Produktdetails
- Verlag: ZWEITAUSENDEINS
- ISBN-13: 9783861504078
- Artikelnr.: 24774426
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2017Singen, tanzen, Mann!
Bob Dylan ist auch auf dem Buchmarkt ein Schwergewicht geworden - seine Songtexte, Gedichte und Reden umfassen mehr als 2000 Seiten. Brauchen wir das alles?
Als Jugendlicher konnte ich nicht glauben, dass irgendjemand das, was Bob Dylans Stimmbänder hervorbrachten, für Gesang hielt. Bis ich den Spott ablegte und selber zum Fan wurde. Mitte der siebziger Jahre hatte mein ältester Bruder die ersten Dylan-Platten angeschleppt und sich schnell durch mehrere Werkphasen gearbeitet: den akustischen Bob Dylan, der nur mit Gitarre und Mundharmonika unterwegs war (1962 bis 1964), den elektrisch verstärkten Dylan (ab 1965) und dann die siebziger Jahre mit "Planet Waves", "Blood on the Tracks" und der Live-Doppel-LP "Before the Flood". Es dauerte ziemlich lange, bis ich selbst einstieg. Aber als es einmal so weit war, war es für immer.
Dennoch kann ich die Dylan-Verächter verstehen. Und natürlich darf man in der Frage, ob der Mann gleich den Nobelpreis für Literatur bekommen musste, auch anderer Auffassung sein. Dylan ist der Letzte, der eine Prämie durch die Hüter der Hochkultur gebraucht hätte. Trotzdem. Bob Dylan war eine Erleuchtung; er ist es noch heute. "His Bobness", wie Witzbolde inzwischen schreiben, ragte locker um Haupteslänge heraus, schon wegen seiner poetischen Höhenflüge, des wilden Humors und der lässigen "Fuck them all"-Haltung. Man musste nicht teilen, was er schrieb, wenn man überhaupt alles kapierte; aber der Welt mit seiner Frechheit entgegenzutreten, das war (und ist) ziemlich cool.
Insofern verteidigen wir, wenn wir über ihn reden, nicht nur unseren Musikgeschmack. Sondern auch unsere Erinnerungen, unsere Sozialisation und die eigene Geschichte. Nachträgliche Korrekturen daran sind nicht mehr möglich.
In einer lustigen Pressekonferenz vom Dezember 1965 nennt Dylan sich einen "Song and Dance Man", und die Journalisten sind so überrascht, dass er es wiederholen muss. Ein "Song and Dance Man"? Kein Gesellschaftskritiker? Kein Protestsänger? Wo bleibt denn da die politische Haltung? So wurde Dylan, gleichsam im toten Winkel des Betriebs, zum wichtigsten Lyriker meiner Jugend. Bis mit "Slow Train Coming" und der stark überschminkten Live-Platte "At Budokan", beide aus dem Jahr 1979, der Abstieg ins religiöse Predigertum einsetzte. Mein Interesse erlosch, wie man ein Licht ausknipst.
Es dauerte weit mehr als zehn Jahre, bis Dylan wieder aus der Höhle des frommen Eremiten kroch. Natürlich gab es zwischendurch Bemerkenswertes, etwa das "Unplugged"-Album oder seine Coverversionen alter amerikanischer Folksongs auf "Good As I Been to You" (1992) und "World Gone Wrong" (1993). Doch das ernsthafte Spätwerk selbstgeschriebener Songs beginnt mit "Time out of Mind" (1997), mit grandiosen Songs wie "Love Sick", "Not Dark Yet" und "Highlands". Und das Comeback des damaligen Mittfünfzigers, es hält immer noch an. Wer die düstere Schönheit von "The Tempest" hört, des letzten Albums, das der fast 1300 Seiten starke Band mit Bob Dylans "Lyrics" - sämtlichen Songtexten von 1962 bis 2012 - erfasst, kann sich andere Apokalypsen der amerikanischen Popkultur sparen.
Die Stimme ist natürlich nicht schöner geworden. Schon David Bowie hatte sich an "Sand und Kleber" erinnert gefühlt, und ein amerikanisches Magazin hörte im Klang des späten Dylan "einen Ochsenfrosch, der mit Glasscherben gurgelt". Viele können nur den Raum verlassen, wenn Bob Dylan gespielt wird. Was die Nichtfans hören, ist ein quäkendes, insistierendes Nölen (bei den frühen Platten) oder ein heiseres Krächzen (bei den späten), wackelige Töne, geschlabberte Tempi und ein programmatisches Vorbeisingen an Harmonien. Für Menschen, die so empfinden, ist Bob Dylan die berühmteste Nervensäge der Welt.
Deswegen war ich in meiner Jahrgangsstufe der Einzige, der Bob Dylan hörte, wie mein Bruder in der seinen. Dylan war für Intellektuelle, Masochisten und Nerds, die damals "Sonderlinge" genannt wurden. So viel zu der Behauptung, Bob Dylan sei der einflussreichste Songschreiber der letzten fünfzig Jahre. Für meinungsbildende Großperücken der Counterculture mag er das gewesen sein; doch die meisten Menschen im Deutschland der siebziger Jahre ertrugen seine Songs nur, wenn sie von anderen aufgehübscht wurden. Etwa von Peter, Paul and Mary, die seine Hymne "Blowin' in the Wind" berühmt machten, von The Byrds ("Mr. Tambourine Man") oder auch Manfred Mann's Earth Band ("Quinn the Eskimo").
Dylans Mut zur Hässlichkeit und zum Affront verriet nicht nur eine absolute Kompromisslosigkeit im Nachzeichnen der eigenen Traditionslinien, sondern auch eine beneidenswerte Unabhängigkeit. Es sind diese Eigenschaften, die ihm erlaubt haben, in Würde zu altern. Bob Dylan war ein fortlaufender poetisch-musikalischer Selbstversuch, und er tat wirklich alles, um nicht ins Radio zu kommen. Bis heute hat er es mit keinem Song auf den ersten Platz der Billboard Top 100 geschafft. Indem er ellenlange Gedichte in der Tradition der Beat Poets schrieb und uns zu Zeugen seiner eigenen Experimente machte, gab er uns zu verstehen: Ich traue euch zu, mir in allem zu folgen.
Gesagt hätte er das natürlich nie. Seine Selbstaussagen sind von legendärer Rätselhaftigkeit oder auch schlicht belanglos; an dieser Unterscheidung sollen sich seine Exegeten abarbeiten. Er, der Freund von Maskenspielen und schnellen Fluchten, ist derweil schon woanders.
Gewiss finden sich auf den 1300 Seiten der "Lyrics" auch Sachen, die man kaum gesungen hören will und ganz sicher nicht mehr nachlesen muss. Der "Song and Dance Man" hat eine Menge harmloser Liedchen komponiert. Aber daneben gibt es eben unsterbliche Songs wie "A Hard Rain's A-Gonna Fall", "The Times They Are A-Changin'", "Boots of Spanish Leather", "Like a Rolling Stone", "It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)", "Tomorrow Is a Long Time", "Simple Twist of Fate" und viele Dutzend mehr.
Und natürlich hat Dylan - für Leute wie uns - die schönste Stimme der Welt, und zwar gleich nach Maria Callas. Dass sich seit einem halben Jahrhundert so viele unterschiedliche Musiker auf ihn berufen, von den Beatles über Eric Clapton bis zu Youssou N'Dour (der eine fabelhafte Fassung von Dylans "Chimes of Freedom" gesungen hat), zeigt nur, dass Dylans Einfluss auf die populäre Musik sich nicht in einzelnen Songs erschöpft, sondern so ähnlich zu messen wäre, wie Foucault die "Diskursbegründer" Marx, Nietzsche und Freud klassifiziert hat: Mit ihnen ist etwas grundsätzlich Neues in die Welt gekommen. Nach Dylan, heißt das, macht man nicht mehr auf dieselbe Weise Musik wie vor Dylan.
Ob man den schweren Band mit den Lyrics nun haben muss, obwohl es alle Songs im englischen Original auch kostenlos im Internet gibt, kommt darauf an, ob man die Lieder als Texte studieren will. Manche Fans - sicherlich nicht viele - wollen das. In diesem Fall sind die deutschen Fassungen von Gisbert Haefs, die dem Original gegenüberstehen, eine echte Hilfe: schmucklos, ohne eigenen dichterischen Anspruch, aber so zuverlässig, dass man mit ihnen die dunklen Stellen, die es auch für gute Englischsprecher noch geben mag, aufhellen kann.
Zwei kleinere Bücher sind dem dicken gefolgt, beide zweisprachig: einmal Dylans eher schwergängiges Langgedicht "Tarantel" (1971) sowie gesammelte Gedichte und Prosa unter dem Titel "Planetenwellen". Heinrich Detering, der allgegenwärtige Kommentator an den Schalthebeln der deutschen Dylan-Deutungsindustrie, hat im ersten Fall Carl Weissners alte Übertragung revidiert, im zweiten gleich selbst übersetzt. Detering schreibt immer mit Ahnung, erklärt kompetent die Dichtungstraditionen, aus denen der Meister schöpft, kennt als Verfasser einer Dylan-Biographie sowohl die verifizierbaren Lebensstationen als auch die Legendenbildung und hat außerdem die struppigeren Zonen der amerikanischen Popkultur erkundet. Da er Literaturwissenschaftler und selbst Dichter ist, weiß er also ziemlich genau, was der Poet Dylan tut.
Andererseits kann einem die Akademisierung des Phänomens Bob Dylan zu weit gehen. Zur Musik sagt Detering nämlich kaum ein Wort. Dabei handelt es sich doch, wie er unmissverständlich schreibt, um "Songpoesie". Da Bob Dylan selbst nur noch in musikalischen Zusammenhängen agiert, hat die Verengung auf die Philologie etwas objektiv Komisches und stülpt dem Sänger wieder das Bildungskorsett über, das Dylan selbst nie anlegen wollte. Manchmal würde man sich weniger Exegese und etwas mehr Schlagzeug wünschen. Anders gesagt: Deterings Autopsie am kalten Körper lässt oft kaum noch ahnen, wie das Mädchen mal getanzt hat.
Während "Tarantel" eher etwas für eingefleischte Anhänger der Beat-Lyrik ist (die das Buch dann aber wohl längst im Original kennen), bringt "Planetenwellen" eine Fülle erhellender Selbstaussagen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die "11 skizzen für einen grabstein", in denen Dylan von seiner Herkunft aus einem Nest in Minnesota spricht. Ein anrührendes Bild des Musikers, der große Kollegen wie Nina Simone oder Johnny Cash ehrt, liefern die Reden, Aufrufe und Einwürfe. In seiner langen Dankesrede zum "MusiCares Award" von 2015 wurde Dylan so deutlich wie kaum je zuvor und fragt, warum so viele seine Stimme heruntermachen, Tom Waits krächze doch auch. Vielleicht hatte er nur das Pech, der Erste zu sein. Oder es gibt Formen der Schönheit - genau wie bei Callas -, die unweigerlich provozieren.
Durch die Veröffentlichung zahlreicher alternate takes und abgelegener Live-Sessions, die Bob Dylan zum bestdokumentierten Singer-Songwriter der Geschichte machen, kennen wir inzwischen die Dimensionen seiner Werkstatt. Sein Arbeitstempo zwischen dem einundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr war frenetisch, und die Songs, die er in dieser Zeit schrieb, hätten bei anderen für ein ganzes Leben gereicht.
So verdienstvoll die neuen Bücher sind, der wahre Bob Dylan ist natürlich der Sänger, der auf seiner "Never Ending Tour" durch die Welt zieht. Durch Piratenaufnahmen jenseits der offiziellen "Bootleg"-Serie bei Sony hat sich mein Bild hier gewandelt: Dies, der Konzertalltag, ist sein eigentliches Werk, das auch Schmutz und Abfall hinterlässt. Das Tägliche, Fehlbare, manchmal auch Routinierte oder Misslungene ist die Essenz seiner Musik. Ausgedrückt wird, was da ist. "Schön" sind seine Songs ja sowieso nicht. Aber man muss in den Geist der ewigen Wiederholung und des selbstvergessenen music making eintreten, um zu begreifen, dass Bob Dylan an der Beschäftigung mit den Bildern, die er hervorbringt, nicht mehr interessiert ist.
Jeder Dylan-Fan weiß, dass der Mann sein eigenes Material nicht immer zum größten Vorteil ausstellt. Das wird so bleiben, solange er den Weg zum Mikro findet. Oft zersingt er seine Songs bis zur Unkenntlichkeit und jagt durch den Text, als wolle er ihn möglichst schnell hinter sich bringen. Auf Raubmitschnitten hörte ich Bob Dylan, wie er wirklich war: mit verkratzter Stimme in Bonn, irgendwie herausgenuschelten Zeilen in Braunschweig und einem verpatzten Einsatz in Hannover oder Wetzlar. Sein in Konzerten meistgespielter Song ist keiner der ganz großen, sondern "All Along the Watchtower", der an 2257 Abenden erklang - anders gesagt: mehr als sechs Jahre lang jeden Tag. "Knockin' on Heaven's Door", den Titelsong für den Peckinpah-Western "Pat Garrett jagt Billy the Kid", hat Dylan nie wieder so innig gesungen wie in der Studioaufnahme. Die Nummer mit geschwenkten Feuerzeugen, mit Schunkeln und Mitschnippen läuft bei ihm sowieso nicht. Betritt er die Bühne, kann das Publikum von Glück reden, wenn es ein Nicken abbekommt.
Zum Beispiel nächsten Monat, wenn er vierzehn Konzerte in Kanada gibt. Ferien scheint Bob Dylan auch nach einem halben Jahrhundert Weltkarriere nicht zu kennen. Als ich ihn im Sommer 2015 im Baskenland hörte, war seine Stimme in bestechender Form. Er trug einen Hut und einen langen sandfarbenen Mantel, seine Tourband kam ganz in Rot. Nach zwei Stunden war Schluss. Sie spielten, als würden sie nur darauf warten, dass wir endlich den Saal räumen, damit sie noch ein bisschen weitermachen können.
PAUL INGENDAAY
Bob Dylan: "Lyrics: Sämtliche Songtexte 1962-2012". Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Hoffmann & Campe, 1280 Seiten, 69 Euro
Bob Dylan: "Tarantel". Aus dem Englischen von Carl Weissner. Revidiert und mit einem Nachwort von Heinrich Detering. Hoffmann & Campe, 384 Seiten, 24 Euro
Bob Dylan: "Planetenwellen". Gedichte und Prosa. Übersetzt und kommentiert von Heinrich Detering. Hoffmann & Campe, 496 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bob Dylan ist auch auf dem Buchmarkt ein Schwergewicht geworden - seine Songtexte, Gedichte und Reden umfassen mehr als 2000 Seiten. Brauchen wir das alles?
Als Jugendlicher konnte ich nicht glauben, dass irgendjemand das, was Bob Dylans Stimmbänder hervorbrachten, für Gesang hielt. Bis ich den Spott ablegte und selber zum Fan wurde. Mitte der siebziger Jahre hatte mein ältester Bruder die ersten Dylan-Platten angeschleppt und sich schnell durch mehrere Werkphasen gearbeitet: den akustischen Bob Dylan, der nur mit Gitarre und Mundharmonika unterwegs war (1962 bis 1964), den elektrisch verstärkten Dylan (ab 1965) und dann die siebziger Jahre mit "Planet Waves", "Blood on the Tracks" und der Live-Doppel-LP "Before the Flood". Es dauerte ziemlich lange, bis ich selbst einstieg. Aber als es einmal so weit war, war es für immer.
Dennoch kann ich die Dylan-Verächter verstehen. Und natürlich darf man in der Frage, ob der Mann gleich den Nobelpreis für Literatur bekommen musste, auch anderer Auffassung sein. Dylan ist der Letzte, der eine Prämie durch die Hüter der Hochkultur gebraucht hätte. Trotzdem. Bob Dylan war eine Erleuchtung; er ist es noch heute. "His Bobness", wie Witzbolde inzwischen schreiben, ragte locker um Haupteslänge heraus, schon wegen seiner poetischen Höhenflüge, des wilden Humors und der lässigen "Fuck them all"-Haltung. Man musste nicht teilen, was er schrieb, wenn man überhaupt alles kapierte; aber der Welt mit seiner Frechheit entgegenzutreten, das war (und ist) ziemlich cool.
Insofern verteidigen wir, wenn wir über ihn reden, nicht nur unseren Musikgeschmack. Sondern auch unsere Erinnerungen, unsere Sozialisation und die eigene Geschichte. Nachträgliche Korrekturen daran sind nicht mehr möglich.
In einer lustigen Pressekonferenz vom Dezember 1965 nennt Dylan sich einen "Song and Dance Man", und die Journalisten sind so überrascht, dass er es wiederholen muss. Ein "Song and Dance Man"? Kein Gesellschaftskritiker? Kein Protestsänger? Wo bleibt denn da die politische Haltung? So wurde Dylan, gleichsam im toten Winkel des Betriebs, zum wichtigsten Lyriker meiner Jugend. Bis mit "Slow Train Coming" und der stark überschminkten Live-Platte "At Budokan", beide aus dem Jahr 1979, der Abstieg ins religiöse Predigertum einsetzte. Mein Interesse erlosch, wie man ein Licht ausknipst.
Es dauerte weit mehr als zehn Jahre, bis Dylan wieder aus der Höhle des frommen Eremiten kroch. Natürlich gab es zwischendurch Bemerkenswertes, etwa das "Unplugged"-Album oder seine Coverversionen alter amerikanischer Folksongs auf "Good As I Been to You" (1992) und "World Gone Wrong" (1993). Doch das ernsthafte Spätwerk selbstgeschriebener Songs beginnt mit "Time out of Mind" (1997), mit grandiosen Songs wie "Love Sick", "Not Dark Yet" und "Highlands". Und das Comeback des damaligen Mittfünfzigers, es hält immer noch an. Wer die düstere Schönheit von "The Tempest" hört, des letzten Albums, das der fast 1300 Seiten starke Band mit Bob Dylans "Lyrics" - sämtlichen Songtexten von 1962 bis 2012 - erfasst, kann sich andere Apokalypsen der amerikanischen Popkultur sparen.
Die Stimme ist natürlich nicht schöner geworden. Schon David Bowie hatte sich an "Sand und Kleber" erinnert gefühlt, und ein amerikanisches Magazin hörte im Klang des späten Dylan "einen Ochsenfrosch, der mit Glasscherben gurgelt". Viele können nur den Raum verlassen, wenn Bob Dylan gespielt wird. Was die Nichtfans hören, ist ein quäkendes, insistierendes Nölen (bei den frühen Platten) oder ein heiseres Krächzen (bei den späten), wackelige Töne, geschlabberte Tempi und ein programmatisches Vorbeisingen an Harmonien. Für Menschen, die so empfinden, ist Bob Dylan die berühmteste Nervensäge der Welt.
Deswegen war ich in meiner Jahrgangsstufe der Einzige, der Bob Dylan hörte, wie mein Bruder in der seinen. Dylan war für Intellektuelle, Masochisten und Nerds, die damals "Sonderlinge" genannt wurden. So viel zu der Behauptung, Bob Dylan sei der einflussreichste Songschreiber der letzten fünfzig Jahre. Für meinungsbildende Großperücken der Counterculture mag er das gewesen sein; doch die meisten Menschen im Deutschland der siebziger Jahre ertrugen seine Songs nur, wenn sie von anderen aufgehübscht wurden. Etwa von Peter, Paul and Mary, die seine Hymne "Blowin' in the Wind" berühmt machten, von The Byrds ("Mr. Tambourine Man") oder auch Manfred Mann's Earth Band ("Quinn the Eskimo").
Dylans Mut zur Hässlichkeit und zum Affront verriet nicht nur eine absolute Kompromisslosigkeit im Nachzeichnen der eigenen Traditionslinien, sondern auch eine beneidenswerte Unabhängigkeit. Es sind diese Eigenschaften, die ihm erlaubt haben, in Würde zu altern. Bob Dylan war ein fortlaufender poetisch-musikalischer Selbstversuch, und er tat wirklich alles, um nicht ins Radio zu kommen. Bis heute hat er es mit keinem Song auf den ersten Platz der Billboard Top 100 geschafft. Indem er ellenlange Gedichte in der Tradition der Beat Poets schrieb und uns zu Zeugen seiner eigenen Experimente machte, gab er uns zu verstehen: Ich traue euch zu, mir in allem zu folgen.
Gesagt hätte er das natürlich nie. Seine Selbstaussagen sind von legendärer Rätselhaftigkeit oder auch schlicht belanglos; an dieser Unterscheidung sollen sich seine Exegeten abarbeiten. Er, der Freund von Maskenspielen und schnellen Fluchten, ist derweil schon woanders.
Gewiss finden sich auf den 1300 Seiten der "Lyrics" auch Sachen, die man kaum gesungen hören will und ganz sicher nicht mehr nachlesen muss. Der "Song and Dance Man" hat eine Menge harmloser Liedchen komponiert. Aber daneben gibt es eben unsterbliche Songs wie "A Hard Rain's A-Gonna Fall", "The Times They Are A-Changin'", "Boots of Spanish Leather", "Like a Rolling Stone", "It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)", "Tomorrow Is a Long Time", "Simple Twist of Fate" und viele Dutzend mehr.
Und natürlich hat Dylan - für Leute wie uns - die schönste Stimme der Welt, und zwar gleich nach Maria Callas. Dass sich seit einem halben Jahrhundert so viele unterschiedliche Musiker auf ihn berufen, von den Beatles über Eric Clapton bis zu Youssou N'Dour (der eine fabelhafte Fassung von Dylans "Chimes of Freedom" gesungen hat), zeigt nur, dass Dylans Einfluss auf die populäre Musik sich nicht in einzelnen Songs erschöpft, sondern so ähnlich zu messen wäre, wie Foucault die "Diskursbegründer" Marx, Nietzsche und Freud klassifiziert hat: Mit ihnen ist etwas grundsätzlich Neues in die Welt gekommen. Nach Dylan, heißt das, macht man nicht mehr auf dieselbe Weise Musik wie vor Dylan.
Ob man den schweren Band mit den Lyrics nun haben muss, obwohl es alle Songs im englischen Original auch kostenlos im Internet gibt, kommt darauf an, ob man die Lieder als Texte studieren will. Manche Fans - sicherlich nicht viele - wollen das. In diesem Fall sind die deutschen Fassungen von Gisbert Haefs, die dem Original gegenüberstehen, eine echte Hilfe: schmucklos, ohne eigenen dichterischen Anspruch, aber so zuverlässig, dass man mit ihnen die dunklen Stellen, die es auch für gute Englischsprecher noch geben mag, aufhellen kann.
Zwei kleinere Bücher sind dem dicken gefolgt, beide zweisprachig: einmal Dylans eher schwergängiges Langgedicht "Tarantel" (1971) sowie gesammelte Gedichte und Prosa unter dem Titel "Planetenwellen". Heinrich Detering, der allgegenwärtige Kommentator an den Schalthebeln der deutschen Dylan-Deutungsindustrie, hat im ersten Fall Carl Weissners alte Übertragung revidiert, im zweiten gleich selbst übersetzt. Detering schreibt immer mit Ahnung, erklärt kompetent die Dichtungstraditionen, aus denen der Meister schöpft, kennt als Verfasser einer Dylan-Biographie sowohl die verifizierbaren Lebensstationen als auch die Legendenbildung und hat außerdem die struppigeren Zonen der amerikanischen Popkultur erkundet. Da er Literaturwissenschaftler und selbst Dichter ist, weiß er also ziemlich genau, was der Poet Dylan tut.
Andererseits kann einem die Akademisierung des Phänomens Bob Dylan zu weit gehen. Zur Musik sagt Detering nämlich kaum ein Wort. Dabei handelt es sich doch, wie er unmissverständlich schreibt, um "Songpoesie". Da Bob Dylan selbst nur noch in musikalischen Zusammenhängen agiert, hat die Verengung auf die Philologie etwas objektiv Komisches und stülpt dem Sänger wieder das Bildungskorsett über, das Dylan selbst nie anlegen wollte. Manchmal würde man sich weniger Exegese und etwas mehr Schlagzeug wünschen. Anders gesagt: Deterings Autopsie am kalten Körper lässt oft kaum noch ahnen, wie das Mädchen mal getanzt hat.
Während "Tarantel" eher etwas für eingefleischte Anhänger der Beat-Lyrik ist (die das Buch dann aber wohl längst im Original kennen), bringt "Planetenwellen" eine Fülle erhellender Selbstaussagen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die "11 skizzen für einen grabstein", in denen Dylan von seiner Herkunft aus einem Nest in Minnesota spricht. Ein anrührendes Bild des Musikers, der große Kollegen wie Nina Simone oder Johnny Cash ehrt, liefern die Reden, Aufrufe und Einwürfe. In seiner langen Dankesrede zum "MusiCares Award" von 2015 wurde Dylan so deutlich wie kaum je zuvor und fragt, warum so viele seine Stimme heruntermachen, Tom Waits krächze doch auch. Vielleicht hatte er nur das Pech, der Erste zu sein. Oder es gibt Formen der Schönheit - genau wie bei Callas -, die unweigerlich provozieren.
Durch die Veröffentlichung zahlreicher alternate takes und abgelegener Live-Sessions, die Bob Dylan zum bestdokumentierten Singer-Songwriter der Geschichte machen, kennen wir inzwischen die Dimensionen seiner Werkstatt. Sein Arbeitstempo zwischen dem einundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr war frenetisch, und die Songs, die er in dieser Zeit schrieb, hätten bei anderen für ein ganzes Leben gereicht.
So verdienstvoll die neuen Bücher sind, der wahre Bob Dylan ist natürlich der Sänger, der auf seiner "Never Ending Tour" durch die Welt zieht. Durch Piratenaufnahmen jenseits der offiziellen "Bootleg"-Serie bei Sony hat sich mein Bild hier gewandelt: Dies, der Konzertalltag, ist sein eigentliches Werk, das auch Schmutz und Abfall hinterlässt. Das Tägliche, Fehlbare, manchmal auch Routinierte oder Misslungene ist die Essenz seiner Musik. Ausgedrückt wird, was da ist. "Schön" sind seine Songs ja sowieso nicht. Aber man muss in den Geist der ewigen Wiederholung und des selbstvergessenen music making eintreten, um zu begreifen, dass Bob Dylan an der Beschäftigung mit den Bildern, die er hervorbringt, nicht mehr interessiert ist.
Jeder Dylan-Fan weiß, dass der Mann sein eigenes Material nicht immer zum größten Vorteil ausstellt. Das wird so bleiben, solange er den Weg zum Mikro findet. Oft zersingt er seine Songs bis zur Unkenntlichkeit und jagt durch den Text, als wolle er ihn möglichst schnell hinter sich bringen. Auf Raubmitschnitten hörte ich Bob Dylan, wie er wirklich war: mit verkratzter Stimme in Bonn, irgendwie herausgenuschelten Zeilen in Braunschweig und einem verpatzten Einsatz in Hannover oder Wetzlar. Sein in Konzerten meistgespielter Song ist keiner der ganz großen, sondern "All Along the Watchtower", der an 2257 Abenden erklang - anders gesagt: mehr als sechs Jahre lang jeden Tag. "Knockin' on Heaven's Door", den Titelsong für den Peckinpah-Western "Pat Garrett jagt Billy the Kid", hat Dylan nie wieder so innig gesungen wie in der Studioaufnahme. Die Nummer mit geschwenkten Feuerzeugen, mit Schunkeln und Mitschnippen läuft bei ihm sowieso nicht. Betritt er die Bühne, kann das Publikum von Glück reden, wenn es ein Nicken abbekommt.
Zum Beispiel nächsten Monat, wenn er vierzehn Konzerte in Kanada gibt. Ferien scheint Bob Dylan auch nach einem halben Jahrhundert Weltkarriere nicht zu kennen. Als ich ihn im Sommer 2015 im Baskenland hörte, war seine Stimme in bestechender Form. Er trug einen Hut und einen langen sandfarbenen Mantel, seine Tourband kam ganz in Rot. Nach zwei Stunden war Schluss. Sie spielten, als würden sie nur darauf warten, dass wir endlich den Saal räumen, damit sie noch ein bisschen weitermachen können.
PAUL INGENDAAY
Bob Dylan: "Lyrics: Sämtliche Songtexte 1962-2012". Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Hoffmann & Campe, 1280 Seiten, 69 Euro
Bob Dylan: "Tarantel". Aus dem Englischen von Carl Weissner. Revidiert und mit einem Nachwort von Heinrich Detering. Hoffmann & Campe, 384 Seiten, 24 Euro
Bob Dylan: "Planetenwellen". Gedichte und Prosa. Übersetzt und kommentiert von Heinrich Detering. Hoffmann & Campe, 496 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Tarantel ist eine wilde Mischung aus aus experimentellem Roman und Prosagedicht, mit surrealistisch-ausufernden Wortspielereien.« Jürgen Wagner Gießner Allgemeine 20161212