"Max springt Trampolin auf unserem Sofa und erreicht gleich den niederen Plafond und schreit: "Ich hab Glück! Ich hab Glück! Ich hab bis an die Decke Glück und keine hohe Mauer!" Er freut sich, daß er wieder hier ist. "Und weil ein bißchen Salz dran ist!" ruft er noch. Hab ihm gerade was von Mauern und Salz erzählt, aber er hat völlig recht. Ich weiß nicht, wo mir das Messer steckt. Mal im Zwerchfell und mal im Herzen. Die Luft ist weiß und das Haus schwankt."
Glück, Hoffnung, Verzweiflung, Liebe, Enttäuschung, Selbstaufgabe, Lebensmut: Wer zwischen den Zeilen lesen kann, liest in diesen Aufzeichnungen von Sarah Kirsch einen ergreifenden Lebensabschnitt, in dem sie, selbstverständlich nicht ganz unabhängig von den kulturellen Bedingungen in der DDR, an die Grenze ihres existentiellen Vermögens geriet und schließlich den "Rieselfeldern" doch entstieg, wie andere den Bleikammern. Es war wohl die dramatischste Zeit im Leben der Dichterin im Berlin der siebziger Jahre, und grausam sind auch die Begebenheiten im "Igor-Lied", das, übersetzt von der Autorin, in dieses poetische Dokument der Liebeswirren eingebettet ist.
Glück, Hoffnung, Verzweiflung, Liebe, Enttäuschung, Selbstaufgabe, Lebensmut: Wer zwischen den Zeilen lesen kann, liest in diesen Aufzeichnungen von Sarah Kirsch einen ergreifenden Lebensabschnitt, in dem sie, selbstverständlich nicht ganz unabhängig von den kulturellen Bedingungen in der DDR, an die Grenze ihres existentiellen Vermögens geriet und schließlich den "Rieselfeldern" doch entstieg, wie andere den Bleikammern. Es war wohl die dramatischste Zeit im Leben der Dichterin im Berlin der siebziger Jahre, und grausam sind auch die Begebenheiten im "Igor-Lied", das, übersetzt von der Autorin, in dieses poetische Dokument der Liebeswirren eingebettet ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2003Good morning, Lenin
Ypsilon und Julia: Sarah Kirschs Selbstporträt als junge Liebende
Damals, zu der Zeit, von der die Prosaminiaturen ihres neuen Buches handeln, war die Dichterin noch keine vierzig und lebte in einem Land, das sie in einem Gedicht "klein" und "wärmend" genannt hatte. Sie galt als eine Hoffnung der dortigen Literatur und hatte schon erfahren, wie man mit Hoffnungen umging. Eines ihrer Gedichte, das vom Kaffeemahlen handelte, wurde 1969 auf dem Ost-Berliner Schriftstellerkongreß als düster und pessimistisch kritisiert. Bloß weil der Vers den gemahlenen Kaffee rückwärts in "schöne schwarze Bohnen" zusammengesetzt hatte. Ein "Rückwärts" durfte es nicht einmal als Zauberei geben. So ernst nahm man in der DDR die Poesie, so ernst jede Abweichung von der offiziell verordneten Linie.
Von Abweichung hatte Sarah Kirsch ihre eigenen Vorstellungen. Sie schrieb mit dezidiertem Trotz: "Ich weiche ab und kann mich den Gesetzen / Die hierorts walten länger nicht ergeben." Wer das politisch las, mußte sich gefoppt fühlen. Das weibliche Rollen-Ich erklärte lediglich, warum es sein Lager fortan nicht mit einer Frau, sondern mit einem "Bärtigen" teilt: "Ich kann nicht wie die Schwestern wollen leben." Das Gedicht stand 1973 in der Sammlung "Zaubersprüche", die noch in der DDR erschien. Drei Jahre gab es im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung einen wahren Exodus von Autoren. Sarah Kirsch verließ - mit ihrem kleinen Sohn Moritz - im August 1977 die DDR. "Trennung", eines der letzten Gedichte, die sie noch in Ost-Berlin geschrieben hatte, zeugte von dem Leidensdruck, unter dem die Autorin gestanden haben mußte: "Wenn ich in einem Haus bin, das keine Tür hat / Geh ich aus dem Fenster."
Eben in dieser Zeit, in den mittleren siebziger Jahren, da Sarah Kirsch die Desillusionierung ihrer politischen Hoffnung erlebte, schrieb sie zugleich ihre schönsten Liebesgedichte. Manche davon frappieren noch heute durch ihr politisches Moment. "Herzschöner", fragt eines, "wollen wir Julia und Romeo sein?" Doch nicht die Feindschaft zweier Familien, sondern die zweier Staaten trennte die Liebenden. Die Rolle des Romeo war übrigens durchaus erkennbar besetzt. Auch er, dieser "Freundbruder aus Wolfsland", war ein Dichter; und er erscheint später - nach Kirschs Übersiedlung nach Berlin - als der "Dichter M. im Grunewald".
Es schadet nicht, wenn man bei der Lektüre von "Tatarenhochzeit" diese Umstände im Kopf hat. Sie sind in dem neuen Büchlein allenfalls angedeutet. Vor allem aber sind sie poetisiert, verwandelt, verhext. Was Sarah Kirsch warnend vor die Prosa-Chronik "Allerleih-Rauh" (1988) setzte, gilt auch hier: "Alles ist frei erfunden und jeder Name wurde verwechselt." Jetzt, in "Tatarenhochzeit", erscheint das Söhnchen Moritz als Max. Im "Dichter Franz vom Walde" dürfen wir Franz Fühmann erkennen und im Lyriker Ypsilon den schon erwähnten Dichter M. Andere Figuren erscheinen mit ihren Klarnamen, etwa Erich Arendt und Heiner Müller. Christa, deren Haus von einem Feuer verschont bleibt, ist für Sarah Kirsch noch nicht die stasiverstrickte Frau Lupus, sondern jene Christa Wolf, die später über einen Sommer der Gemeinsamkeit ihr "Sommerstück" schreiben wird. "Tatarenhochzeit" schildert in den kleinen Szenen aus dem Jahr 1974 eine Freundeskultur, wie sie nur unter den besonderen Gegebenheiten der DDR möglich war.
Der Basso continuo dieser Aufzeichnungen ist ein Mini-Roman. Ebenjener von Romeo und Julia zwischen zwei verfeindeten Staaten, zwischen der westlichen "Halftown" und Ost-Berlin. Die Erzählerin hat Ypsilon im Februar kennengelernt. Leider gibt es noch eine Lola und, wie sich zeigt, weitere Freundinnen. Sie muß nach Mahlow hinter Berlin in eine Fastenklinik und entläßt sich selbst, als Ypsilon für drei Tage aus Frankreich herüberkommt. Es wird viel telefoniert, und die Genossen von der Sicherheit hören mit. Die Reisepapiere für die geplante Frankreichreise machen Probleme. Leider auch Ypsilon mit seinen diversen Geliebten. Max kommt in die Schule, der Vater stirbt, und die Übersetzung des Igor-Lieds, an der sie die ganzen Monate gearbeitet hat, wird fertig. Der Schluß bleibt offen: Ypsilon wohnt bei einer anderen Geliebten, und schlechtgetarnte Spitzel teilen mit der Erzählerin den Fahrstuhl. Für die weiteren Ereignisse in Liebe, Leben und Politik ist die Wirklichkeit zuständig.
Diese ist nun gut drei Jahrzehnte weitergerückt, und wenn sie gestorben sind, leben die Figuren von einst in neuen Konstellationen. Was Sarah Kirsch in ihren Epiphanien aufleuchten läßt, ist eine merkwürdig besonnte Vergangenheit, von einigen jähen Wolkenschatten überflogen. Nichts von politischer Dokumentation, nichts von expliziter Depression. Nur an wenigen Stellen wetterleuchtet es. "Es fallen mir kaum noch Haare aus", heißt es einmal. Oder: "Die Wohnwabe ist grauenhaft im Sommer, grauenhaft im Winter". Die dunkle Grundierung der Idylle überläßt Sarah Kirsch dem eingeblendeten Igor-Lied, auf das auch der schön-schreckliche Titel ihres Büchleins verweist.
HARALD HARTUNG
Sarah Kirsch: "Tatarenhochzeit". Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2003. 73 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ypsilon und Julia: Sarah Kirschs Selbstporträt als junge Liebende
Damals, zu der Zeit, von der die Prosaminiaturen ihres neuen Buches handeln, war die Dichterin noch keine vierzig und lebte in einem Land, das sie in einem Gedicht "klein" und "wärmend" genannt hatte. Sie galt als eine Hoffnung der dortigen Literatur und hatte schon erfahren, wie man mit Hoffnungen umging. Eines ihrer Gedichte, das vom Kaffeemahlen handelte, wurde 1969 auf dem Ost-Berliner Schriftstellerkongreß als düster und pessimistisch kritisiert. Bloß weil der Vers den gemahlenen Kaffee rückwärts in "schöne schwarze Bohnen" zusammengesetzt hatte. Ein "Rückwärts" durfte es nicht einmal als Zauberei geben. So ernst nahm man in der DDR die Poesie, so ernst jede Abweichung von der offiziell verordneten Linie.
Von Abweichung hatte Sarah Kirsch ihre eigenen Vorstellungen. Sie schrieb mit dezidiertem Trotz: "Ich weiche ab und kann mich den Gesetzen / Die hierorts walten länger nicht ergeben." Wer das politisch las, mußte sich gefoppt fühlen. Das weibliche Rollen-Ich erklärte lediglich, warum es sein Lager fortan nicht mit einer Frau, sondern mit einem "Bärtigen" teilt: "Ich kann nicht wie die Schwestern wollen leben." Das Gedicht stand 1973 in der Sammlung "Zaubersprüche", die noch in der DDR erschien. Drei Jahre gab es im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung einen wahren Exodus von Autoren. Sarah Kirsch verließ - mit ihrem kleinen Sohn Moritz - im August 1977 die DDR. "Trennung", eines der letzten Gedichte, die sie noch in Ost-Berlin geschrieben hatte, zeugte von dem Leidensdruck, unter dem die Autorin gestanden haben mußte: "Wenn ich in einem Haus bin, das keine Tür hat / Geh ich aus dem Fenster."
Eben in dieser Zeit, in den mittleren siebziger Jahren, da Sarah Kirsch die Desillusionierung ihrer politischen Hoffnung erlebte, schrieb sie zugleich ihre schönsten Liebesgedichte. Manche davon frappieren noch heute durch ihr politisches Moment. "Herzschöner", fragt eines, "wollen wir Julia und Romeo sein?" Doch nicht die Feindschaft zweier Familien, sondern die zweier Staaten trennte die Liebenden. Die Rolle des Romeo war übrigens durchaus erkennbar besetzt. Auch er, dieser "Freundbruder aus Wolfsland", war ein Dichter; und er erscheint später - nach Kirschs Übersiedlung nach Berlin - als der "Dichter M. im Grunewald".
Es schadet nicht, wenn man bei der Lektüre von "Tatarenhochzeit" diese Umstände im Kopf hat. Sie sind in dem neuen Büchlein allenfalls angedeutet. Vor allem aber sind sie poetisiert, verwandelt, verhext. Was Sarah Kirsch warnend vor die Prosa-Chronik "Allerleih-Rauh" (1988) setzte, gilt auch hier: "Alles ist frei erfunden und jeder Name wurde verwechselt." Jetzt, in "Tatarenhochzeit", erscheint das Söhnchen Moritz als Max. Im "Dichter Franz vom Walde" dürfen wir Franz Fühmann erkennen und im Lyriker Ypsilon den schon erwähnten Dichter M. Andere Figuren erscheinen mit ihren Klarnamen, etwa Erich Arendt und Heiner Müller. Christa, deren Haus von einem Feuer verschont bleibt, ist für Sarah Kirsch noch nicht die stasiverstrickte Frau Lupus, sondern jene Christa Wolf, die später über einen Sommer der Gemeinsamkeit ihr "Sommerstück" schreiben wird. "Tatarenhochzeit" schildert in den kleinen Szenen aus dem Jahr 1974 eine Freundeskultur, wie sie nur unter den besonderen Gegebenheiten der DDR möglich war.
Der Basso continuo dieser Aufzeichnungen ist ein Mini-Roman. Ebenjener von Romeo und Julia zwischen zwei verfeindeten Staaten, zwischen der westlichen "Halftown" und Ost-Berlin. Die Erzählerin hat Ypsilon im Februar kennengelernt. Leider gibt es noch eine Lola und, wie sich zeigt, weitere Freundinnen. Sie muß nach Mahlow hinter Berlin in eine Fastenklinik und entläßt sich selbst, als Ypsilon für drei Tage aus Frankreich herüberkommt. Es wird viel telefoniert, und die Genossen von der Sicherheit hören mit. Die Reisepapiere für die geplante Frankreichreise machen Probleme. Leider auch Ypsilon mit seinen diversen Geliebten. Max kommt in die Schule, der Vater stirbt, und die Übersetzung des Igor-Lieds, an der sie die ganzen Monate gearbeitet hat, wird fertig. Der Schluß bleibt offen: Ypsilon wohnt bei einer anderen Geliebten, und schlechtgetarnte Spitzel teilen mit der Erzählerin den Fahrstuhl. Für die weiteren Ereignisse in Liebe, Leben und Politik ist die Wirklichkeit zuständig.
Diese ist nun gut drei Jahrzehnte weitergerückt, und wenn sie gestorben sind, leben die Figuren von einst in neuen Konstellationen. Was Sarah Kirsch in ihren Epiphanien aufleuchten läßt, ist eine merkwürdig besonnte Vergangenheit, von einigen jähen Wolkenschatten überflogen. Nichts von politischer Dokumentation, nichts von expliziter Depression. Nur an wenigen Stellen wetterleuchtet es. "Es fallen mir kaum noch Haare aus", heißt es einmal. Oder: "Die Wohnwabe ist grauenhaft im Sommer, grauenhaft im Winter". Die dunkle Grundierung der Idylle überläßt Sarah Kirsch dem eingeblendeten Igor-Lied, auf das auch der schön-schreckliche Titel ihres Büchleins verweist.
HARALD HARTUNG
Sarah Kirsch: "Tatarenhochzeit". Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2003. 73 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Samuel Moser ist hingerissen von Sarah Kirsch: von ihrer Nonkonformität, die sich auch in ihrer Prosa aufs Schönste ausdrücke. Moser gelingt es, seine Begeisterung zu präzisieren: Einmal ist ihm sympathisch, dass sich Kirsch ihre Probleme von niemandem diktieren lassen möchte. Sie ist störrisch und eigensinnig, aber ohne Verbitterung, schwärmt Moser. Während andere die DDR heute verklären oder ironisieren würden, nehme Kirsch ihr damaliges Leben ernst. Wenn auch nicht zu ernst. Da wird nicht abgerechnet, nicht gerechtfertigt, nicht aufgeklärt, sondern beschrieben. "Tatarenhochzeit" behandelt die siebziger Jahre, die Zeit, bevor Kirsch in den Westen ging. Kirschs Prosa verrät die lebenslange Schule der Lyrikerin, meint Moser, jedes Wort, jeder Satz behalte seinen poetischen Eigensinn, zugleich sei der Bau dieser Prosa locker, fast nervös, bezeuge den Bewegungsdrang der Autorin, die in diesen Tage "de passage" war, weshalb für Moser ihre Prosastücke "gerade in ihrer Zerstreutheit bei der Sache" sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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