Ausgezeichnet mit dem LYRIKPREIS MERAN
Wie erkennt man die wunden Punkte im Leben? »Taupunkt« führt fort und beschließt, was mit Kerstin Preiwuß' Gedichtband »Rede« begann und in »Gespür für Licht« seinen Lauf nahm: Für die Dauer einer Nacht setzt der Tonstrom ein. Unerschrocken dringt er durch die Schichten des Ichs. Dort setzt das Dichten an und sucht Zusammenhang. So weist »Taupunkt« immer in zwei Richtungen, bezeichnet den Schwellenwert, an dem Zustände sich trennen, und führt Fühlen und Wissen zusammen, ist Messkategorie und Metapher. Es ist Kunst, das Hin und Her des Lebens als Einheit zu begreifen und für dessen Widersprüchlichkeit offen zu sein.
»Ein lyrisches Sprechen, das von individueller Erfahrungstiefe gesattigt erscheint und sie doch diskret umschlagen lasst in etwas, das alle Leser anspricht.« Beate Tröger, Literaturblatt.de
Wie erkennt man die wunden Punkte im Leben? »Taupunkt« führt fort und beschließt, was mit Kerstin Preiwuß' Gedichtband »Rede« begann und in »Gespür für Licht« seinen Lauf nahm: Für die Dauer einer Nacht setzt der Tonstrom ein. Unerschrocken dringt er durch die Schichten des Ichs. Dort setzt das Dichten an und sucht Zusammenhang. So weist »Taupunkt« immer in zwei Richtungen, bezeichnet den Schwellenwert, an dem Zustände sich trennen, und führt Fühlen und Wissen zusammen, ist Messkategorie und Metapher. Es ist Kunst, das Hin und Her des Lebens als Einheit zu begreifen und für dessen Widersprüchlichkeit offen zu sein.
»Ein lyrisches Sprechen, das von individueller Erfahrungstiefe gesattigt erscheint und sie doch diskret umschlagen lasst in etwas, das alle Leser anspricht.« Beate Tröger, Literaturblatt.de
Wenn nur das
Denken sich legt
Kerstin Preiwuß’ Gedichte und der
„Taupunkt“ der Sprache
Der Taupunkt bezeichnet die Temperatur, bei der ein Gasgemisch wie Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist. Sinkt die Temperatur unter den Taupunkt, wird Luftfeuchtigkeit als von Nebel oder Tau ausgeschieden. Mit der Temperatur steigt auch der Taupunkt. Weil heiße Luft mehr Wasserdampf absorbieren kann, lässt sich mit dem Taupunkt die absolute Luftfeuchtigkeit bestimmen. Der Taupunkt ist also der Gleichgewichtszustand zwischen Kondensieren und Verdunsten, ein physikalischer Balanceakt. Bei der Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die ihrem vierten Gedichtband den Titel „Taupunkt“ gegeben hat, wird daraus ein poetisches Prinzip. Das hört sich so an: „Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht.“ Dieses kleine Gedicht steht exakt im Zentrum des schmalen Buches wie die waagrechte Achse einer Balkenwaage oder wie die Zäsur in der Mitte einer langen, schlaflosen Nacht. Der Band ist symmetrisch aufgebaut. Auf einen kurzen Prolog folgt der durch das Titelgedicht in zwei Teile gegliederte Hauptteil, der mit der Zeitangabe 22 Uhr 58 und 12 Sekunden und dem Vermerk „Gleich Nacht“ beginnt. Die Gedichte sind demnach als fortlaufender nächtlicher Monolog zu lesen. Sie umkreisen das Zentrum der Zeit oder den Sättigungsgrad der Reflexion.
Denken, Erinnern und leibliche Gegenwärtigkeit fallen in diesem lyrischen Prozess zusammen, bis die Zeitangabe 09 Uhr 43 und 43 Sekunden, „Gleich Tag“, und damit ein letztes Gedicht die Nacht beschließt. Es endet mit den Versen: „Ich versuche Gedanken in die ich mich legen kann/ wie die Sonne spielend in das Wasser scheint / nach der das Wasser unzerbrochen bleibt. // Wie leise sie wirkt, dass ihr Leib es nicht weiß. / Sie begreift das meist und behält wenig bei.“
Grammatikalisch bezieht sich das leise wirkende und wenig behaltende „Sie“ auf die Sonne, mit der der Tag beginnt. Es könnte aber auch sein, dass das lyrische Ich sich damit selbst anspricht oder sich in der Sonne spiegelt. Der Balancezustand, zu dem dieses Ich findet, ist zwischen Nichtwissen, Begreifen und Vergessen austariert. Das nächtliche Nachdenken, das sich in diesen zu Zyklen angeordneten, ineinander übergehenden Gedichten ereignet, ist eben kein bewusster Akt der Reflexion, sondern ein Zum-Vorschein-Bringen, das sich im Sprechen vollzieht – und so beginnt der Band auch mit den Zeilen: „Das ist worüber niemand spricht nur weiß / wie’s Gräben schlägt in sich um alles.“
Zwischen den Gedichten, die sich wie Moleküle zu längeren Ketten verbinden, markieren Sternchen sowohl Trennung als auch Verbindung. Vom Gestus her handelt es sich bei diesen Versen um Anreden, die sich zunächst an „Apnoe“, die Schlaflosigkeit richten, später dann an „Meine Liebe“ oder an die „Tödin“. Doch all das sind Nachtgestalten, die dem sprechenden Ich zugehören. Das Ich und seine Gegenüber, Innenwelt und Außenwelt, Poesie und Physis, Stofflichkeit und Transzendenz, Leben und Tod sind Übergangsphänomene, die, wenn überhaupt, im Dazwischen, im „Taupunkt“ eben, aufzuspüren wären. So heißt es programmatisch: „Leben heißt liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht.“
Ein besonderer Reiz der Dichtung von Kerstin Preiwuß ergibt sich aus dem Nebeneinander von technischer und emotionaler Sprachebene, wenn sie sich etwa in die „Zellulose der Kindheit“ hüllt, den „Schmerz“ als „Aggregatzustand“ begreift oder behauptet: „immer nur am Leben sein / ergibt doch keinen Sinn nicht mal ne Fließgeschwindigkeit“. Auch die Biologie ist nicht fern, wenn Positionen „abgelaicht“ werden oder „wir“ uns festsetzen „wie Algen an Steinen als Pionierpflanzen“. Das Sprechen, das sich hier ereignet, ist nicht zuletzt ein körperlicher, akustischer Vorgang. Auch wenn das sprechende Ich den „eigenen Ton nicht mehr hören“ kann, trägt es „ihn überall hin“. Sprache ist Leiblichkeit. Sie entsteht aus sich selbst. Wer spricht, hat die Sprache nur geborgt. Das ist dieser Nachtstimme jederzeit bewusst.
Die in zahlreichen Versen zu findende zentrale Metapher ist das Schilf, das als Schraffur zwischen Wasserfläche und festem Land im Übergangsbereich siedelt, wo aus „„Barrieren aus abgestorbenen Zellen“ neues Leben wächst. Auch das Schilf gehört zu den Adressaten der Gedichte, die direkt angesprochen werden: „Rede, Schilf, rede!“. Schilf nickt, schwankt, flüstert, wartet, ist nie einzeln, sondern viele. Es steht für das Brüchige, Hohle, Undurchsichtige, aber auch für Atmung, Schutz und Lebensraum für Tiere aller Art. So lässt sich auch einer der kleinen Reime, die gelegentlich aufblitzen, als wären es bloße Zufallsereignisse, durchaus auf das Schilf beziehen. Der Zweizeiler beschreibt exakt, was sich in dieser Lyrik ereignet: „Wieviel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt“. Genau da aber, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, liegt auch der Taupunkt der Sprache, in der die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind. Von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.
JÖRG MAGENAU
Kerstin Preiwuß: Taupunkt. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2020, 106 Seiten, 22 Euro.
„Leben heißt Liegen auf einem
blinden Fleck / von dem
aus man alles ganz deutlich sieht.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Denken sich legt
Kerstin Preiwuß’ Gedichte und der
„Taupunkt“ der Sprache
Der Taupunkt bezeichnet die Temperatur, bei der ein Gasgemisch wie Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist. Sinkt die Temperatur unter den Taupunkt, wird Luftfeuchtigkeit als von Nebel oder Tau ausgeschieden. Mit der Temperatur steigt auch der Taupunkt. Weil heiße Luft mehr Wasserdampf absorbieren kann, lässt sich mit dem Taupunkt die absolute Luftfeuchtigkeit bestimmen. Der Taupunkt ist also der Gleichgewichtszustand zwischen Kondensieren und Verdunsten, ein physikalischer Balanceakt. Bei der Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die ihrem vierten Gedichtband den Titel „Taupunkt“ gegeben hat, wird daraus ein poetisches Prinzip. Das hört sich so an: „Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht.“ Dieses kleine Gedicht steht exakt im Zentrum des schmalen Buches wie die waagrechte Achse einer Balkenwaage oder wie die Zäsur in der Mitte einer langen, schlaflosen Nacht. Der Band ist symmetrisch aufgebaut. Auf einen kurzen Prolog folgt der durch das Titelgedicht in zwei Teile gegliederte Hauptteil, der mit der Zeitangabe 22 Uhr 58 und 12 Sekunden und dem Vermerk „Gleich Nacht“ beginnt. Die Gedichte sind demnach als fortlaufender nächtlicher Monolog zu lesen. Sie umkreisen das Zentrum der Zeit oder den Sättigungsgrad der Reflexion.
Denken, Erinnern und leibliche Gegenwärtigkeit fallen in diesem lyrischen Prozess zusammen, bis die Zeitangabe 09 Uhr 43 und 43 Sekunden, „Gleich Tag“, und damit ein letztes Gedicht die Nacht beschließt. Es endet mit den Versen: „Ich versuche Gedanken in die ich mich legen kann/ wie die Sonne spielend in das Wasser scheint / nach der das Wasser unzerbrochen bleibt. // Wie leise sie wirkt, dass ihr Leib es nicht weiß. / Sie begreift das meist und behält wenig bei.“
Grammatikalisch bezieht sich das leise wirkende und wenig behaltende „Sie“ auf die Sonne, mit der der Tag beginnt. Es könnte aber auch sein, dass das lyrische Ich sich damit selbst anspricht oder sich in der Sonne spiegelt. Der Balancezustand, zu dem dieses Ich findet, ist zwischen Nichtwissen, Begreifen und Vergessen austariert. Das nächtliche Nachdenken, das sich in diesen zu Zyklen angeordneten, ineinander übergehenden Gedichten ereignet, ist eben kein bewusster Akt der Reflexion, sondern ein Zum-Vorschein-Bringen, das sich im Sprechen vollzieht – und so beginnt der Band auch mit den Zeilen: „Das ist worüber niemand spricht nur weiß / wie’s Gräben schlägt in sich um alles.“
Zwischen den Gedichten, die sich wie Moleküle zu längeren Ketten verbinden, markieren Sternchen sowohl Trennung als auch Verbindung. Vom Gestus her handelt es sich bei diesen Versen um Anreden, die sich zunächst an „Apnoe“, die Schlaflosigkeit richten, später dann an „Meine Liebe“ oder an die „Tödin“. Doch all das sind Nachtgestalten, die dem sprechenden Ich zugehören. Das Ich und seine Gegenüber, Innenwelt und Außenwelt, Poesie und Physis, Stofflichkeit und Transzendenz, Leben und Tod sind Übergangsphänomene, die, wenn überhaupt, im Dazwischen, im „Taupunkt“ eben, aufzuspüren wären. So heißt es programmatisch: „Leben heißt liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht.“
Ein besonderer Reiz der Dichtung von Kerstin Preiwuß ergibt sich aus dem Nebeneinander von technischer und emotionaler Sprachebene, wenn sie sich etwa in die „Zellulose der Kindheit“ hüllt, den „Schmerz“ als „Aggregatzustand“ begreift oder behauptet: „immer nur am Leben sein / ergibt doch keinen Sinn nicht mal ne Fließgeschwindigkeit“. Auch die Biologie ist nicht fern, wenn Positionen „abgelaicht“ werden oder „wir“ uns festsetzen „wie Algen an Steinen als Pionierpflanzen“. Das Sprechen, das sich hier ereignet, ist nicht zuletzt ein körperlicher, akustischer Vorgang. Auch wenn das sprechende Ich den „eigenen Ton nicht mehr hören“ kann, trägt es „ihn überall hin“. Sprache ist Leiblichkeit. Sie entsteht aus sich selbst. Wer spricht, hat die Sprache nur geborgt. Das ist dieser Nachtstimme jederzeit bewusst.
Die in zahlreichen Versen zu findende zentrale Metapher ist das Schilf, das als Schraffur zwischen Wasserfläche und festem Land im Übergangsbereich siedelt, wo aus „„Barrieren aus abgestorbenen Zellen“ neues Leben wächst. Auch das Schilf gehört zu den Adressaten der Gedichte, die direkt angesprochen werden: „Rede, Schilf, rede!“. Schilf nickt, schwankt, flüstert, wartet, ist nie einzeln, sondern viele. Es steht für das Brüchige, Hohle, Undurchsichtige, aber auch für Atmung, Schutz und Lebensraum für Tiere aller Art. So lässt sich auch einer der kleinen Reime, die gelegentlich aufblitzen, als wären es bloße Zufallsereignisse, durchaus auf das Schilf beziehen. Der Zweizeiler beschreibt exakt, was sich in dieser Lyrik ereignet: „Wieviel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt“. Genau da aber, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, liegt auch der Taupunkt der Sprache, in der die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind. Von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.
JÖRG MAGENAU
Kerstin Preiwuß: Taupunkt. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2020, 106 Seiten, 22 Euro.
„Leben heißt Liegen auf einem
blinden Fleck / von dem
aus man alles ganz deutlich sieht.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2020Geschichte einer Nacht
Der Lyrikband "Taupunkt" von Kerstin Preiwuß
"Taupunkt", das vierte Gedichtbuch der Leipziger Autorin Kerstin Preiwuß, überrascht durch den Verzicht auf einige Üblichkeiten der lyrischen Praxis: Es spart sich die Gattungsbezeichnung "Gedichte", die Überschriften über den einzelnen Texten und - merkwürdig genug - das Inhaltsverzeichnis des Bandes. Aber natürlich gibt es kein Buch ohne einen Haupttitel. Er ist schön und zugleich rätselhaft, gut für Liebhaber von Lyrik - eben "Taupunkt".
Er klingt wie eine poetische Metapher, ist aber ein physikalischer Begriff, nämlich die Temperatur, bei der in einem Gas-Dampf-Gemisch das Gas mit dem Dampf gerade gesättigt ist. Das Titelgedicht findet sich - mittig abgesetzt - genau im Zentrum des Buches und geht so: "Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht." Schön, aber kaum verständlich.
Kein Zweifel aber, dass es hier nicht um Physik geht, sondern um eine quasi-physikalische Analogie. Zwei Datumsangaben ("22:58:12 / Gleich Nacht", "09:49: 43 / Gleich Tag") rahmen eine Nacht ein, in der das lyrische Ich das Hin und Her des Lebens in Minizyklen von Beobachtungen und Reflexionen zu fassen sucht. Und wenn man schon das physikalische Gas-Dampf-Gemisch bemüht, dann darf man auch die lyrische Textmasse als einen dampf- und gasartigen Sprachzustand betrachten. Und folglich die formalen Reduktionen und Manipulationen als Versuche der Autorin, das Ganze überhaupt in eine Folge und ein System zu bringen.
Den Anfang dieser Geschichte einer Nacht bestimmt die Frage, ob und wie überhaupt zu sprechen ist. Eine Apnoe, ein Atemstillstand, eine Atemlähmung ist zu Anfang das Problem: "Apnoe verrat mir nur / wie geht Steine verrücken?" Dann kommt die Tödin ins Spiel, und das lyrische Ich erhofft sich Schutz und Hilfe in der Anrufung der Liebe, es präzisiert seinen Zustand in einem gereimten Zweizeiler: "Wie viel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt."
Aber das Denken "legt" sich nicht, jedenfalls nicht auf der in "Taupunkt" ausgemessenen Strecke dieser Nacht und ihrer wechselnden Reflexionen: "Ich kann mir nichts suchen / kann weder fliehen noch weichen / bin an den Organismus gebunden / muss in der Sesshaft bleiben." Dem Neologismus "Sesshaft" vertraut Preiwuß das Kerkerhafte der Existenz an. Doch noch am Schluss, als sie "Gleich Tag" notiert, setzt die Autorin aufs Denken: "Ich versuche Gedanken, in die ich mich legen kann." Je länger man das Mäandern der Gedanken und Eindrücke verfolgt, je weiter dieser Zyklus einer unruhigen Nacht fortschreitet, umso deutlicher wird, dass Kerstin Preiwuß ihr Konstrukt von Sparsamkeit und Dunkelheit errichtet, um Momente der Klarheit hervorzubringen.
HARALD HARTUNG
Kerstin Preiwuß: "Taupunkt".
Berlin Verlag, Berlin 2020. 112 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Lyrikband "Taupunkt" von Kerstin Preiwuß
"Taupunkt", das vierte Gedichtbuch der Leipziger Autorin Kerstin Preiwuß, überrascht durch den Verzicht auf einige Üblichkeiten der lyrischen Praxis: Es spart sich die Gattungsbezeichnung "Gedichte", die Überschriften über den einzelnen Texten und - merkwürdig genug - das Inhaltsverzeichnis des Bandes. Aber natürlich gibt es kein Buch ohne einen Haupttitel. Er ist schön und zugleich rätselhaft, gut für Liebhaber von Lyrik - eben "Taupunkt".
Er klingt wie eine poetische Metapher, ist aber ein physikalischer Begriff, nämlich die Temperatur, bei der in einem Gas-Dampf-Gemisch das Gas mit dem Dampf gerade gesättigt ist. Das Titelgedicht findet sich - mittig abgesetzt - genau im Zentrum des Buches und geht so: "Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht." Schön, aber kaum verständlich.
Kein Zweifel aber, dass es hier nicht um Physik geht, sondern um eine quasi-physikalische Analogie. Zwei Datumsangaben ("22:58:12 / Gleich Nacht", "09:49: 43 / Gleich Tag") rahmen eine Nacht ein, in der das lyrische Ich das Hin und Her des Lebens in Minizyklen von Beobachtungen und Reflexionen zu fassen sucht. Und wenn man schon das physikalische Gas-Dampf-Gemisch bemüht, dann darf man auch die lyrische Textmasse als einen dampf- und gasartigen Sprachzustand betrachten. Und folglich die formalen Reduktionen und Manipulationen als Versuche der Autorin, das Ganze überhaupt in eine Folge und ein System zu bringen.
Den Anfang dieser Geschichte einer Nacht bestimmt die Frage, ob und wie überhaupt zu sprechen ist. Eine Apnoe, ein Atemstillstand, eine Atemlähmung ist zu Anfang das Problem: "Apnoe verrat mir nur / wie geht Steine verrücken?" Dann kommt die Tödin ins Spiel, und das lyrische Ich erhofft sich Schutz und Hilfe in der Anrufung der Liebe, es präzisiert seinen Zustand in einem gereimten Zweizeiler: "Wie viel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt."
Aber das Denken "legt" sich nicht, jedenfalls nicht auf der in "Taupunkt" ausgemessenen Strecke dieser Nacht und ihrer wechselnden Reflexionen: "Ich kann mir nichts suchen / kann weder fliehen noch weichen / bin an den Organismus gebunden / muss in der Sesshaft bleiben." Dem Neologismus "Sesshaft" vertraut Preiwuß das Kerkerhafte der Existenz an. Doch noch am Schluss, als sie "Gleich Tag" notiert, setzt die Autorin aufs Denken: "Ich versuche Gedanken, in die ich mich legen kann." Je länger man das Mäandern der Gedanken und Eindrücke verfolgt, je weiter dieser Zyklus einer unruhigen Nacht fortschreitet, umso deutlicher wird, dass Kerstin Preiwuß ihr Konstrukt von Sparsamkeit und Dunkelheit errichtet, um Momente der Klarheit hervorzubringen.
HARALD HARTUNG
Kerstin Preiwuß: "Taupunkt".
Berlin Verlag, Berlin 2020. 112 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2020Wenn nur das
Denken sich legt
Kerstin Preiwuß’ Gedichte und der
„Taupunkt“ der Sprache
Der Taupunkt bezeichnet die Temperatur, bei der ein Gasgemisch wie Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist. Sinkt die Temperatur unter den Taupunkt, wird Luftfeuchtigkeit als von Nebel oder Tau ausgeschieden. Mit der Temperatur steigt auch der Taupunkt. Weil heiße Luft mehr Wasserdampf absorbieren kann, lässt sich mit dem Taupunkt die absolute Luftfeuchtigkeit bestimmen. Der Taupunkt ist also der Gleichgewichtszustand zwischen Kondensieren und Verdunsten, ein physikalischer Balanceakt. Bei der Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die ihrem vierten Gedichtband den Titel „Taupunkt“ gegeben hat, wird daraus ein poetisches Prinzip. Das hört sich so an: „Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht.“ Dieses kleine Gedicht steht exakt im Zentrum des schmalen Buches wie die waagrechte Achse einer Balkenwaage oder wie die Zäsur in der Mitte einer langen, schlaflosen Nacht. Der Band ist symmetrisch aufgebaut. Auf einen kurzen Prolog folgt der durch das Titelgedicht in zwei Teile gegliederte Hauptteil, der mit der Zeitangabe 22 Uhr 58 und 12 Sekunden und dem Vermerk „Gleich Nacht“ beginnt. Die Gedichte sind demnach als fortlaufender nächtlicher Monolog zu lesen. Sie umkreisen das Zentrum der Zeit oder den Sättigungsgrad der Reflexion.
Denken, Erinnern und leibliche Gegenwärtigkeit fallen in diesem lyrischen Prozess zusammen, bis die Zeitangabe 09 Uhr 43 und 43 Sekunden, „Gleich Tag“, und damit ein letztes Gedicht die Nacht beschließt. Es endet mit den Versen: „Ich versuche Gedanken in die ich mich legen kann/ wie die Sonne spielend in das Wasser scheint / nach der das Wasser unzerbrochen bleibt. // Wie leise sie wirkt, dass ihr Leib es nicht weiß. / Sie begreift das meist und behält wenig bei.“
Grammatikalisch bezieht sich das leise wirkende und wenig behaltende „Sie“ auf die Sonne, mit der der Tag beginnt. Es könnte aber auch sein, dass das lyrische Ich sich damit selbst anspricht oder sich in der Sonne spiegelt. Der Balancezustand, zu dem dieses Ich findet, ist zwischen Nichtwissen, Begreifen und Vergessen austariert. Das nächtliche Nachdenken, das sich in diesen zu Zyklen angeordneten, ineinander übergehenden Gedichten ereignet, ist eben kein bewusster Akt der Reflexion, sondern ein Zum-Vorschein-Bringen, das sich im Sprechen vollzieht – und so beginnt der Band auch mit den Zeilen: „Das ist worüber niemand spricht nur weiß / wie’s Gräben schlägt in sich um alles.“
Zwischen den Gedichten, die sich wie Moleküle zu längeren Ketten verbinden, markieren Sternchen sowohl Trennung als auch Verbindung. Vom Gestus her handelt es sich bei diesen Versen um Anreden, die sich zunächst an „Apnoe“, die Schlaflosigkeit richten, später dann an „Meine Liebe“ oder an die „Tödin“. Doch all das sind Nachtgestalten, die dem sprechenden Ich zugehören. Das Ich und seine Gegenüber, Innenwelt und Außenwelt, Poesie und Physis, Stofflichkeit und Transzendenz, Leben und Tod sind Übergangsphänomene, die, wenn überhaupt, im Dazwischen, im „Taupunkt“ eben, aufzuspüren wären. So heißt es programmatisch: „Leben heißt liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht.“
Ein besonderer Reiz der Dichtung von Kerstin Preiwuß ergibt sich aus dem Nebeneinander von technischer und emotionaler Sprachebene, wenn sie sich etwa in die „Zellulose der Kindheit“ hüllt, den „Schmerz“ als „Aggregatzustand“ begreift oder behauptet: „immer nur am Leben sein / ergibt doch keinen Sinn nicht mal ne Fließgeschwindigkeit“. Auch die Biologie ist nicht fern, wenn Positionen „abgelaicht“ werden oder „wir“ uns festsetzen „wie Algen an Steinen als Pionierpflanzen“. Das Sprechen, das sich hier ereignet, ist nicht zuletzt ein körperlicher, akustischer Vorgang. Auch wenn das sprechende Ich den „eigenen Ton nicht mehr hören“ kann, trägt es „ihn überall hin“. Sprache ist Leiblichkeit. Sie entsteht aus sich selbst. Wer spricht, hat die Sprache nur geborgt. Das ist dieser Nachtstimme jederzeit bewusst.
Die in zahlreichen Versen zu findende zentrale Metapher ist das Schilf, das als Schraffur zwischen Wasserfläche und festem Land im Übergangsbereich siedelt, wo aus „„Barrieren aus abgestorbenen Zellen“ neues Leben wächst. Auch das Schilf gehört zu den Adressaten der Gedichte, die direkt angesprochen werden: „Rede, Schilf, rede!“. Schilf nickt, schwankt, flüstert, wartet, ist nie einzeln, sondern viele. Es steht für das Brüchige, Hohle, Undurchsichtige, aber auch für Atmung, Schutz und Lebensraum für Tiere aller Art. So lässt sich auch einer der kleinen Reime, die gelegentlich aufblitzen, als wären es bloße Zufallsereignisse, durchaus auf das Schilf beziehen. Der Zweizeiler beschreibt exakt, was sich in dieser Lyrik ereignet: „Wieviel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt“. Genau da aber, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, liegt auch der Taupunkt der Sprache, in der die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind. Von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.
JÖRG MAGENAU
Kerstin Preiwuß: Taupunkt. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2020, 106 Seiten, 22 Euro.
„Leben heißt Liegen auf einem
blinden Fleck / von dem
aus man alles ganz deutlich sieht.“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Denken sich legt
Kerstin Preiwuß’ Gedichte und der
„Taupunkt“ der Sprache
Der Taupunkt bezeichnet die Temperatur, bei der ein Gasgemisch wie Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist. Sinkt die Temperatur unter den Taupunkt, wird Luftfeuchtigkeit als von Nebel oder Tau ausgeschieden. Mit der Temperatur steigt auch der Taupunkt. Weil heiße Luft mehr Wasserdampf absorbieren kann, lässt sich mit dem Taupunkt die absolute Luftfeuchtigkeit bestimmen. Der Taupunkt ist also der Gleichgewichtszustand zwischen Kondensieren und Verdunsten, ein physikalischer Balanceakt. Bei der Leipziger Lyrikerin Kerstin Preiwuß, die ihrem vierten Gedichtband den Titel „Taupunkt“ gegeben hat, wird daraus ein poetisches Prinzip. Das hört sich so an: „Der Taupunkt ist grausam / und er ist schlicht. / Man sieht ihn nicht / aber empfindet was. / Er schöpft aus sich / und er hat recht.“ Dieses kleine Gedicht steht exakt im Zentrum des schmalen Buches wie die waagrechte Achse einer Balkenwaage oder wie die Zäsur in der Mitte einer langen, schlaflosen Nacht. Der Band ist symmetrisch aufgebaut. Auf einen kurzen Prolog folgt der durch das Titelgedicht in zwei Teile gegliederte Hauptteil, der mit der Zeitangabe 22 Uhr 58 und 12 Sekunden und dem Vermerk „Gleich Nacht“ beginnt. Die Gedichte sind demnach als fortlaufender nächtlicher Monolog zu lesen. Sie umkreisen das Zentrum der Zeit oder den Sättigungsgrad der Reflexion.
Denken, Erinnern und leibliche Gegenwärtigkeit fallen in diesem lyrischen Prozess zusammen, bis die Zeitangabe 09 Uhr 43 und 43 Sekunden, „Gleich Tag“, und damit ein letztes Gedicht die Nacht beschließt. Es endet mit den Versen: „Ich versuche Gedanken in die ich mich legen kann/ wie die Sonne spielend in das Wasser scheint / nach der das Wasser unzerbrochen bleibt. // Wie leise sie wirkt, dass ihr Leib es nicht weiß. / Sie begreift das meist und behält wenig bei.“
Grammatikalisch bezieht sich das leise wirkende und wenig behaltende „Sie“ auf die Sonne, mit der der Tag beginnt. Es könnte aber auch sein, dass das lyrische Ich sich damit selbst anspricht oder sich in der Sonne spiegelt. Der Balancezustand, zu dem dieses Ich findet, ist zwischen Nichtwissen, Begreifen und Vergessen austariert. Das nächtliche Nachdenken, das sich in diesen zu Zyklen angeordneten, ineinander übergehenden Gedichten ereignet, ist eben kein bewusster Akt der Reflexion, sondern ein Zum-Vorschein-Bringen, das sich im Sprechen vollzieht – und so beginnt der Band auch mit den Zeilen: „Das ist worüber niemand spricht nur weiß / wie’s Gräben schlägt in sich um alles.“
Zwischen den Gedichten, die sich wie Moleküle zu längeren Ketten verbinden, markieren Sternchen sowohl Trennung als auch Verbindung. Vom Gestus her handelt es sich bei diesen Versen um Anreden, die sich zunächst an „Apnoe“, die Schlaflosigkeit richten, später dann an „Meine Liebe“ oder an die „Tödin“. Doch all das sind Nachtgestalten, die dem sprechenden Ich zugehören. Das Ich und seine Gegenüber, Innenwelt und Außenwelt, Poesie und Physis, Stofflichkeit und Transzendenz, Leben und Tod sind Übergangsphänomene, die, wenn überhaupt, im Dazwischen, im „Taupunkt“ eben, aufzuspüren wären. So heißt es programmatisch: „Leben heißt liegen auf einem blinden Fleck / von dem aus man alles ganz deutlich sieht.“
Ein besonderer Reiz der Dichtung von Kerstin Preiwuß ergibt sich aus dem Nebeneinander von technischer und emotionaler Sprachebene, wenn sie sich etwa in die „Zellulose der Kindheit“ hüllt, den „Schmerz“ als „Aggregatzustand“ begreift oder behauptet: „immer nur am Leben sein / ergibt doch keinen Sinn nicht mal ne Fließgeschwindigkeit“. Auch die Biologie ist nicht fern, wenn Positionen „abgelaicht“ werden oder „wir“ uns festsetzen „wie Algen an Steinen als Pionierpflanzen“. Das Sprechen, das sich hier ereignet, ist nicht zuletzt ein körperlicher, akustischer Vorgang. Auch wenn das sprechende Ich den „eigenen Ton nicht mehr hören“ kann, trägt es „ihn überall hin“. Sprache ist Leiblichkeit. Sie entsteht aus sich selbst. Wer spricht, hat die Sprache nur geborgt. Das ist dieser Nachtstimme jederzeit bewusst.
Die in zahlreichen Versen zu findende zentrale Metapher ist das Schilf, das als Schraffur zwischen Wasserfläche und festem Land im Übergangsbereich siedelt, wo aus „„Barrieren aus abgestorbenen Zellen“ neues Leben wächst. Auch das Schilf gehört zu den Adressaten der Gedichte, die direkt angesprochen werden: „Rede, Schilf, rede!“. Schilf nickt, schwankt, flüstert, wartet, ist nie einzeln, sondern viele. Es steht für das Brüchige, Hohle, Undurchsichtige, aber auch für Atmung, Schutz und Lebensraum für Tiere aller Art. So lässt sich auch einer der kleinen Reime, die gelegentlich aufblitzen, als wären es bloße Zufallsereignisse, durchaus auf das Schilf beziehen. Der Zweizeiler beschreibt exakt, was sich in dieser Lyrik ereignet: „Wieviel sich bewegt / wenn nur das Denken sich legt“. Genau da aber, wo Bewegung und Ruhe im Gleichklang sind und das Denken sich von seinen Absichten löst, liegt auch der Taupunkt der Sprache, in der die Worte wie Wasserdampf in der Luft enthalten sind. Von da aus kondensieren sie oder schlagen sich nieder als Tau.
JÖRG MAGENAU
Kerstin Preiwuß: Taupunkt. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2020, 106 Seiten, 22 Euro.
„Leben heißt Liegen auf einem
blinden Fleck / von dem
aus man alles ganz deutlich sieht.“
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»Preiwuß (entwickelt) in verwirrend rätselhaften und klangmagisch aufregenden Gedichten geheimnisvolle Schöpfungsgeschichten, Fantasien von Verwandlungen und von Aufenthalten in einem Zwischenreich von menschlichem, tierischem und p anzlichem Dasein. In seinem naturmystischen Eigensinn ragt dieser Gedichtband heraus aus den lyrischen Neuerscheinungen dieses bleiernen Krisenjahres.« Zeit Online 20200620