Vor 15 Jahren haben sich Vincent und Geneviève getrennt, der Tod ihrer Tochter hatte ihre Ehe zerstört. Heute fährt Vincent zu Geneviève, die in Kürze sterben wird und ihn ein letztes Mal sehen möchte. Beide werden sich erinnern und Geneviève wird beruhigt sterben können. Ein ergreifender Roman ohne jeden Pathos, der das Vergängliche in unserem Leben meisterhaft beschreibt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2008Verdunkelung der Seelen
Ein Mädchen kommt eines Tages nicht mehr von der Schule nach Hause: Der Roman der französischen Autorin Laurence Tardieu erzählt davon, wie die Eltern versuchen müssen, mit ihrer Trauer weiterzuleben.
Schon im Titel und dann auf etwas mehr als hundert Textseiten sagt uns dieser Roman, dass es im Menschenleben nichts Dauerndes gibt. Das ist natürlich niemandem neu, nicht einmal kleinen Kindern, gerade denen nicht. Denn die wollen ja nicht klein bleiben, sondern sich auf irgendeine Weise in erfolgreiche Erwachsene verwandeln. Aber wenn sie das dann geschafft haben, kann es irgendwann einmal passieren, dass sie das Gesetz des stetigen Wandels nicht mehr als willkommenes Geschenk erleben, sondern als entsetzliches Unglück. In eine solche Situation führt uns dieses Buch.
Die französische Schriftstellerin Laurence Tardieu, geboren 1972, schuf sich für ihre Demonstration zwei Modellfiguren, Vincent und Geneviève, ein Ehepaar. Deren Alltag verläuft friedlich und freundlich bis zu dem Tag, da ihre achtjährige Tochter Clara von der Schule nicht wieder heimkommt. Die Eltern erfahren nie, was dem Kind zugestoßen ist, und auch uns Lesern wird diese Auskunft vorenthalten. Offensichtlich lag der Erzählerin nichts daran, ihrer Geschichte einen kriminalen Touch zu verleihen, sie kümmert sich ausschließlich um das Seelenleben der Elternfiguren, um die Auswirkungen der Katastrophe auf die Ehe von Vincent und Geneviève. Und die sind schlimm. Wir werden Zeugen eines unaufhaltsamen Verfalls all der Gefühle, die das Paar miteinander verband. Entsetzen und Leid treffen zwar beide gleichermaßen, doch fühlt jeder nur für sich und ist nicht imstande, sich in den Partner hineinzuversetzen, den Schicksalsschlag mit ihm zu teilen. Im düsteren Schatten, der die Seelen verdunkelt, verdorren Liebe und Gefährtenschaft. Die Ehe zerbricht.
Warum das so ist, anscheinend nicht anders sein kann, bleibt offen. Wir erfahren zu wenig über Mann und Frau, als dass wir ohne weiteres erfassen könnten, warum sie unfähig sind, miteinander zu leiden, sich gegenseitig zu stützen. Möglicherweise gibt es viele Gemeinschaften, die unter einer so schweren Belastung zerbrechen würden.
Doch um zu verstehen, was im gegebenen Fall vor sich geht und warum nichts anderes möglich ist, müssten wir Vincent und Geneviève besser kennenlernen. Wir müssten erfahren, aus welchen Ursprüngen sie kamen, unter welchen Auspizien sie sich entwickelten und zu den Persönlichkeiten wurden, die uns im Buch begegnen. Aber wir gewahren sie nur im Banne des Unwetters, das über sie hereinbrach, dem sie nichts entgegenzusetzen wissen, ja, dem sie bei der Zerstörung ihrer Welt sogar helfen.
Kurz gesagt, die Autorin müsste uns mehr Einblick gewähren, eine weitere Sicht ermöglichen. Da uns die Tragödie der Eheleute aber nur von den Beteiligten vermittelt wird, sind wir auf den relativ engen Horizont der Romanhelden beschränkt. Genevièves Mitteilungen entstammen einem Tagebuch, und zwar den Eintragungen von 1990, dem Jahr also, in dem Clara verschwand. Vincent dagegen schrieb niemals etwas auf. Dennoch erfahren wir alles, was er denkt, was er fühlt, was ihm geschieht. Durch wessen Vermittlung? Der des Mediums Autorin, wie sonst.
Natürlich darf ein Schriftsteller seine Fabel allein aus dem Inneren einer Romanfigur entwickeln. Aber eigentlich ist das in diesem Buch gar nicht Laurence Tardieus Methode. Oder ist es nur zum Teil, denn der Gegenfigur verschafft sie ja eine eigene Sprechmöglichkeit. Es bleibt nicht aus, dass man sich, wenn Vincent das Wort ergreift, ein wenig verwirrt fühlt: Mit wem redet er? Auf welche Weise kommen wir an sein Denken?
Was der trauernde Ehemann und Vater zu äußern hat, ist dem Jahr 2005 zugeordnet. Seit dem erlittenen Schrecken sind also fünfzehn Jahre vergangen. Vincent ruft in sein Gedächtnis, wie er versuchte, alles Entsetzliche auszugrenzen, sein Inneres abzuschotten, ein anderes Leben zu beginnen. Natürlich misslang ihm das, auch Pascale, die neue Frau an seiner Seite, konnte dabei nicht helfen. Und nun erreicht ihn die Nachricht, dass Geneviève im Sterben liegt, nach seiner Gegenwart verlangt. Es endet wie nicht anders möglich: Das einstige Paar kommt für ein paar letzte Stunden zusammen und hat Gelegenheit, der alten Liebe zu gedenken, des alten Glücks und der beklemmenden Unfähigkeit, im Unglück zueinanderzustehen.
Wie lässt diese trübselige Geschichte den Leser zurück? Ziemlich ergriffen, weil hier unschuldigen Menschen allzu viel Leid widerfährt. Ein bisschen enttäuscht, weil die zwei Romanhelden nicht des Schatzes gewahr werden konnten, der ihnen, bei allem Verlust, doch geblieben wäre: ihrer in Jahren erprobten Gemeinschaft. Und verhalten hoffnungsvoll, weil Vincent am Ende zu Gedanken findet, die eine bessere Zukunft möglich scheinen lassen: Er beschließt nämlich, fortan mit Pascale die Erinnerungen an die verlorene Tochter zu teilen. Wetten allerdings möchte wohl niemand darauf, dass diese Geste die Tür zu neuem Glück öffnet. Denn den Beweis, dass Vincent durch das Erlebte nicht nur belastet, sondern auch klüger geworden ist, liefert der Roman nicht.
SABINE BRANDT.
Laurence Tardieu: "Weil nichts bleibt, wie es ist". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Patricia Klobusiczky. Claassen Verlag, Berlin 2007. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Mädchen kommt eines Tages nicht mehr von der Schule nach Hause: Der Roman der französischen Autorin Laurence Tardieu erzählt davon, wie die Eltern versuchen müssen, mit ihrer Trauer weiterzuleben.
Schon im Titel und dann auf etwas mehr als hundert Textseiten sagt uns dieser Roman, dass es im Menschenleben nichts Dauerndes gibt. Das ist natürlich niemandem neu, nicht einmal kleinen Kindern, gerade denen nicht. Denn die wollen ja nicht klein bleiben, sondern sich auf irgendeine Weise in erfolgreiche Erwachsene verwandeln. Aber wenn sie das dann geschafft haben, kann es irgendwann einmal passieren, dass sie das Gesetz des stetigen Wandels nicht mehr als willkommenes Geschenk erleben, sondern als entsetzliches Unglück. In eine solche Situation führt uns dieses Buch.
Die französische Schriftstellerin Laurence Tardieu, geboren 1972, schuf sich für ihre Demonstration zwei Modellfiguren, Vincent und Geneviève, ein Ehepaar. Deren Alltag verläuft friedlich und freundlich bis zu dem Tag, da ihre achtjährige Tochter Clara von der Schule nicht wieder heimkommt. Die Eltern erfahren nie, was dem Kind zugestoßen ist, und auch uns Lesern wird diese Auskunft vorenthalten. Offensichtlich lag der Erzählerin nichts daran, ihrer Geschichte einen kriminalen Touch zu verleihen, sie kümmert sich ausschließlich um das Seelenleben der Elternfiguren, um die Auswirkungen der Katastrophe auf die Ehe von Vincent und Geneviève. Und die sind schlimm. Wir werden Zeugen eines unaufhaltsamen Verfalls all der Gefühle, die das Paar miteinander verband. Entsetzen und Leid treffen zwar beide gleichermaßen, doch fühlt jeder nur für sich und ist nicht imstande, sich in den Partner hineinzuversetzen, den Schicksalsschlag mit ihm zu teilen. Im düsteren Schatten, der die Seelen verdunkelt, verdorren Liebe und Gefährtenschaft. Die Ehe zerbricht.
Warum das so ist, anscheinend nicht anders sein kann, bleibt offen. Wir erfahren zu wenig über Mann und Frau, als dass wir ohne weiteres erfassen könnten, warum sie unfähig sind, miteinander zu leiden, sich gegenseitig zu stützen. Möglicherweise gibt es viele Gemeinschaften, die unter einer so schweren Belastung zerbrechen würden.
Doch um zu verstehen, was im gegebenen Fall vor sich geht und warum nichts anderes möglich ist, müssten wir Vincent und Geneviève besser kennenlernen. Wir müssten erfahren, aus welchen Ursprüngen sie kamen, unter welchen Auspizien sie sich entwickelten und zu den Persönlichkeiten wurden, die uns im Buch begegnen. Aber wir gewahren sie nur im Banne des Unwetters, das über sie hereinbrach, dem sie nichts entgegenzusetzen wissen, ja, dem sie bei der Zerstörung ihrer Welt sogar helfen.
Kurz gesagt, die Autorin müsste uns mehr Einblick gewähren, eine weitere Sicht ermöglichen. Da uns die Tragödie der Eheleute aber nur von den Beteiligten vermittelt wird, sind wir auf den relativ engen Horizont der Romanhelden beschränkt. Genevièves Mitteilungen entstammen einem Tagebuch, und zwar den Eintragungen von 1990, dem Jahr also, in dem Clara verschwand. Vincent dagegen schrieb niemals etwas auf. Dennoch erfahren wir alles, was er denkt, was er fühlt, was ihm geschieht. Durch wessen Vermittlung? Der des Mediums Autorin, wie sonst.
Natürlich darf ein Schriftsteller seine Fabel allein aus dem Inneren einer Romanfigur entwickeln. Aber eigentlich ist das in diesem Buch gar nicht Laurence Tardieus Methode. Oder ist es nur zum Teil, denn der Gegenfigur verschafft sie ja eine eigene Sprechmöglichkeit. Es bleibt nicht aus, dass man sich, wenn Vincent das Wort ergreift, ein wenig verwirrt fühlt: Mit wem redet er? Auf welche Weise kommen wir an sein Denken?
Was der trauernde Ehemann und Vater zu äußern hat, ist dem Jahr 2005 zugeordnet. Seit dem erlittenen Schrecken sind also fünfzehn Jahre vergangen. Vincent ruft in sein Gedächtnis, wie er versuchte, alles Entsetzliche auszugrenzen, sein Inneres abzuschotten, ein anderes Leben zu beginnen. Natürlich misslang ihm das, auch Pascale, die neue Frau an seiner Seite, konnte dabei nicht helfen. Und nun erreicht ihn die Nachricht, dass Geneviève im Sterben liegt, nach seiner Gegenwart verlangt. Es endet wie nicht anders möglich: Das einstige Paar kommt für ein paar letzte Stunden zusammen und hat Gelegenheit, der alten Liebe zu gedenken, des alten Glücks und der beklemmenden Unfähigkeit, im Unglück zueinanderzustehen.
Wie lässt diese trübselige Geschichte den Leser zurück? Ziemlich ergriffen, weil hier unschuldigen Menschen allzu viel Leid widerfährt. Ein bisschen enttäuscht, weil die zwei Romanhelden nicht des Schatzes gewahr werden konnten, der ihnen, bei allem Verlust, doch geblieben wäre: ihrer in Jahren erprobten Gemeinschaft. Und verhalten hoffnungsvoll, weil Vincent am Ende zu Gedanken findet, die eine bessere Zukunft möglich scheinen lassen: Er beschließt nämlich, fortan mit Pascale die Erinnerungen an die verlorene Tochter zu teilen. Wetten allerdings möchte wohl niemand darauf, dass diese Geste die Tür zu neuem Glück öffnet. Denn den Beweis, dass Vincent durch das Erlebte nicht nur belastet, sondern auch klüger geworden ist, liefert der Roman nicht.
SABINE BRANDT.
Laurence Tardieu: "Weil nichts bleibt, wie es ist". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Patricia Klobusiczky. Claassen Verlag, Berlin 2007. 128 S., geb., 16,- [Euro].
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