Da am Tod kein Weg vorbeiführt, auch wenn wir davor die Augen fest verschließen, ist es hilfreich, herauszufinden, wie das Ende in anderen Kulturen verkraftet wird. Der Ethnologe Nigel Barley hat "tausendundeine" Geschichten über den Tod gesammelt und die Phantasien, Mythen, Rituale, Vorschriften auf Gemeinsamkeiten hin untersucht. Der Tod ist universal, doch, wie die Lebenden mit den Verstorbenen umgehen, welche Bedeutung der Tod im Leben hat, das ist von Kultur zu Kultur verschieden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.1999Weißt du, wie er gestorben ist?
Das rätst du nie: Nigel Barleys Plaudereien am offenen Grab
Nigel Barley hat ein Buch über den Tod geschrieben. Das ist für einen Ethnologen ein normales Thema - so normal, daß der Blick des Lesers vom vollmundigen Titel unwillkürlich abwärts rutscht, wo dann meist steht, von welchem Ritual bei welchem Volk die Rede ist. Aber "Tanz ums Grab" trägt keinen Untertitel. Es handelt tatsächlich von allem, was Menschen bislang eingefallen ist, um sich mit der Unausweichlichkeit des Todes abzufinden - von der Antike bis in die Gegenwart, von Ghana bis Japan. Die Fülle des Materials gebietet eine locker essayistische Form, für die der Autor sich auch entschieden hat. Vielleicht ist sie ihm ein wenig zu locker geraten. Denn wer noch mehr über den Inhalt des Buches sagen möchte, kommt in Verlegenheit. Dabei fehlt es beileibe nicht an Fakten. Doch Barley gliedert sie nicht nach Thesen, nicht historisch, nicht ethnographisch, sondern allenfalls assoziativ. Man könnte die einzelnen Abschnitte recht beliebig untereinander vertauschen, ohne daß es ins Auge fiele.
Streckenweise lesen sich Barleys Ausführungen wie die mühsam zusammengefaßten Ergebnisse einer Datenbankrecherche zum Thema Tod, nur daß der Kustos des British Museum in London aus seinem immensen Wissen und der Erfahrung vieler Forschungsreisen schöpft. Nehmen wir zum Beispiel das fünfte Kapitel: "Fleisch und Blut". Es umfaßt zwanzig Seiten und handelt möglicherweise von Körpervorstellungen. Mit einer dänischen Moorleiche fängt es an; von dort kommt es über zwanzigtausend abgeschnittene Nasen, die "die Japaner" als Versöhnungsgeste nach Korea zurückschicken wollen, auf die Erbfolge der Trobriander. Weiter geht es mit einer chinesischen Nonne in Rom und Papst Bonifatius dem Achten. Dann spekuliert der Autor über die Verwandtschaft des Einpökelns zum Einbalsamieren. Das bringt ihn auf Walt Disney, dessen Leichnam gefroren auf seine Erweckung wartet. Er schließt mit dem Brauch der Leichentätowierung bei den Gujaratis in Nepal und einem Schwank über die Beisetzung seines eigenen Vaters.
Was diese Beobachtungen verbindet, ist ihre Zusammenhanglosigkeit. Barley will zeigen, daß an unserem Umgang mit dem Tod nichts Natürliches ist, daß alles auf Vereinbarungen beruht. Schon innerhalb der westlichen Welt ist der Konsens schmal genug. Wir würden uns vielleicht darauf verständigen können, daß der Tod mit dem Zusammenbruch des Kreislaufs einsetzt, daß das Sterben einem Einschlafen vergleichbar ist und daß die Hinterbliebenen Anlaß zur Trauer haben. Aber unsere Gründe dafür sind wohl nicht zwingender als das, was etwa einen Nyakyusa in Malawi dazu bewegt, tote Verwandte mit Späßen und Beschimpfungen aus der Welt zu verabschieden.
Man kann diesen Relativismus in allen Büchern Barleys finden, ganz gleich, ob er über die Toraja in Indonesien oder seine eigenen Landsleute schreibt. Freilich gehört das zu den ersten Dingen, die spätestens seit Lévi-Strauss jeder Student der Völkerkunde lernt: Glaube nicht, du stündest über allen Bräuchen. Der Autor stellt sich recht selbstbewußt in diese Tradition. Insofern tat sein deutscher Verlag ihm wohl einen Gefallen, als er sein erstes Buch "The Innocent Anthropologist" von 1986 in Anlehnung an Lévi-Strauss' berühmtes Werk "Traurige Tropen" "Traumatische Tropen" nannte.
Barley erkennt sehr klar, daß die Ethnologie das Risiko eingeht, aus den Völkern originelle Völkchen zu machen. Befremdlich daran ist nur, daß er von dem Umstand, den er beklagt, auch selbst zu profitieren sucht. Man kann seinen Stil kaum anders als anekdotisch nennen. Wenn er einmal seine Quellen vermerkt, dann sind es nicht selten die Klassiker des Fachs, die man heute eher für ihre Farbigkeit als für ihre Zuverlässigkeit schätzt. "Erfrischend" ist denn auch das höchste Lob, das er hier für die Arbeit eines Kollegen findet.
"Tanz ums Grab" ist an ein breites Publikum gerichtet. Der Autor stellt sich als Fachmann für das Thema Tod vor, ohne indes zu verraten, worauf dieser Anspruch gründet. Falls er jemals etwas dazu veröffentlicht haben sollte, gibt sein Literaturverzeichnis jedenfalls keinen Hinweis darauf. Wenn ein Feldforscher ausgiebig von sich schreibt, genügt er damit nur der Pflicht zur Selbstbeobachtung, die gerade in der Völkerkunde viel zählt. Das schließt allerdings nicht aus, daß das, was eitel wirkt, auch wirklich eitel ist.
Nigel Barley versäumt keine Gelegenheit, sich als ironischen Betrachter in Szene zu setzen. Etwa Barley bei den Malaien: ",Onkel', flüstert einer der Jungen. ,Komm mit und sieh dir mein Video an. Es ist sehr gut, sehr interessant - es bildet. Es weckt den Wunsch in mir, nach Abschluß der Schule Arzt zu werden.' ,Pornographie', denke ich und erwarte nacktes blondes Fleisch in Nahaufnahme . . . Wie verhalte ich mich am besten? Wie ein schamloser, abgebrühter - weil von Gott verlassener - Westler? Höchst unangenehm. Aber natürlich sind es ,Die Gesichter des Todes'. Und die sind kein Problem."
Der Autor ist keiner jener staubtrockenen Museumsethnologen, über die er sich selbst gern lustig macht. Man sieht ihn unwillkürlich mit einem Sektglas in der Hand zwischen den Vitrinen stehen - einen süffisanten Parleur, der wenig zu sagen, aber um so mehr zu erzählen hat. Vielleicht ist man ja selber schuld. Beim derzeitigen Ruf der Völkerkunde war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand kam, der aus den unterhaltsamsten Erkenntnissen seines Fachs ein buntes Panoptikum baute. Wer immer mit leuchtenden Augen durch die Museen ging, der werfe die erste Pfeilspitze auf Barley. Doch nun, wo man das Buch in Händen hält, wäre man dankbar für einen Führer vom alten Schlag, der geduldig erklärt, was man zur Linken und was zur Rechten sieht, und der die Späße dem Publikum überläßt.
MICHAEL ALLMAIER
Nigel Barley: "Tanz ums Grab". Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998. 305 S., Abb., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das rätst du nie: Nigel Barleys Plaudereien am offenen Grab
Nigel Barley hat ein Buch über den Tod geschrieben. Das ist für einen Ethnologen ein normales Thema - so normal, daß der Blick des Lesers vom vollmundigen Titel unwillkürlich abwärts rutscht, wo dann meist steht, von welchem Ritual bei welchem Volk die Rede ist. Aber "Tanz ums Grab" trägt keinen Untertitel. Es handelt tatsächlich von allem, was Menschen bislang eingefallen ist, um sich mit der Unausweichlichkeit des Todes abzufinden - von der Antike bis in die Gegenwart, von Ghana bis Japan. Die Fülle des Materials gebietet eine locker essayistische Form, für die der Autor sich auch entschieden hat. Vielleicht ist sie ihm ein wenig zu locker geraten. Denn wer noch mehr über den Inhalt des Buches sagen möchte, kommt in Verlegenheit. Dabei fehlt es beileibe nicht an Fakten. Doch Barley gliedert sie nicht nach Thesen, nicht historisch, nicht ethnographisch, sondern allenfalls assoziativ. Man könnte die einzelnen Abschnitte recht beliebig untereinander vertauschen, ohne daß es ins Auge fiele.
Streckenweise lesen sich Barleys Ausführungen wie die mühsam zusammengefaßten Ergebnisse einer Datenbankrecherche zum Thema Tod, nur daß der Kustos des British Museum in London aus seinem immensen Wissen und der Erfahrung vieler Forschungsreisen schöpft. Nehmen wir zum Beispiel das fünfte Kapitel: "Fleisch und Blut". Es umfaßt zwanzig Seiten und handelt möglicherweise von Körpervorstellungen. Mit einer dänischen Moorleiche fängt es an; von dort kommt es über zwanzigtausend abgeschnittene Nasen, die "die Japaner" als Versöhnungsgeste nach Korea zurückschicken wollen, auf die Erbfolge der Trobriander. Weiter geht es mit einer chinesischen Nonne in Rom und Papst Bonifatius dem Achten. Dann spekuliert der Autor über die Verwandtschaft des Einpökelns zum Einbalsamieren. Das bringt ihn auf Walt Disney, dessen Leichnam gefroren auf seine Erweckung wartet. Er schließt mit dem Brauch der Leichentätowierung bei den Gujaratis in Nepal und einem Schwank über die Beisetzung seines eigenen Vaters.
Was diese Beobachtungen verbindet, ist ihre Zusammenhanglosigkeit. Barley will zeigen, daß an unserem Umgang mit dem Tod nichts Natürliches ist, daß alles auf Vereinbarungen beruht. Schon innerhalb der westlichen Welt ist der Konsens schmal genug. Wir würden uns vielleicht darauf verständigen können, daß der Tod mit dem Zusammenbruch des Kreislaufs einsetzt, daß das Sterben einem Einschlafen vergleichbar ist und daß die Hinterbliebenen Anlaß zur Trauer haben. Aber unsere Gründe dafür sind wohl nicht zwingender als das, was etwa einen Nyakyusa in Malawi dazu bewegt, tote Verwandte mit Späßen und Beschimpfungen aus der Welt zu verabschieden.
Man kann diesen Relativismus in allen Büchern Barleys finden, ganz gleich, ob er über die Toraja in Indonesien oder seine eigenen Landsleute schreibt. Freilich gehört das zu den ersten Dingen, die spätestens seit Lévi-Strauss jeder Student der Völkerkunde lernt: Glaube nicht, du stündest über allen Bräuchen. Der Autor stellt sich recht selbstbewußt in diese Tradition. Insofern tat sein deutscher Verlag ihm wohl einen Gefallen, als er sein erstes Buch "The Innocent Anthropologist" von 1986 in Anlehnung an Lévi-Strauss' berühmtes Werk "Traurige Tropen" "Traumatische Tropen" nannte.
Barley erkennt sehr klar, daß die Ethnologie das Risiko eingeht, aus den Völkern originelle Völkchen zu machen. Befremdlich daran ist nur, daß er von dem Umstand, den er beklagt, auch selbst zu profitieren sucht. Man kann seinen Stil kaum anders als anekdotisch nennen. Wenn er einmal seine Quellen vermerkt, dann sind es nicht selten die Klassiker des Fachs, die man heute eher für ihre Farbigkeit als für ihre Zuverlässigkeit schätzt. "Erfrischend" ist denn auch das höchste Lob, das er hier für die Arbeit eines Kollegen findet.
"Tanz ums Grab" ist an ein breites Publikum gerichtet. Der Autor stellt sich als Fachmann für das Thema Tod vor, ohne indes zu verraten, worauf dieser Anspruch gründet. Falls er jemals etwas dazu veröffentlicht haben sollte, gibt sein Literaturverzeichnis jedenfalls keinen Hinweis darauf. Wenn ein Feldforscher ausgiebig von sich schreibt, genügt er damit nur der Pflicht zur Selbstbeobachtung, die gerade in der Völkerkunde viel zählt. Das schließt allerdings nicht aus, daß das, was eitel wirkt, auch wirklich eitel ist.
Nigel Barley versäumt keine Gelegenheit, sich als ironischen Betrachter in Szene zu setzen. Etwa Barley bei den Malaien: ",Onkel', flüstert einer der Jungen. ,Komm mit und sieh dir mein Video an. Es ist sehr gut, sehr interessant - es bildet. Es weckt den Wunsch in mir, nach Abschluß der Schule Arzt zu werden.' ,Pornographie', denke ich und erwarte nacktes blondes Fleisch in Nahaufnahme . . . Wie verhalte ich mich am besten? Wie ein schamloser, abgebrühter - weil von Gott verlassener - Westler? Höchst unangenehm. Aber natürlich sind es ,Die Gesichter des Todes'. Und die sind kein Problem."
Der Autor ist keiner jener staubtrockenen Museumsethnologen, über die er sich selbst gern lustig macht. Man sieht ihn unwillkürlich mit einem Sektglas in der Hand zwischen den Vitrinen stehen - einen süffisanten Parleur, der wenig zu sagen, aber um so mehr zu erzählen hat. Vielleicht ist man ja selber schuld. Beim derzeitigen Ruf der Völkerkunde war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand kam, der aus den unterhaltsamsten Erkenntnissen seines Fachs ein buntes Panoptikum baute. Wer immer mit leuchtenden Augen durch die Museen ging, der werfe die erste Pfeilspitze auf Barley. Doch nun, wo man das Buch in Händen hält, wäre man dankbar für einen Führer vom alten Schlag, der geduldig erklärt, was man zur Linken und was zur Rechten sieht, und der die Späße dem Publikum überläßt.
MICHAEL ALLMAIER
Nigel Barley: "Tanz ums Grab". Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998. 305 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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