Tarkowskis PferdeIn der Schönheit eines Pferdesauf einer sonnenbeschienenenWeide,an der ich im Zug vorüberfahre,wenige Tagenach dem Todes meines Vaters - sehe ich ihn plötzlich wieder. Ein Déjà-vu kann eine Flut von Erinnerungen auslösen, wie spätestens Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit literarisch beeindruckend belegt. Für Pia Tafdrup ist der Anblick grasender Pferde in der letzten Sequenz von Andrej Tarkowskis Film Andrej Rubljow ein solcher Moment: Nachdem sie Studenten in Jütland ihren Lieblingsfilm gezeigt hat, erblickt sie auf der Rückfahrt zufällig das gleiche Motiv aus dem Zugfenster und plötzlich "ist mein Vater zugegen" - der kurz zuvor gestorben ist. Tafdrup schildert das Erlebnis im Titelgedicht des vorliegenden Bandes, das gleichzeitig das Schlussgedicht ist. Danach stürzen die Erinnerungen auf sie ein, und sie schreibt diesen klar-analytischen wie ergreifenden Zyklus über Demenz und Tod des verehrten Vaters: die Gespräche mit ihm, die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, seine zunehmende Verwirrtheit und ihre eigene Hilflosigkeit. Pia Tafdrup gehört zu den bedeutendsten Lyrikern Dänemarks. Viele ihrer Gedichte erschienen in deutscher Übersetzung in Zeitschriften und Anthologien. Tarkowskis Pferde ist ihre erste Buchveröffentlichung in deutscher Sprache.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2018Die Brücke zum Gestern ist gesprengt
Die Toten reden mit und trotzen der Zeit: Pia Tafdrups Gedichte beschreiben die Demenz ihres Vaters als Verlusttabelle der Erinnerung.
Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, fällt er in sich selbst zurück, wird Teil jener "Vergessenheitsbibliothek", die für die dänische Lyrikerin Pia Tafdrup mit der Demenz und schließlich dem Tod des eigenen Vaters zusammenfällt. Zugleich ist das große Ausgelöschtwerden eines Menschen auch der paradoxe Moment, in dem für andere die Essenz seines Lebens sichtbar wird. Die Demenz und der endgültige Abschied des Vaters verlangen Tafdrup wiederum eine hochkonzentrierte Hingabe an die gemeinsam durchschrittene Existenz ab. Was bleibt von einem nahen Menschen, wenn er nichts mehr zu seinem eigenen Gedenken beitragen kann?
Die 1952 in Kopenhagen geborene Pia Tafdrup, die zu den wichtigsten dichterischen Stimmen ihres Landes zählt, hält dieser Frage mit großer Geduld stand. Unweigerlich stellt sich der Eindruck ein, dass sich in dieser Situation des wie mit einer Axt gefällten väterlichen Gedächtnisses die Rollen vertauschen. Die Tochter, voller Fürsorge und Aufnahmefähigkeit, versucht bei jeder Regung den Vater zu lesen, ihn und seine Bedürfnisse zu verstehen, so wie er es einst getan hat, als sie noch ein Kind und der Wärme seiner wissenden Hände bedürftig war. Die Intensität dieses seelischen Gesprächs zwischen Vater und Tochter ist derart stark, dass stellenweise nur noch die akribische Benennung des einst gemeinsam Erlebten den Schmerz aushaltbar macht - wie in dem Gedicht "Notschrei", in dem es heißt: "Die Brücke zum Gestern ist gesprengt, mein Vater / hat keine Erinnerung daran, / dass wir Stauden pflanzten in sein Beet, / die Blumen sind ein Nichts, ein blankes Negativ."
So trostlos diese Szene erst erscheint, so reich wird sie im Blick der Tochter, wenn klar wird, dass dem Vater zwar die Brücken zu seiner Vergangenheit nicht mehr zur Verfügung stehen, ihn dafür aber eine Art imaginäre Korrespondenz beschäftigt: Sein toter Bruder, seine tote Schwester, seine tote Mutter sind allgegenwärtig; die Toten reden mit, haben als in Bildern Auferstandene Anteil am geheimen Leben des Vaters. Da sie nun genauso wenig wie Tafdrups Vater an die Zeit gebunden sind, dürfen sie im Chor seiner inneren Stimmen mitsprechen. Was wir Lebenden eine "tröstende Lüge" nennen, erscheint in Wirklichkeit in unserer inneren Bildwelt als miteinander verbunden - die Toten haben ihr eigenes Archiv im ins Vergessen driftenden Vater abgelegt. Er scheint es mit seiner Sehnsucht zu aktivieren.
Vielleicht, so lassen sich diese Gedichte lesen, gilt das für alles Vergangene, das die guten Seiten unseres inneren Lebensbuches beschriftet hat. So stellt sich die Frage, ob nicht die an Demenz erkrankten Menschen uns in letzter Konsequenz das Gleiche wie die Toten erzählen - was sie verlieren, droht auch uns als Verlust und Schicksal. Wir können zwar unser Leben immer anders denken, als es ist, aber immer nur in Verknüpfung mit jenen, die wie wir in der Zeit leben oder gelebt haben. Pia Tafdrup zeigt mit ihren poetischen, nie herzlosen Sezierungen, auf welche Weise sich die konkrete Zeit auflösen und in ein persönliches Zeitempfinden verschieben kann, wenn ein naher Mensch sich aus dem Uhrwerk ausklinkt, das einst Orientierung verschafft hat.
Diese Gedichte sind nicht nur ein Requiem für den geliebten und verehrten Vater, sondern auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden. Der Kranke zeigt dem Gesundgebliebenen die Wege des eigenen Blicks. Zugleich wird die Wirkung des Sehens und Gesehenwerdens offenbar, die Welt vor der Veränderung des eigenen Bewusstseins - es ist eine Welt, in der die Chronologien mehr zählen als die inneren Wärmelinien eines von Erinnerung entkoppelten Menschen. Das lyrische, hier wache und Anteil nehmende Ich kann seine Autonomie nur tastend leben. Manchmal ist das nur mit einer Frage möglich, die es sich erlaubt, solange der Vater noch am Leben ist: "Verwandelt sich mein Vater / nicht mehr in den, / den ich kenne?" Statt aber auf Antworten zu warten, vertraut es sich einem Tier aus der väterlichen Erinnerung an und hält fest: "Durch eine unterirdische Passage / lass ich den Hund herein hier - / warum / ist es nötig / zu verstehen? / Ich streichle den Hund, gebe ihm Wasser zu trinken."
In der Imaginationskraft der Tochter steigt mit der Zugewandtheit auch die metaphysische Fähigkeit des Standhaltens, und die Zeit darf schmelzen: "... ist morgen bereits gestern?" Der zutiefst humane und also liebende Blick der Tochter auf die eigenen und die väterlichen inneren Landschaften führt dazu, dass die scheinbar versiegelte Erinnerung ihre eigene Verfassung aufgeben und wieder fließen kann. Die Denkrichtungen sind nun genauso wie die Rollen ausgewechselt, wenn ein vertrauter Mensch sich an andere, für den Gesunden uneinnehmbare Koordinaten hält, ja sich aus dem vertrauten Gefüge losreißt, so, wie sich in Andrej Tarkowskis Filmen (ganz besonders in "Andrej Rubljow") die Pferde losreißen und in die Unendlichkeit der Imagination auswandern; sie treten über eine Schwelle, hinter der das Vertraute nicht mehr existiert, wie wohl auch im Inneren eines Menschen, der uns vergessen hat - es wird nun nichts mehr mitgeteilt.
Immer wieder zeigt Pia Tafdrup an kleinen bewegenden Situationen, welche Prozesse im Denken und im Leben in Gang gesetzt werden, wenn nicht mehr die Struktur der Zeit die Beziehungen zwischen den Menschen gliedert. "Ob zwei Stunden / oder zwei Minuten vergangen sind, / ist das entscheidend, / solange Schutz gesucht wird / in einer glasklaren Erinnerung aus der Kindheit." Ein Rückgriff auf Erlebtes scheint also unvermeidlich. Das Tochter-Ich setzt letztlich den Unterschied, es nimmt die Bäume zum Anlass, um mittels Jahreszeiten über Orientierung nachzudenken: "Sie leuchten / in seinem Gehirn, / die weißen Stämme der Birken, / heroisch aufrecht / oder ruhig schwankend." Der Mensch, so bleibt am Ende ungeschönt zu erkennen, wird entwurzelt wie ein Baum, wenn er sein Gedächtnis verliert. Besonders bedeutsam für die Dichterin ist dabei die Tatsache, dass sich ihr das Netzwerk ihrer eigenen Erinnerungen bei einem Aufenthalt in Berlin zeigt, einer Stadt, zu der sie eine besondere Beziehung hat wie zu Deutschland überhaupt. Ihre Eltern musten als Juden 1943 die Flucht nach Schweden ergreifen. Der Vater, ein gebildeter Mann und Kenner der deutschen Poesie, den das lyrische Ich zum Gravitationszentrum dieses Gedichtbandes erwählt, wurde mit seinen Geschwistern im Exil Mitglied einer dänischen Widerstandseinheit und war dann nach dem Krieg Landgutbesitzer nördlich von Kopenhagen. Die so im Gedächtnis der Tochter abgelegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts spricht stets mit, besonders in ihrem hellwachen Blick.
Dieses denkende Sehen ist sich darüber im Klaren, dass das, was für die Tochter "Gegenwart" ist, eine Zukunft sein wird, die ihr Vater niemals kennenlernen wird. Ist diese Auslöschung eine Erlösung? Darüber sagt Pia Tafdrup nichts, da die direkte und persönliche Beziehung zum Vater im Vordergrund steht. Nun, gen Ende seines Lebens, bleiben auch ihr nur noch die innere Zeit, die gelebten Essenzen, die einzelnen Liebkosungen - nackte Augenblicke, die die Dichterin als innere Funken der Stille beschreibt und die nicht jenseits der eigenen Hingabe überleben können. Alles geht seinen Gang, ". . . weiter stürzen die Sterne / von Jahrmillionen / ist es dieses Jetzt - / die früheste Morgenstunde, / abgebeizt und durchsichtig." Dieses Gedicht, "Verlusttabelle", hebt besonders hervor, wie das Element der Dichtung arbeitet, wenn es die Schwebezustände zwischen Verstehen und Vergessen auffängt, auch die Tyrannei der äußeren Zeit wird dabei sichtbar, die gnadenlos weiterläuft und sich nicht mit den inneren Landschaften des Menschen aufhält: "Mein Vater vergeht wie Tage / fliehen." Und dennoch kann zumindest das lyrische Ich von sich sagen: ". . . es gibt Schritte / über die Logik hinaus, / Sonnensysteme aus Unerklärbarkeiten. Obwohl er doch lebt, / such ich nach / meinem Vater in meinem Vater."
Rettung kommt in der metaphysisch in jeder Hinsicht zugespitzten Situation ausgerechnet von einer Katze, also einem sprachlosen Wesen, dessen Gedächtnis uns aber gleichermaßen Terra incognita ist, wie das auch bei einem an Alzheimer erkrankten Menschen der Fall ist. Über die rauhe Zunge des Tieres, die Tafdrups Hand schleckt, heißt es, sie sage ihr: ". . . ich soll nicht ertrinken / in einer salzigen Träne, / die Katze macht einen Buckel, Zeit, ihr Futter zu geben."
Pia Tafdrups Buch ist von schmerzlicher Schönheit, durchströmt von einer Innigkeit der Hingabe und Wahrnehmung, wie sie nur dem poetischen Momentum aneignet, in dem das Aufscheinen der Welt mit ihrem Abschied einhergeht und so aufzeigt, dass die unvergänglichen Dinge mehr weh tun können als jeder andere im Verlauf des eigenen Lebens für wahr gehaltene Schmerz. Das Wort "Vater" etwa existiert allem Verlust zum Trotz weiter als "vielfarbige Erinnerung", in die die Tochter selbst für immer eingeschmolzen ist, gerade weil es heißt: "Ich habe meinen Vater an ihn selbst verloren."
MARICA BODROZIC
Pia Tafdrup: "Tarkowskis Pferde". Gedichte.
Aus dem Dänischen und mit einer Nachbemerkung von Peter Urban-Halle. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017. 117 S.,
geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Toten reden mit und trotzen der Zeit: Pia Tafdrups Gedichte beschreiben die Demenz ihres Vaters als Verlusttabelle der Erinnerung.
Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, fällt er in sich selbst zurück, wird Teil jener "Vergessenheitsbibliothek", die für die dänische Lyrikerin Pia Tafdrup mit der Demenz und schließlich dem Tod des eigenen Vaters zusammenfällt. Zugleich ist das große Ausgelöschtwerden eines Menschen auch der paradoxe Moment, in dem für andere die Essenz seines Lebens sichtbar wird. Die Demenz und der endgültige Abschied des Vaters verlangen Tafdrup wiederum eine hochkonzentrierte Hingabe an die gemeinsam durchschrittene Existenz ab. Was bleibt von einem nahen Menschen, wenn er nichts mehr zu seinem eigenen Gedenken beitragen kann?
Die 1952 in Kopenhagen geborene Pia Tafdrup, die zu den wichtigsten dichterischen Stimmen ihres Landes zählt, hält dieser Frage mit großer Geduld stand. Unweigerlich stellt sich der Eindruck ein, dass sich in dieser Situation des wie mit einer Axt gefällten väterlichen Gedächtnisses die Rollen vertauschen. Die Tochter, voller Fürsorge und Aufnahmefähigkeit, versucht bei jeder Regung den Vater zu lesen, ihn und seine Bedürfnisse zu verstehen, so wie er es einst getan hat, als sie noch ein Kind und der Wärme seiner wissenden Hände bedürftig war. Die Intensität dieses seelischen Gesprächs zwischen Vater und Tochter ist derart stark, dass stellenweise nur noch die akribische Benennung des einst gemeinsam Erlebten den Schmerz aushaltbar macht - wie in dem Gedicht "Notschrei", in dem es heißt: "Die Brücke zum Gestern ist gesprengt, mein Vater / hat keine Erinnerung daran, / dass wir Stauden pflanzten in sein Beet, / die Blumen sind ein Nichts, ein blankes Negativ."
So trostlos diese Szene erst erscheint, so reich wird sie im Blick der Tochter, wenn klar wird, dass dem Vater zwar die Brücken zu seiner Vergangenheit nicht mehr zur Verfügung stehen, ihn dafür aber eine Art imaginäre Korrespondenz beschäftigt: Sein toter Bruder, seine tote Schwester, seine tote Mutter sind allgegenwärtig; die Toten reden mit, haben als in Bildern Auferstandene Anteil am geheimen Leben des Vaters. Da sie nun genauso wenig wie Tafdrups Vater an die Zeit gebunden sind, dürfen sie im Chor seiner inneren Stimmen mitsprechen. Was wir Lebenden eine "tröstende Lüge" nennen, erscheint in Wirklichkeit in unserer inneren Bildwelt als miteinander verbunden - die Toten haben ihr eigenes Archiv im ins Vergessen driftenden Vater abgelegt. Er scheint es mit seiner Sehnsucht zu aktivieren.
Vielleicht, so lassen sich diese Gedichte lesen, gilt das für alles Vergangene, das die guten Seiten unseres inneren Lebensbuches beschriftet hat. So stellt sich die Frage, ob nicht die an Demenz erkrankten Menschen uns in letzter Konsequenz das Gleiche wie die Toten erzählen - was sie verlieren, droht auch uns als Verlust und Schicksal. Wir können zwar unser Leben immer anders denken, als es ist, aber immer nur in Verknüpfung mit jenen, die wie wir in der Zeit leben oder gelebt haben. Pia Tafdrup zeigt mit ihren poetischen, nie herzlosen Sezierungen, auf welche Weise sich die konkrete Zeit auflösen und in ein persönliches Zeitempfinden verschieben kann, wenn ein naher Mensch sich aus dem Uhrwerk ausklinkt, das einst Orientierung verschafft hat.
Diese Gedichte sind nicht nur ein Requiem für den geliebten und verehrten Vater, sondern auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden. Der Kranke zeigt dem Gesundgebliebenen die Wege des eigenen Blicks. Zugleich wird die Wirkung des Sehens und Gesehenwerdens offenbar, die Welt vor der Veränderung des eigenen Bewusstseins - es ist eine Welt, in der die Chronologien mehr zählen als die inneren Wärmelinien eines von Erinnerung entkoppelten Menschen. Das lyrische, hier wache und Anteil nehmende Ich kann seine Autonomie nur tastend leben. Manchmal ist das nur mit einer Frage möglich, die es sich erlaubt, solange der Vater noch am Leben ist: "Verwandelt sich mein Vater / nicht mehr in den, / den ich kenne?" Statt aber auf Antworten zu warten, vertraut es sich einem Tier aus der väterlichen Erinnerung an und hält fest: "Durch eine unterirdische Passage / lass ich den Hund herein hier - / warum / ist es nötig / zu verstehen? / Ich streichle den Hund, gebe ihm Wasser zu trinken."
In der Imaginationskraft der Tochter steigt mit der Zugewandtheit auch die metaphysische Fähigkeit des Standhaltens, und die Zeit darf schmelzen: "... ist morgen bereits gestern?" Der zutiefst humane und also liebende Blick der Tochter auf die eigenen und die väterlichen inneren Landschaften führt dazu, dass die scheinbar versiegelte Erinnerung ihre eigene Verfassung aufgeben und wieder fließen kann. Die Denkrichtungen sind nun genauso wie die Rollen ausgewechselt, wenn ein vertrauter Mensch sich an andere, für den Gesunden uneinnehmbare Koordinaten hält, ja sich aus dem vertrauten Gefüge losreißt, so, wie sich in Andrej Tarkowskis Filmen (ganz besonders in "Andrej Rubljow") die Pferde losreißen und in die Unendlichkeit der Imagination auswandern; sie treten über eine Schwelle, hinter der das Vertraute nicht mehr existiert, wie wohl auch im Inneren eines Menschen, der uns vergessen hat - es wird nun nichts mehr mitgeteilt.
Immer wieder zeigt Pia Tafdrup an kleinen bewegenden Situationen, welche Prozesse im Denken und im Leben in Gang gesetzt werden, wenn nicht mehr die Struktur der Zeit die Beziehungen zwischen den Menschen gliedert. "Ob zwei Stunden / oder zwei Minuten vergangen sind, / ist das entscheidend, / solange Schutz gesucht wird / in einer glasklaren Erinnerung aus der Kindheit." Ein Rückgriff auf Erlebtes scheint also unvermeidlich. Das Tochter-Ich setzt letztlich den Unterschied, es nimmt die Bäume zum Anlass, um mittels Jahreszeiten über Orientierung nachzudenken: "Sie leuchten / in seinem Gehirn, / die weißen Stämme der Birken, / heroisch aufrecht / oder ruhig schwankend." Der Mensch, so bleibt am Ende ungeschönt zu erkennen, wird entwurzelt wie ein Baum, wenn er sein Gedächtnis verliert. Besonders bedeutsam für die Dichterin ist dabei die Tatsache, dass sich ihr das Netzwerk ihrer eigenen Erinnerungen bei einem Aufenthalt in Berlin zeigt, einer Stadt, zu der sie eine besondere Beziehung hat wie zu Deutschland überhaupt. Ihre Eltern musten als Juden 1943 die Flucht nach Schweden ergreifen. Der Vater, ein gebildeter Mann und Kenner der deutschen Poesie, den das lyrische Ich zum Gravitationszentrum dieses Gedichtbandes erwählt, wurde mit seinen Geschwistern im Exil Mitglied einer dänischen Widerstandseinheit und war dann nach dem Krieg Landgutbesitzer nördlich von Kopenhagen. Die so im Gedächtnis der Tochter abgelegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts spricht stets mit, besonders in ihrem hellwachen Blick.
Dieses denkende Sehen ist sich darüber im Klaren, dass das, was für die Tochter "Gegenwart" ist, eine Zukunft sein wird, die ihr Vater niemals kennenlernen wird. Ist diese Auslöschung eine Erlösung? Darüber sagt Pia Tafdrup nichts, da die direkte und persönliche Beziehung zum Vater im Vordergrund steht. Nun, gen Ende seines Lebens, bleiben auch ihr nur noch die innere Zeit, die gelebten Essenzen, die einzelnen Liebkosungen - nackte Augenblicke, die die Dichterin als innere Funken der Stille beschreibt und die nicht jenseits der eigenen Hingabe überleben können. Alles geht seinen Gang, ". . . weiter stürzen die Sterne / von Jahrmillionen / ist es dieses Jetzt - / die früheste Morgenstunde, / abgebeizt und durchsichtig." Dieses Gedicht, "Verlusttabelle", hebt besonders hervor, wie das Element der Dichtung arbeitet, wenn es die Schwebezustände zwischen Verstehen und Vergessen auffängt, auch die Tyrannei der äußeren Zeit wird dabei sichtbar, die gnadenlos weiterläuft und sich nicht mit den inneren Landschaften des Menschen aufhält: "Mein Vater vergeht wie Tage / fliehen." Und dennoch kann zumindest das lyrische Ich von sich sagen: ". . . es gibt Schritte / über die Logik hinaus, / Sonnensysteme aus Unerklärbarkeiten. Obwohl er doch lebt, / such ich nach / meinem Vater in meinem Vater."
Rettung kommt in der metaphysisch in jeder Hinsicht zugespitzten Situation ausgerechnet von einer Katze, also einem sprachlosen Wesen, dessen Gedächtnis uns aber gleichermaßen Terra incognita ist, wie das auch bei einem an Alzheimer erkrankten Menschen der Fall ist. Über die rauhe Zunge des Tieres, die Tafdrups Hand schleckt, heißt es, sie sage ihr: ". . . ich soll nicht ertrinken / in einer salzigen Träne, / die Katze macht einen Buckel, Zeit, ihr Futter zu geben."
Pia Tafdrups Buch ist von schmerzlicher Schönheit, durchströmt von einer Innigkeit der Hingabe und Wahrnehmung, wie sie nur dem poetischen Momentum aneignet, in dem das Aufscheinen der Welt mit ihrem Abschied einhergeht und so aufzeigt, dass die unvergänglichen Dinge mehr weh tun können als jeder andere im Verlauf des eigenen Lebens für wahr gehaltene Schmerz. Das Wort "Vater" etwa existiert allem Verlust zum Trotz weiter als "vielfarbige Erinnerung", in die die Tochter selbst für immer eingeschmolzen ist, gerade weil es heißt: "Ich habe meinen Vater an ihn selbst verloren."
MARICA BODROZIC
Pia Tafdrup: "Tarkowskis Pferde". Gedichte.
Aus dem Dänischen und mit einer Nachbemerkung von Peter Urban-Halle. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2017. 117 S.,
geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie die dänische Dicherin Pia Tafdrup die Demenz ihres Vaters in einem lyrischen Gespräch festhält, hat Marcia Bodrozic tief bewegt und beeindruckt. Als intensiv und schmerzhaft beschreibt die Rezensentin die hier vermittelte Erfahrung vom Verlöschen der Erinnerung. Die imaginäre Korrespondenz der Autorin, poetisch und liebevoll, ist für Bodrozic auch ein Spiegel für die Lebenden und Gesunden und Beispiel für die "metaphysische Fähigkeit des Standhaltens". Wie es ist, wenn die zeitliche Struktur in der menschlichen Beziehungen wegfällt, erfährt die Rezensentin eindringlich und fragt sich schließlich: Handelt es sich um Auslöschung oder Erlösung? Die Autorin schweigt dazu in ihrem Buch von schmerzlicher Innigkeit und Schönheit, so Bodrozic.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Der Band liest sich in seiner Gesamtheit geschlossen und soghaft, er sollte bei dem Thema auch durchaus in einem Zug genossen werden. (Jonis Hartmann, Fixpoetry, 08.07.2017)