ahnung davon hätten, was ein Ölwechsel ist. Dass all die Freiheiten, die heute selbstverständlich genossen werden, hart erkämpft werden mussten, auch daran erinnert einen "Tante Martl": Von welchem Leben durfte man als Frau damals träumen, welches Leben erwarten, und was macht man eigentlich selbst aus all den Freiheiten in einer Multioptionsgesellschaft?
Der in den Tiefen der Psyche vergrabene Schmerz über die kontinuierliche Bevorzugung ihrer Schwestern aber bricht am Lebensende, demenzumnebelt, noch einmal aus Martl heraus. Sie hat die ihr zugefügte himmelschreiende Ungerechtigkeit nie überwunden - wie auch?
Ursula März, von Martl "Ursi" genannt, bleibt stets dicht an ihrer Tante, bewegt sich erzählerisch nie weiter als nötig von ihr fort. Gleichzeitig behält sie die Familiendynamik - besonders die erbitterte und prägende Konkurrenz zwischen Rosemarie (Rössche) und Martl - im Blick, und man wundert sich, dass es angesichts der oft bösartigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden nie zu einem endgültigen Bruch kommt. Lange Zeit fällt der schönen, sich in Adels- und Großbürgertumwelten hineinphantasierenden Rosemarie alles in den Schoß, auch einen geeigneten Gatten findet sie, Mediziner und Sprössling einer wohlhabenden Familie, der ihre Sehnsüchte befriedigt. Er fällt im Krieg. Die große Liebe ist tot, und Rosemarie, die zwar jemand anderen heiratet und Kinder bekommt, erholt sich nie wirklich von diesem Schicksalsschlag. Liest man Ursula März' Roman auch als eine (Neben-)Geschichte über seelische Widerstandsfähigkeit, so kommt die schon als Kind oft auf sich selbst gestellte Martl mit den Tiefen des Lebens am Ende besser zurecht als Rosemarie. Der Preis, den sie dafür bezahlt, ist freilich hoch. Das Buch, das mit Martls Geburt und der Namenslüge beginnt, endet mit Martls Tod, und auch da spielt der Name eine Rolle. Um sicherzugehen, dass der Steinmetz auch die richtigen Buchstaben in die Grabplatte eingraviert, sucht Ursi ihn noch einmal auf - und am Tag der Beerdigung steht er natürlich auf dem Stein, der richtige Name: Martina.
MELANIE MÜHL
Ursula März:
"Tante Martl".
Roman.
Piper Verlag, München 2019. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2019Die Kinder der
Schweigekinder
Ursula März, „Tante Martl“ und die Nachkriegszeit
Alleinstehende Frauen kommen als Hauptfiguren in der Literaturgeschichte kaum vor. Obwohl es sie zu allen Zeiten gegeben haben muss, als unverheiratete Adlige, Dienstmädchen, Nonnen, Hausdamen, Pflegerinnen. Aber anders als der männliche Junggeselle und Abenteurer sind sie kein Typus geworden. Die titelgebende „Tante Martl“ einer autobiografischen Erzählung von Ursula März ist schon deswegen eine ungewöhnliche Figur: „Meine Tante war Lehrerin von Beruf“, schreibt März: „Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken.“
Dieser Frau gibt die Literaturkritikerin März jetzt eine Geschichte. Aber nicht mit der heroischen Geste, mit der seit einiger Zeit „ungehörte Stimmen“ dem Vergessen entrissen werden sollen. Wobei die Stimme der Tante einem ziemlich in den Ohren klingt, wegen des pfälzischen Dialekts, den März aufzeichnet: „Ursi, kommsche mol her?“ – in einem seltenen Moment von Zerwürfnis zwischen Nichte und Tante – „Wir kenne all net aus unserer Haut, isch net und du net.“
Den Grundton des Buches gibt März’ humorvolle Faszination für ihre Verwandte vor. So erzählt man bei langen Abendessen Merkwürdigkeiten aus der Familiengeschichte. Aber mit der Hälfte des Buches wandelt sich die Haltung der Erzählerin zu ihrer Figur. Sie nimmt Abstand zur Rolle der Tante in der Familie und stellt sie sich noch einmal vor, als die belesene, pragmatische und in der Welt herumgekommene Frau, die sie offenbar auch war. Damit steht sie vor dem „Lebensrätsel“ der Tante: Warum sie keine Familie gegründet hat, warum sich die so unzeitgemäß eigenständige Martl den engen Banden ihrer Herkunftsfamilie völlig ergeben hat.
In dieser Familie gab es drei Schwestern, „Sie hießen Barbara, Rosemarie und Martina“. Von der ältesten, Bärbl genannt, heißt es, ihre Bedürfnisse „fügten sich so glatt in bürgerliche Konventionen, dass sie nie auf Widerstand stießen“. Ein Reinlichkeitsfimmel ist ihre hervorstechende Eigenschaft. Die mittlere, Rosa, die Mutter der Erzählerin, ist das Lieblingskind des Vaters, mit hochfliegenden Träumen, einem Hang zu Genäschigkeit und Hypochondrie. Dann kommt die dritte Tochter zur Welt. Der Vater nickt nur, als der Standesbeamte den angezeigten Vornamen falsch versteht und fragt, „isch e Bub?“: „Sieben Tage lang war ihr Vater nicht bereit, sich mit der Tatsache abzufinden, dass auch dieses Kind ein Mädchen geworden war.“ Eine witzige Anekdote, aber nicht harmlos, denn der Vater bleibt hart und gewalttätig zu Martl. Und sie selbst trägt lebenslang das Gefühl mit sich herum, „falsch“ zu sein.
Es nimmt einen sehr für dieses Buch ein, wie März ihre eigenen Erwartungen und Fragen als Spiegel für die Figuren der drei Schwestern zur Verfügung stellt, sich aber sonst eher zurückhält. Sie spürt „etwas unnormal Grausames“ in den Geschwisterstreits zwischen Martl und Rosa, ist gelegentlich genervt von der Unerbittlichkeit der Tante gegen sich selbst. Zum Beispiel erachtet sich Martl der besten Plätze in einem Restaurant grundsätzlich für unwürdig. An gespenstische Besuche erinnert sich März, wenn die Eltern des im Krieg gefallenen ersten Mannes der Mutter in der Familie auftauchen.
Das Verhältnis zwischen der Generation der Autorin und der ihrer Mutter und Tanten ist charakteristisch für den Stand des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland heute: Ursula März ist Jahrgang 1957, deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt gekommen, die Tante „an einem Junisonntag im Jahr 1925 geboren“. In der Nazizeit – der Vater ist ab 1923 in der NSDAP – war Martl also ein Kind und eine sehr junge Frau.
Die Tante gehört damit zu den Jahrgängen derer, denen wie ein Kinderschicksal zufiel, was sie an Zeugenschaft, Schuld und Verantwortung mitbekamen. Es sind auch die Jahrgänge, die am längsten mit den Opfern und den Tätern dieser Zeit gelebt haben. Deren Verdrängungsleistung haben sie von klein auf erlernt und mitgemacht. Als diese Generation dann wiederum Kinder bekam, waren die zu spät geboren, um sich an der Abrechnung der 68er mit den alten Nazis beteiligen zu können. Jetzt sind sie im Memoiren-relevanten Alter und beobachten eher staunend, wie die „Unfähigkeit zu trauern“ und eine merkwürdige Härte auch in ihre Biografien übergegangen ist.
Von den vielen Sachbüchern der letzten Jahre über das „Erbe der Kriegsenkel“ ganz abgesehen, ist die Zahl der belletristischen Neuerscheinungen allein der letzten Wochen bezeichnend, in denen diese Konstellation eine Rolle spielt. Der Schriftsteller Andreas Maier hat sie auf eine Formel gebracht. In „Die Familie“ (Suhrkamp Verlag), der siebten Folge seiner autobiografisch grundierten Romanreihe, deckt er eine Information auf, die alles bisher Erzählte infrage stellt. Es kommt heraus, wie die titelgebende Familie vom Holocaust profitiert hat. Der Ich-Erzähler ist fassungslos, hatte sich für einen abgeklärten, wissenden Menschen gehalten. Eine Gesprächspartnerin sagt ihm den entscheidenden Satz: „Wir sind die Kinder der Schweigekinder.“
Auch die Geschichten der Opfer durchzieht das Schweigen. Die Erinnerungen des Theaterkritikers C. Bernd Sucher an seine Mutter – unter dem Titel „Mamsi und ich“ im Piper-Verlag erschienen – kreisen um alles, was der 1949 Geborene seine jüdische Mutter, Jahrgang 1925, nie fragen konnte. Da sind Themen und Idiosynkrasien, über die nicht oder nur verschoben gesprochen wurde und von denen Sucher seine eigene Laufbahn in diesen Memoiren abhängig macht: „So wurde ihre Störung die meine“. Erst nach ihrem Tod findet sich „in einer der Krokotaschen“ der Mutter ihr Bericht darüber, wie sie als junge Frau im Lager Bełżyce gepeinigt und vergewaltigt worden ist und wie sie entkommen konnte. Dieses Zeugnis nimmt sich auffälligerweise wie ein Geständnis aus: „Sind sie nicht alle ermordet worden? Und ich habe überlebt.“ Und in der Erzählung des Sohnes herrscht ein erstaunlicher Ton der Abrechnung vor. Schon der erste Satz des Buches, ein Vorwurf: „Sie hat mich belogen.“
Hanns-Josef Ortheil, 1951 geboren, wiederholt in seinem jüngsten, autobiografisch angelegten, aber Roman genannten Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ (Insel-Verlag) eine Geschichte, die er schon in „Die Erfindung des Lebens“ (2009) erzählt hat. Seine Mutter, die im und nach dem Krieg vier Söhne verloren hatte, sei für geraume Zeit verstummt, und so habe auch der einzig verbliebene Sohn zunächst nicht sprechen gelernt.
Erst mit dem Klavierspielen habe sich eine Kommunikation in der Familie ergeben – durch die Musik, und als die Worte wiedergefunden waren, über die Musik. In seinem neuen Buch arrangiert Ortheil allen Ehrgeiz, alle Ambitionen und alle Überforderung in der Familie um das Klavierspielen herum, das in die Lücke tritt, die das Nachkriegsschweigen aufreißt.
Das sich wiederholende Motiv der Lebenserinnerungen der deutschen Nachkriegskinder ist also dieses: Wie man die Unsagbarkeiten umgehen musste und wie viele Formen das Schweigen angenommen hat. Womöglich ist ja auch das Stöhnen, mit dem Ursula März’ Tante Martl jedes Telefongespräch beginnt, als somatische Ausdrucksform dieses Schweigens zu interpretieren: „Bevor sie auch nur einen Satz gesagt hatte, konnte ich anhand der Intonation des Stöhnens schon erahnen, was ihr auf dem Herzen lag.“
In den Erinnerungsbüchern der „Kinder der Schweigekinder“ kann man jetzt nachlesen, wie viel Sensibilität und Geduld sie aufbringen mussten, um ihre Elterngeneration zu deuten und ihnen ein paar Liebesbekundungen abzuringen. Womöglich hat sich die Empathiefähigkeit bei dem ein oder anderen dabei erschöpft, und die Empfindlichkeit der nachfolgenden Generationen kommt ihnen deshalb heute übertrieben vor.
MARIE SCHMIDT
Die Tante ist im Juni 1925
geboren, da war der Vater seit
zwei Jahren in der NSDAP
Der Schriftsteller Andreas Maier
nennt die Nachkriegsgeneration
„die Kinder der Schweigekinder“
Ursula März: Tante Martl. Roman. Piper Verlag,
München 2019. 189 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Schweigekinder
Ursula März, „Tante Martl“ und die Nachkriegszeit
Alleinstehende Frauen kommen als Hauptfiguren in der Literaturgeschichte kaum vor. Obwohl es sie zu allen Zeiten gegeben haben muss, als unverheiratete Adlige, Dienstmädchen, Nonnen, Hausdamen, Pflegerinnen. Aber anders als der männliche Junggeselle und Abenteurer sind sie kein Typus geworden. Die titelgebende „Tante Martl“ einer autobiografischen Erzählung von Ursula März ist schon deswegen eine ungewöhnliche Figur: „Meine Tante war Lehrerin von Beruf“, schreibt März: „Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken.“
Dieser Frau gibt die Literaturkritikerin März jetzt eine Geschichte. Aber nicht mit der heroischen Geste, mit der seit einiger Zeit „ungehörte Stimmen“ dem Vergessen entrissen werden sollen. Wobei die Stimme der Tante einem ziemlich in den Ohren klingt, wegen des pfälzischen Dialekts, den März aufzeichnet: „Ursi, kommsche mol her?“ – in einem seltenen Moment von Zerwürfnis zwischen Nichte und Tante – „Wir kenne all net aus unserer Haut, isch net und du net.“
Den Grundton des Buches gibt März’ humorvolle Faszination für ihre Verwandte vor. So erzählt man bei langen Abendessen Merkwürdigkeiten aus der Familiengeschichte. Aber mit der Hälfte des Buches wandelt sich die Haltung der Erzählerin zu ihrer Figur. Sie nimmt Abstand zur Rolle der Tante in der Familie und stellt sie sich noch einmal vor, als die belesene, pragmatische und in der Welt herumgekommene Frau, die sie offenbar auch war. Damit steht sie vor dem „Lebensrätsel“ der Tante: Warum sie keine Familie gegründet hat, warum sich die so unzeitgemäß eigenständige Martl den engen Banden ihrer Herkunftsfamilie völlig ergeben hat.
In dieser Familie gab es drei Schwestern, „Sie hießen Barbara, Rosemarie und Martina“. Von der ältesten, Bärbl genannt, heißt es, ihre Bedürfnisse „fügten sich so glatt in bürgerliche Konventionen, dass sie nie auf Widerstand stießen“. Ein Reinlichkeitsfimmel ist ihre hervorstechende Eigenschaft. Die mittlere, Rosa, die Mutter der Erzählerin, ist das Lieblingskind des Vaters, mit hochfliegenden Träumen, einem Hang zu Genäschigkeit und Hypochondrie. Dann kommt die dritte Tochter zur Welt. Der Vater nickt nur, als der Standesbeamte den angezeigten Vornamen falsch versteht und fragt, „isch e Bub?“: „Sieben Tage lang war ihr Vater nicht bereit, sich mit der Tatsache abzufinden, dass auch dieses Kind ein Mädchen geworden war.“ Eine witzige Anekdote, aber nicht harmlos, denn der Vater bleibt hart und gewalttätig zu Martl. Und sie selbst trägt lebenslang das Gefühl mit sich herum, „falsch“ zu sein.
Es nimmt einen sehr für dieses Buch ein, wie März ihre eigenen Erwartungen und Fragen als Spiegel für die Figuren der drei Schwestern zur Verfügung stellt, sich aber sonst eher zurückhält. Sie spürt „etwas unnormal Grausames“ in den Geschwisterstreits zwischen Martl und Rosa, ist gelegentlich genervt von der Unerbittlichkeit der Tante gegen sich selbst. Zum Beispiel erachtet sich Martl der besten Plätze in einem Restaurant grundsätzlich für unwürdig. An gespenstische Besuche erinnert sich März, wenn die Eltern des im Krieg gefallenen ersten Mannes der Mutter in der Familie auftauchen.
Das Verhältnis zwischen der Generation der Autorin und der ihrer Mutter und Tanten ist charakteristisch für den Stand des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland heute: Ursula März ist Jahrgang 1957, deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt gekommen, die Tante „an einem Junisonntag im Jahr 1925 geboren“. In der Nazizeit – der Vater ist ab 1923 in der NSDAP – war Martl also ein Kind und eine sehr junge Frau.
Die Tante gehört damit zu den Jahrgängen derer, denen wie ein Kinderschicksal zufiel, was sie an Zeugenschaft, Schuld und Verantwortung mitbekamen. Es sind auch die Jahrgänge, die am längsten mit den Opfern und den Tätern dieser Zeit gelebt haben. Deren Verdrängungsleistung haben sie von klein auf erlernt und mitgemacht. Als diese Generation dann wiederum Kinder bekam, waren die zu spät geboren, um sich an der Abrechnung der 68er mit den alten Nazis beteiligen zu können. Jetzt sind sie im Memoiren-relevanten Alter und beobachten eher staunend, wie die „Unfähigkeit zu trauern“ und eine merkwürdige Härte auch in ihre Biografien übergegangen ist.
Von den vielen Sachbüchern der letzten Jahre über das „Erbe der Kriegsenkel“ ganz abgesehen, ist die Zahl der belletristischen Neuerscheinungen allein der letzten Wochen bezeichnend, in denen diese Konstellation eine Rolle spielt. Der Schriftsteller Andreas Maier hat sie auf eine Formel gebracht. In „Die Familie“ (Suhrkamp Verlag), der siebten Folge seiner autobiografisch grundierten Romanreihe, deckt er eine Information auf, die alles bisher Erzählte infrage stellt. Es kommt heraus, wie die titelgebende Familie vom Holocaust profitiert hat. Der Ich-Erzähler ist fassungslos, hatte sich für einen abgeklärten, wissenden Menschen gehalten. Eine Gesprächspartnerin sagt ihm den entscheidenden Satz: „Wir sind die Kinder der Schweigekinder.“
Auch die Geschichten der Opfer durchzieht das Schweigen. Die Erinnerungen des Theaterkritikers C. Bernd Sucher an seine Mutter – unter dem Titel „Mamsi und ich“ im Piper-Verlag erschienen – kreisen um alles, was der 1949 Geborene seine jüdische Mutter, Jahrgang 1925, nie fragen konnte. Da sind Themen und Idiosynkrasien, über die nicht oder nur verschoben gesprochen wurde und von denen Sucher seine eigene Laufbahn in diesen Memoiren abhängig macht: „So wurde ihre Störung die meine“. Erst nach ihrem Tod findet sich „in einer der Krokotaschen“ der Mutter ihr Bericht darüber, wie sie als junge Frau im Lager Bełżyce gepeinigt und vergewaltigt worden ist und wie sie entkommen konnte. Dieses Zeugnis nimmt sich auffälligerweise wie ein Geständnis aus: „Sind sie nicht alle ermordet worden? Und ich habe überlebt.“ Und in der Erzählung des Sohnes herrscht ein erstaunlicher Ton der Abrechnung vor. Schon der erste Satz des Buches, ein Vorwurf: „Sie hat mich belogen.“
Hanns-Josef Ortheil, 1951 geboren, wiederholt in seinem jüngsten, autobiografisch angelegten, aber Roman genannten Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ (Insel-Verlag) eine Geschichte, die er schon in „Die Erfindung des Lebens“ (2009) erzählt hat. Seine Mutter, die im und nach dem Krieg vier Söhne verloren hatte, sei für geraume Zeit verstummt, und so habe auch der einzig verbliebene Sohn zunächst nicht sprechen gelernt.
Erst mit dem Klavierspielen habe sich eine Kommunikation in der Familie ergeben – durch die Musik, und als die Worte wiedergefunden waren, über die Musik. In seinem neuen Buch arrangiert Ortheil allen Ehrgeiz, alle Ambitionen und alle Überforderung in der Familie um das Klavierspielen herum, das in die Lücke tritt, die das Nachkriegsschweigen aufreißt.
Das sich wiederholende Motiv der Lebenserinnerungen der deutschen Nachkriegskinder ist also dieses: Wie man die Unsagbarkeiten umgehen musste und wie viele Formen das Schweigen angenommen hat. Womöglich ist ja auch das Stöhnen, mit dem Ursula März’ Tante Martl jedes Telefongespräch beginnt, als somatische Ausdrucksform dieses Schweigens zu interpretieren: „Bevor sie auch nur einen Satz gesagt hatte, konnte ich anhand der Intonation des Stöhnens schon erahnen, was ihr auf dem Herzen lag.“
In den Erinnerungsbüchern der „Kinder der Schweigekinder“ kann man jetzt nachlesen, wie viel Sensibilität und Geduld sie aufbringen mussten, um ihre Elterngeneration zu deuten und ihnen ein paar Liebesbekundungen abzuringen. Womöglich hat sich die Empathiefähigkeit bei dem ein oder anderen dabei erschöpft, und die Empfindlichkeit der nachfolgenden Generationen kommt ihnen deshalb heute übertrieben vor.
MARIE SCHMIDT
Die Tante ist im Juni 1925
geboren, da war der Vater seit
zwei Jahren in der NSDAP
Der Schriftsteller Andreas Maier
nennt die Nachkriegsgeneration
„die Kinder der Schweigekinder“
Ursula März: Tante Martl. Roman. Piper Verlag,
München 2019. 189 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein Roman mitten aus dem Leben und in einer Sprache, die genau den angemessenen Ton trifft: witzig und doch respektvoll. Kulturbowle 20201228