Tristan Tzara ist eine der Schlüsselfiguren der vielleicht einflussreichsten Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts: Dada. Tzara wurde am 16. (oder 17. oder 14 oder 28.) April 1896 als Samuel Rosenstok in einer rumänischen Provinzstadt geboren. Zwanzig Jahre später schuf er unter neuem Namen mit Marcel Janco, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Hans Arp und anderen im Züricher Cabaret Voltaire durch eine Reihe von chaotischen Performances Dada. Mit Tzara als treibender Kraft entwickelte sich Dada innerhalb weniger Jahre zu einem Sammelplatz für junge Künstler aus Paris, New York, Barcelona, Berlin und Buenos Aires, zu einer internationalen Bewegung, die die Kunst für immer verändern sollte. Marius Hentea zeichnet Tzaras Kindheit und Jugend in Rumänien detailliert nach, würdigt ausführlich die Verdienste seiner Dada-Jahre und rekonstruiert die oft überraschenden und abenteuerlichen Aktivitäten aus der Zeit nach Dada. Hentea legt mit TATA DADA nun die erste Biografie dieses wegweisenden Künstlers, Dichters und Aktivisten vor.
Frankfurter Allgemeine ZeitungEin Netzwerker der europäischen Avantgarde
Als Dada starb, hatte er noch einiges vor: Marius Hentea schreibt sich durch das Leben von Tristan Tzara
Möglicherweise ist es ja tatsächlich jenem damals knapp zwanzigjährigen Rumänen Samuel Rosenstock, der sich Tristan Tzara nannte, zu verdanken, dass das absichtsvoll unsinnige Stammelwort "Dada" eine so erstaunliche Karriere machen konnte. Denn die anderen Künstler, Theaterleute und Lebensstrategen, die sich während des Februars 1916 in Zürich als Kernmannschaft des Cabaret Voltaire herauskristallisieren, denken nicht als allererstes daran, ihrem bunten Treiben gleich wieder einen Namen zu geben. Muss man denn aus jeder Laune gleich eine Kunstrichtung machen? Wenn es nach Tzara geht: unbedingt! Denn mit diesem Wort lässt sich, gerade weil es so bedeutungsleer ist, gehörig Wirbel veranstalten. Noch in Zürich beginnt Tzara damit, die Dada-Zeitschriften in alle Herren Länder zu verschicken, er tauschhandelt Beiträge und Rezensionen, strickt ein Netzwerk der europäischen Avantgarde. Und so wie Richard Huelsenbeck es für Berlin unternimmt, exportiert Tzara Dada nach Paris, wo er mit provokanten Veranstaltungen dafür sorgt, dass es schwer wird, Dada in den frühen zwanzigerer Jahren nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Als Dada sich leergelaufen hat, ist Tzara erst 26 Jahre alt. Dass er Dada nie so recht loswerden wird, dafür hat er selbst gesorgt. Gerade deshalb ist eine Biographie Tzaras unbedingt wünschenswert: weil mit ihr die Fokussierung auf Dada einer größer angelegten Schau auf ein herausragend exemplarisches Schriftstellerleben des zwanzigsten Jahrhunderts weichen kann. "Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer des Tristan Tzara" lautet denn auch der viel versprechende Untertitel der Biographie des Literaturwissenschaftlers Marius Hentea. Denn lässt sich so ein Leben überhaupt als eines erzählen? Wo wäre hinter den "himmlischen Abenteuern" des Dada-Propagandisten, des Kunstsammlers, des bürgerlichen Bewohners eines von Adolf Loos gebauten Hauses, des französischsprachigen Lyrikers, des engagierten Antifaschisten, des Aufspürers von Anagrammen bei Villon und Rabelais das "wahre Leben" von Tzara? Und wenn man das "wahre Leben" als Fiktion erkannt hat, wie lassen sich die Schnipsel der Tzaraschen Selbstinszenierungskunst zu einem Porträt zusammenfügen?
Das fängt schon in der Vor-Dada-Zeit an. Zu den zahlreichen Mythos-Schnipselchen von Dada gehört, dass Tzara an den ersten Abenden noch schüchtern Zettelchen aus der Tasche geholt und alle angerührt hätte mit von Heimweh durchtränkten lyrischen Zeilen. Dabei hatte er sich längst in den Bukarester Kaffeehaus- und Zeitschriftenzirkeln avantgardisiert.
Hentea stammt aus Rumänien und kann daher, ausgerüstet mit immensem Recherchefleiß, einige Schätze aus Tzaras rumänischer Zeit bergen. Wie zum Beispiel das besorgte mütterliche Stakkatto in einem Brief in der Ermahnung "Du musst Mineralwasser trinken" mündet, die später bei Tzaras Erwiderung auf André Bretons fatalen Hang zum symbolischen Schauprozess wiederauftaucht. Oder wie Tzara einen biederen Schulaufsatz zu "Bedeutung, Geschichte und Einsatzbereich der Hygiene" verfasst, als Marinetti schon im ersten Manifest des Futurismus die "Hygiene des Krieges" verkündet hat.
Doch weiß Hentea mit solchen Funden nicht so recht etwas anzufangen. Als "Wahrheit" eines Lebens versteht er die faktische Realität, aber gerade im Falle eines Tristan Tzara geraten "himmlische Abenteuer" zu öden Lebensetappen, wenn man sie einfach hintereinander wegerzählt, so wie sie halt chronologisch stattgefunden haben.
Das wahre Leben, wäre es nicht in dem Spannungsfeld der Fragen aufzusuchen, die Tzara mit seinen Aktivitäten exemplarisch gestellt hat: Wie schafft es ein eigensinniger, von Eitelkeit nicht freier Literat, sich beständig Künstlergruppen anzuschließen, ja sie gar zu prägen, ohne den Eigensinn zu verlieren? Wie hält man so unterschiedliche Charaktere wie den asketischen Cabaret-Voltaire-Gründer Hugo Ball, den draufgängerischen Maler Francis Picabia oder den Chefideologen der Surrealisten, André Breton, nicht nur aus, sondern erzeugt mit ihnen wahre Schaffensräusche - wie kurz sie auch gewesen sein mögen?
Wie verhält sich eine Arbeit an der Sprache, die früh damit beginnt, das sprachliche Material von jeglicher Bedeutung zu emanzipieren, zum politischen Engagement? Gibt es bei Tzara eine Kontinuität im Protest gegen die gesellschaftliche Realität, der sich zwischen Dada-Sprachverwirrung und Unterstützung der Kommunistischen Partei Frankreichs nur unterschiedlich akzentuiert? Oder führen die Erfahrungen im Kampf gegen die spanischen Faschisten und der Flucht vor den deutschen zu einem Bruch im Denken und Schreiben, der die dadaistischen Aktivitäten wie harmlose Sperenzchen aussehen lässt? Schließlich: Wie fern muss man einer Sprache sein, um ihr so wesentliche Impulse geben zu können, dass man mit Fug und Recht als einer ihrer originellsten Dichter gelten darf?
Gerade diese von Tzara zurückgelegte lyrische Wegstrecke könnte Hentea als des Rumänischen Kundiger doch mit lohnender Intensität verfolgen. Dazu brauchte es ein wenig interpretatorischen Ehrgeiz und erzählerischen Schwung. Aber mit demselben Gestus, mit dem Hentea sich mit einer redlichen Analyse absichtsvoll unredlicher Texte um deren eigentlichen Reiz bringt, begräbt er insgesamt die Konstellation eines aufregenden, widerspruchsreichen künstlerischen Lebens unter der Solidität faktischer Zusammenschau.
MARTIN MITTELMEIER.
Marius Hentea: "Tata Dada". Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer von Tristan Tzara.
Aus dem Englischen von H. Fricke und V. Oldenburg. Berlin University Press, Berlin 2016. 376 S., br., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Dada starb, hatte er noch einiges vor: Marius Hentea schreibt sich durch das Leben von Tristan Tzara
Möglicherweise ist es ja tatsächlich jenem damals knapp zwanzigjährigen Rumänen Samuel Rosenstock, der sich Tristan Tzara nannte, zu verdanken, dass das absichtsvoll unsinnige Stammelwort "Dada" eine so erstaunliche Karriere machen konnte. Denn die anderen Künstler, Theaterleute und Lebensstrategen, die sich während des Februars 1916 in Zürich als Kernmannschaft des Cabaret Voltaire herauskristallisieren, denken nicht als allererstes daran, ihrem bunten Treiben gleich wieder einen Namen zu geben. Muss man denn aus jeder Laune gleich eine Kunstrichtung machen? Wenn es nach Tzara geht: unbedingt! Denn mit diesem Wort lässt sich, gerade weil es so bedeutungsleer ist, gehörig Wirbel veranstalten. Noch in Zürich beginnt Tzara damit, die Dada-Zeitschriften in alle Herren Länder zu verschicken, er tauschhandelt Beiträge und Rezensionen, strickt ein Netzwerk der europäischen Avantgarde. Und so wie Richard Huelsenbeck es für Berlin unternimmt, exportiert Tzara Dada nach Paris, wo er mit provokanten Veranstaltungen dafür sorgt, dass es schwer wird, Dada in den frühen zwanzigerer Jahren nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Als Dada sich leergelaufen hat, ist Tzara erst 26 Jahre alt. Dass er Dada nie so recht loswerden wird, dafür hat er selbst gesorgt. Gerade deshalb ist eine Biographie Tzaras unbedingt wünschenswert: weil mit ihr die Fokussierung auf Dada einer größer angelegten Schau auf ein herausragend exemplarisches Schriftstellerleben des zwanzigsten Jahrhunderts weichen kann. "Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer des Tristan Tzara" lautet denn auch der viel versprechende Untertitel der Biographie des Literaturwissenschaftlers Marius Hentea. Denn lässt sich so ein Leben überhaupt als eines erzählen? Wo wäre hinter den "himmlischen Abenteuern" des Dada-Propagandisten, des Kunstsammlers, des bürgerlichen Bewohners eines von Adolf Loos gebauten Hauses, des französischsprachigen Lyrikers, des engagierten Antifaschisten, des Aufspürers von Anagrammen bei Villon und Rabelais das "wahre Leben" von Tzara? Und wenn man das "wahre Leben" als Fiktion erkannt hat, wie lassen sich die Schnipsel der Tzaraschen Selbstinszenierungskunst zu einem Porträt zusammenfügen?
Das fängt schon in der Vor-Dada-Zeit an. Zu den zahlreichen Mythos-Schnipselchen von Dada gehört, dass Tzara an den ersten Abenden noch schüchtern Zettelchen aus der Tasche geholt und alle angerührt hätte mit von Heimweh durchtränkten lyrischen Zeilen. Dabei hatte er sich längst in den Bukarester Kaffeehaus- und Zeitschriftenzirkeln avantgardisiert.
Hentea stammt aus Rumänien und kann daher, ausgerüstet mit immensem Recherchefleiß, einige Schätze aus Tzaras rumänischer Zeit bergen. Wie zum Beispiel das besorgte mütterliche Stakkatto in einem Brief in der Ermahnung "Du musst Mineralwasser trinken" mündet, die später bei Tzaras Erwiderung auf André Bretons fatalen Hang zum symbolischen Schauprozess wiederauftaucht. Oder wie Tzara einen biederen Schulaufsatz zu "Bedeutung, Geschichte und Einsatzbereich der Hygiene" verfasst, als Marinetti schon im ersten Manifest des Futurismus die "Hygiene des Krieges" verkündet hat.
Doch weiß Hentea mit solchen Funden nicht so recht etwas anzufangen. Als "Wahrheit" eines Lebens versteht er die faktische Realität, aber gerade im Falle eines Tristan Tzara geraten "himmlische Abenteuer" zu öden Lebensetappen, wenn man sie einfach hintereinander wegerzählt, so wie sie halt chronologisch stattgefunden haben.
Das wahre Leben, wäre es nicht in dem Spannungsfeld der Fragen aufzusuchen, die Tzara mit seinen Aktivitäten exemplarisch gestellt hat: Wie schafft es ein eigensinniger, von Eitelkeit nicht freier Literat, sich beständig Künstlergruppen anzuschließen, ja sie gar zu prägen, ohne den Eigensinn zu verlieren? Wie hält man so unterschiedliche Charaktere wie den asketischen Cabaret-Voltaire-Gründer Hugo Ball, den draufgängerischen Maler Francis Picabia oder den Chefideologen der Surrealisten, André Breton, nicht nur aus, sondern erzeugt mit ihnen wahre Schaffensräusche - wie kurz sie auch gewesen sein mögen?
Wie verhält sich eine Arbeit an der Sprache, die früh damit beginnt, das sprachliche Material von jeglicher Bedeutung zu emanzipieren, zum politischen Engagement? Gibt es bei Tzara eine Kontinuität im Protest gegen die gesellschaftliche Realität, der sich zwischen Dada-Sprachverwirrung und Unterstützung der Kommunistischen Partei Frankreichs nur unterschiedlich akzentuiert? Oder führen die Erfahrungen im Kampf gegen die spanischen Faschisten und der Flucht vor den deutschen zu einem Bruch im Denken und Schreiben, der die dadaistischen Aktivitäten wie harmlose Sperenzchen aussehen lässt? Schließlich: Wie fern muss man einer Sprache sein, um ihr so wesentliche Impulse geben zu können, dass man mit Fug und Recht als einer ihrer originellsten Dichter gelten darf?
Gerade diese von Tzara zurückgelegte lyrische Wegstrecke könnte Hentea als des Rumänischen Kundiger doch mit lohnender Intensität verfolgen. Dazu brauchte es ein wenig interpretatorischen Ehrgeiz und erzählerischen Schwung. Aber mit demselben Gestus, mit dem Hentea sich mit einer redlichen Analyse absichtsvoll unredlicher Texte um deren eigentlichen Reiz bringt, begräbt er insgesamt die Konstellation eines aufregenden, widerspruchsreichen künstlerischen Lebens unter der Solidität faktischer Zusammenschau.
MARTIN MITTELMEIER.
Marius Hentea: "Tata Dada". Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer von Tristan Tzara.
Aus dem Englischen von H. Fricke und V. Oldenburg. Berlin University Press, Berlin 2016. 376 S., br., 38,- [Euro].
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