Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2001Es gibt keine Seefahrer mehr
Traurigkeit hat den venezianischen Kaufmann Antonio befallen. Salerio und Solanio, seine Freunde, kommen dem Grund dieser Verstimmung auf die Spur: Sein Kapital hat Antonio einem Schiff anvertraut, dem unsicheren Element des Wassers. "Glaubt mir, mein Herr", gibt Solanio zu bedenken, "hätt ich ein solches Unternehmen draußen, der bessere Teil meines Gemüts wäre bei meinen Hoffnungen außer Landes." Was Antonio bewegt, ist eine neuzeitliche Sorge, die in die Ferne ausgreift. Peter Sloterdijk, der diese Szene aus Shakespeares "Kaufmann von Venedig" interpretiert, deutet das Gespräch der drei Freunde als "Kaufmannspsychologie oder Erste Psychoanalyse": "Sie versuchen sich einzufühlen in die Sorgen eines Mannes, der seine Güter auf Schiffen draußen hat: schwimmendes Kapital auf den Weltmeeren." Othello gewinnt Desdemona mit den Geschichten seiner Abenteuer in der Ferne, Prospero läßt sich von dem anmutigen Geist Ariel Tau von den Bermudas bringen. Ein paar Szenen aus den Dramen Shakespeares sind es, die Sloterdijk aufgreift: Knapper, treffender kann man über den europäischen Aufbruch, der vor einem halben Jahrtausend begann, nicht sprechen. Die Antike liebte die Nähe und die Gestalt. Ihre Mittelmeer-Seefahrer entfernten sich nie sehr weit von den Küsten, ihr letztes Wort war die Verwandlung der aus dem gleichen Welt-Stoff gebildeten Gestalten in den "Metamorphosen" von Ovid. Die Neuzeit entdeckt die offenen Meere, die Ferne und die Funktion: So lautet die einfache geschichtsphilosophische Formel, die schon Oswald Spengler seiner großen Erzählung zugrunde legte. Wer nach Vergleichbarem sucht, in der gedanklichen Konzentration wie in der literarischen Eleganz, wird zu Carl Schmitts "Land und Meer" greifen müssen. Aber niemand versteht es gegenwärtig so wie Sloterdijk, die Geschichte dieser Raumrevolutionen wieder lesbar zu machen: Eine anregendere Phantasie- und Literaturgeschichte der Globalisierung dürfte nicht leicht zu finden sein ("Tau von den Bermudas". Über einige Regime der Einbildungskraft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 54 S., br., 10,- DM). Der Kern von Sloterdijks "Sphären"-Projekt ist hier in einer knappen Zusammenfassung erkennbar. Man muß, bei aller Nähe zu den geophilosophischen Vorläufern, auf die neuen Akzente achten, die Sloterdijk setzt. Carl Schmitt und Spengler schrieben ihre Raum-Philosophien unter den Bedingungen von Kriegen, in denen sich das kontinentale Mitteleuropa gegen die atlantische Welt behaupten wollte - so jedenfalls stellt es sich aus dem Abstand dar, den Sloterdijks Buch einnimmt, nach der Zäsur des Millenniums. In den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts erkennt er einen einzigen gescheiterten Versuch, dem "Sog des Atlantiks" das "alteuropäische Begehren" entgegenzusetzen. "Die neunationalistischen Regionalimperialismen im Europa der letzten Jahrhunderte sollten das transatlantische Ausschweifen hemmen. Es war ihre Mission, die tele-erotischen Energien der Europäer an die heimischen Territorien zu binden - auch hier sind Klassiker! Und doch, nach zweihundert Jahren blutiger Experimente mit der antiatlantischen Wut in kontinentalen Vaterländern wissen wir, wie sehr der Widerstand gegen den Sog der anderen Küste für uns von Unheil war." Das ist die geopolitische Staatsräson der deutschen Gegenwart. Ob ihre Botschaft auch von jenen Völkern gehört werden wird, die in ganz anderer Weise als die Menschen des ausgefransten Kap Europa Landmassenbewohner sind - Russen und Chinesen -, bleibt eine der großen Fragen der nächsten Jahrzehnte. Aber was geschieht, wenn die Aufbruchsenergien verzehrt sind? Im "Endspiel" von Beckett schaut Clov auf ein Meer, das keine Botschaft mehr bringt. Hamm zieht die Konsequenz: "Es gibt keine Seefahrer mehr." Die Welt ist erreichbar geworden, die Romantik der Reise zum "Traumschiff" trivialisiert. Etwas Neues kommt auf: die Fläche des Bildschirms, auf der die Welt-Sprach-Partikel herumstöbern und um Anteile an der Aufmerksamkeit buhlen. Neue Kombinationen dieser Partikel zu finden sei, so glaubt Sloterdijk, die letzte verbliebene Aufgabe der Kunst.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Traurigkeit hat den venezianischen Kaufmann Antonio befallen. Salerio und Solanio, seine Freunde, kommen dem Grund dieser Verstimmung auf die Spur: Sein Kapital hat Antonio einem Schiff anvertraut, dem unsicheren Element des Wassers. "Glaubt mir, mein Herr", gibt Solanio zu bedenken, "hätt ich ein solches Unternehmen draußen, der bessere Teil meines Gemüts wäre bei meinen Hoffnungen außer Landes." Was Antonio bewegt, ist eine neuzeitliche Sorge, die in die Ferne ausgreift. Peter Sloterdijk, der diese Szene aus Shakespeares "Kaufmann von Venedig" interpretiert, deutet das Gespräch der drei Freunde als "Kaufmannspsychologie oder Erste Psychoanalyse": "Sie versuchen sich einzufühlen in die Sorgen eines Mannes, der seine Güter auf Schiffen draußen hat: schwimmendes Kapital auf den Weltmeeren." Othello gewinnt Desdemona mit den Geschichten seiner Abenteuer in der Ferne, Prospero läßt sich von dem anmutigen Geist Ariel Tau von den Bermudas bringen. Ein paar Szenen aus den Dramen Shakespeares sind es, die Sloterdijk aufgreift: Knapper, treffender kann man über den europäischen Aufbruch, der vor einem halben Jahrtausend begann, nicht sprechen. Die Antike liebte die Nähe und die Gestalt. Ihre Mittelmeer-Seefahrer entfernten sich nie sehr weit von den Küsten, ihr letztes Wort war die Verwandlung der aus dem gleichen Welt-Stoff gebildeten Gestalten in den "Metamorphosen" von Ovid. Die Neuzeit entdeckt die offenen Meere, die Ferne und die Funktion: So lautet die einfache geschichtsphilosophische Formel, die schon Oswald Spengler seiner großen Erzählung zugrunde legte. Wer nach Vergleichbarem sucht, in der gedanklichen Konzentration wie in der literarischen Eleganz, wird zu Carl Schmitts "Land und Meer" greifen müssen. Aber niemand versteht es gegenwärtig so wie Sloterdijk, die Geschichte dieser Raumrevolutionen wieder lesbar zu machen: Eine anregendere Phantasie- und Literaturgeschichte der Globalisierung dürfte nicht leicht zu finden sein ("Tau von den Bermudas". Über einige Regime der Einbildungskraft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 54 S., br., 10,- DM). Der Kern von Sloterdijks "Sphären"-Projekt ist hier in einer knappen Zusammenfassung erkennbar. Man muß, bei aller Nähe zu den geophilosophischen Vorläufern, auf die neuen Akzente achten, die Sloterdijk setzt. Carl Schmitt und Spengler schrieben ihre Raum-Philosophien unter den Bedingungen von Kriegen, in denen sich das kontinentale Mitteleuropa gegen die atlantische Welt behaupten wollte - so jedenfalls stellt es sich aus dem Abstand dar, den Sloterdijks Buch einnimmt, nach der Zäsur des Millenniums. In den Kriegen des vergangenen Jahrhunderts erkennt er einen einzigen gescheiterten Versuch, dem "Sog des Atlantiks" das "alteuropäische Begehren" entgegenzusetzen. "Die neunationalistischen Regionalimperialismen im Europa der letzten Jahrhunderte sollten das transatlantische Ausschweifen hemmen. Es war ihre Mission, die tele-erotischen Energien der Europäer an die heimischen Territorien zu binden - auch hier sind Klassiker! Und doch, nach zweihundert Jahren blutiger Experimente mit der antiatlantischen Wut in kontinentalen Vaterländern wissen wir, wie sehr der Widerstand gegen den Sog der anderen Küste für uns von Unheil war." Das ist die geopolitische Staatsräson der deutschen Gegenwart. Ob ihre Botschaft auch von jenen Völkern gehört werden wird, die in ganz anderer Weise als die Menschen des ausgefransten Kap Europa Landmassenbewohner sind - Russen und Chinesen -, bleibt eine der großen Fragen der nächsten Jahrzehnte. Aber was geschieht, wenn die Aufbruchsenergien verzehrt sind? Im "Endspiel" von Beckett schaut Clov auf ein Meer, das keine Botschaft mehr bringt. Hamm zieht die Konsequenz: "Es gibt keine Seefahrer mehr." Die Welt ist erreichbar geworden, die Romantik der Reise zum "Traumschiff" trivialisiert. Etwas Neues kommt auf: die Fläche des Bildschirms, auf der die Welt-Sprach-Partikel herumstöbern und um Anteile an der Aufmerksamkeit buhlen. Neue Kombinationen dieser Partikel zu finden sei, so glaubt Sloterdijk, die letzte verbliebene Aufgabe der Kunst.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Lorenz Jäger hatte das erkennbar große Vergnügen, die anregendste "Phantasie- und Literaturgeschichte der Globalisierung" zu rezensieren, die Peter Sloterdijk zur Eröffnung der Salzburger Festspiele erzählt hat. Sloterdijk greift Szenen aus Dramen Shakespeares auf, wie die des Ariel, der Prospero Tau von den Bermudas bringt, und Jäger findet, dass man knapper und treffender über den europäischen Aufbruch, die neuzeitliche Revolution des Raumes nicht sprechen könne. Vergleichbar in der "gedanklichen Konzentration und literarischen Eleganz" ist nach Jäger nur Carl Schmitts "Land und Meer", doch Sloterdijk sei gegenwärtiger und setze, bei aller Nähe zu seinen geophilosophischen Vorgängern, neue Akzente. Sloterdijk deutet mit historischem Abstand, nach der Zäsur des Millenniums, die Kriege des vergangenen Jahrhunderts als einen "einzigen Versuch, dem Sog des Atlantiks das alteuropäische Begehren entgegenzusetzen", schreibt Jäger und fragt mit dem Autor, inwieweit die Erkenntnis über das damit verbundene Unheil auch andere Völker - "Landmassenbewohner" wie Russen oder Chinesen - erreicht. Der Erkenntnis in Becketts "Endspiel", dass es keine Seefahrer mehr gebe, liege die gefährliche Ernüchterung zu Grunde, dass die Aufbruchsenergien verbraucht, die Welt erreichbar geworden und alle Romantik des Reisens "zum Traumschiff trivialisiert" sei, schreibt der Rezensent. Doch auch Jäger verspürt Hoffnung, wenn Sloterdijk das Neue findet. Dies sei die Fläche des Bildschirms, auf der "Welt-Sprach-Partikel herumstöbern", erklärt Jäger und schließt mit Sloterdijks Auffassung, die "letzte verbliebene Aufgabe der Kunst" sei es, die neuen Kombinationen dieser Partikel zu finden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH