Juan Morenos Bericht über den größten Fälschungsskandal seit Jahrzehnten
Ein Reporter des «Spiegel» lieferte Reportagen und Interviews aus dem In- und Ausland, bewegend und oftmals mit dem Anstrich des Besonderen. Sie alle wurden vom «Spiegel» und seiner legendären Dokumentation geprüft und abgenommen, sie wurden gedruckt, und der Autor Claas Relotius wurde mit Preisen geradezu überhäuft. Aber: Sie waren - ganz oder zum Teil - frei erfunden. Juan Moreno hat, eher unfreiwillig und gegen heftigen Widerstand im «Spiegel», die Fälschungen aufgedeckt. Hier erzählt er die ganze Geschichte vom Aufstieg und Fall des jungen Starjournalisten, dessen Reportagen so perfekt waren, so stimmig, so schön. Claas Relotius schrieb immer genau das, was seine Redaktionen haben wollten. Aber dennoch ist zu fragen, wieso diese Fälschungen jahrelang unentdeckt bleiben konnten. Juan Moreno schreibt mehr als die unglaubliche Geschichte einer beispiellosen Täuschung, er fragt, was diese über denJournalismus aussagt.
Ein Reporter des «Spiegel» lieferte Reportagen und Interviews aus dem In- und Ausland, bewegend und oftmals mit dem Anstrich des Besonderen. Sie alle wurden vom «Spiegel» und seiner legendären Dokumentation geprüft und abgenommen, sie wurden gedruckt, und der Autor Claas Relotius wurde mit Preisen geradezu überhäuft. Aber: Sie waren - ganz oder zum Teil - frei erfunden. Juan Moreno hat, eher unfreiwillig und gegen heftigen Widerstand im «Spiegel», die Fälschungen aufgedeckt. Hier erzählt er die ganze Geschichte vom Aufstieg und Fall des jungen Starjournalisten, dessen Reportagen so perfekt waren, so stimmig, so schön. Claas Relotius schrieb immer genau das, was seine Redaktionen haben wollten. Aber dennoch ist zu fragen, wieso diese Fälschungen jahrelang unentdeckt bleiben konnten. Juan Moreno schreibt mehr als die unglaubliche Geschichte einer beispiellosen Täuschung, er fragt, was diese über denJournalismus aussagt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2019Niemand denkt sich so was aus
Juan Moreno hat die Fälschungen des Claas Relotius entlarvt, wofür es Mut brauchte. Jetzt erzählt er die Story
Wenn am kommenden Dienstag der "Spiegel"-Autor Juan Moreno, der Mann, der vor knapp einem Jahr seinen Kollegen Claas Relotius als Fälscher, Hochstapler und notorischen Lügner entlarvte, sein Buch über diesen folgenreichen Skandal veröffentlicht, dann stellt sich, jedenfalls für halbwegs informierte Leser, vor allem eine Frage: Was zum Teufel soll darin eigentlich noch Neues stehen?
Nachdem der "Spiegel" im Dezember 2018 den Betrug im eigenen Haus offengelegt hatte, arbeiteten die schockierten Kollegen den Fall mit großem Eifer auf. Die wesentlichen Dinge sind bekannt: Das Ausmaß des Betrugs hat sich schnell als so umfassend erwiesen, dass es kaum noch etwas zu enthüllen gibt; die Abläufe von Relotious' Überführung wurden im Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission ausführlich dokumentiert; Relotius ist untergetaucht, seine damaligen Vorgesetzten wurden degradiert, Moreno ist rehabilitiert. Nicht einmal die Produzenten, die demnächst diese hollywoodreife Geschichte in einen Film verwandeln wollen, scheinen sich sonderlich dafür zu interessieren, was Moreno noch zu sagen hat: Sie haben sich schon vor Monaten die Rechte an dem Buch gesichert, lange bevor es fertig geschrieben war. Es ist, mit anderen Worten, ein wenig wie bei den Artikeln von Relotius: Wer gut ist und wer böse, das steht von vornherein fest. Man müsste es nur noch möglichst anschaulich aufschreiben.
Wenn man sich aber trotzdem dafür interessiert, was Moreno zu erzählen hat, dann liegt das zunächst einmal daran, dass es schon auch darauf ankommt, wer diese Geschichte erzählt. Moreno durfte das zwar auch vorher schon tun, nachdem er, wie er schrieb, "etwas geworden" war, "das ich nie sein wollte: Protagonist einer Geschichte". Aber bisher blieb er, auch weil er das selbst so wollte, immer Teil der offiziellen "Spiegel"-Aufarbeitungsmaschine. Bis heute hat der "Spiegel" beinahe ein Monopol auf die Geschichtsschreibung des Skandals. Wobei das Magazin auch dies, zumindest mit dem Bericht der Kommission, mit unvergleichlicher Schonungslosigkeit betrieb.
Wenn Moreno nun, mit zeitlichem Abstand und publizistischer Distanz und, wie er betont, ohne "Rückendeckung" des Magazins, ein ganzes Buch nachlegt, wäre es nicht abwegig, ein paar neue Erschütterungen zu erwarten, wenn nicht sogar eine fundamentale Abrechnung - mit den Kollegen, die ihm damals so viel Misstrauen entgegenbrachten, mit Claas Relotius, mit einer ganzen Branche, deren fleißiges Schulterklopfen den überhaupt erst so unantastbar gemacht hatte. Der Untertitel von "Tausend Zeilen Lüge" jedenfalls deute an, dass darin sehr viel mehr verhandelt wird als Morenos persönliche Befindlichkeiten, nämlich "das System Relotius und der deutsche Journalismus".
Dass es Moreno aber nicht um Rache geht oder auch nur um Anerkennung für die Hartnäckigkeit, mit der er Relotius' Fälschungen aufdeckte, das macht er schon im Vorwort klar: Er ist, wie er es auch schon damals in der ganzen Aufregung war, besonnen genug, die Heldenrolle zurückzuweisen, die ihm der "Spiegel" zugeteilt hatte, als man ihm endlich glaubte und damit selbst die Aufarbeitung des Skandals noch in die unerschütterlichen Schwarzweißdramaturgie fasste. "Das wunderbare Misstrauen des Juan Moreno", das ihm der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit damals attestierte, klingt für ihn "wie ein Roman von Gabriel García Márquez". Und schon deshalb infam, weil ihm, dem Sohn andalusischer Bauern, der Respekt vorher so oft versagt wurde: Zehn Jahre schreibe er schon für den "Spiegel", schreibt Moreno, und er werde an der Pforte immer noch gefragt, "ob er der Taxifahrer sei, den ein Redakteur bestellt hatte". Es fällt nicht leicht, Moreno diese Außenseiterrolle abzunehmen. Als freier Autor mit Vertrag beim "Spiegel" hat auch er in den Augen seiner meisten Kollegen eine beachtliche Karriere gemacht. Dass er sich trotzdem als Journalist zweiter Klasse fühlt, liegt nicht nur daran, dass er, der Vater von vier Kindern, wie er mehrmals betont, "jederzeit kündbar" ist; sondern auch daran, dass ihn seine Vorgesetzten oft genug daran erinnern.
Ein Außenseiter ist Moreno auch deshalb, weil sein Selbstbild des Reporters im angenehmen Kontrast zur Verklärung der eigenen Bedeutung steht, wie sie viele Kollegen betreiben. Mit all dem Pathos und den Eitelkeiten, die im Gesellschaftsressort des "Spiegels" gepflegt wurden, kann er nicht viel anfangen. Für ihn ist eine Reportage nur gelungen, wenn sie "den Widerspruch, das Scheitern, das Ungenügende, die Uneindeutigkeit in sich" trägt. Und so macht er sich anfangs auch keine großen Sorgen, als er im November 2018 den Auftrag bekommt, an der Geschichte mitzuarbeiten, die Relotius' letzte sein wird: Für den "Text, der alles veränderte" (der am 27. November unter dem Titel "Jaegers Grenze" erscheint), soll er den Flüchtlingstreck aus Lateinamerika begleiten, Relotius auf der anderen Seite der Grenze eine Bürgerwehr besuchen und den Text am Schluss "zusammenschreiben". "Mir gefiel gerade, dass sie erwartbar klang. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass solche Schreibtischplots meist in einem vollen Notizblock enden, in dem die anfangs zurechtgelegten Klischees implodieren", schreibt Moreno.
Wie sich die Dinge dann in eine komplett andere Richtung entwickeln, kann man in Morenos Buch noch einmal detailliert nachlesen, inklusive E-Mail-Verkehr: Wie Moreno schon zu Beginn das Gefühl hat, dass irgendetwas "komisch" sei; wie Relotius Schwierigkeiten vorspielt, geeignete Protagonisten zu finden und es dann in letzter Minute doch schafft, eine Gruppe aufzutreiben, deren Vertrauen er zwar innerhalb kürzester Zeit gewinnen kann, nur für einen Fotografen ist es dann doch nicht groß genug. Wie Moreno, als er Relotius' Teil des Textes liest, all die Ungereimtheiten nicht fassen kann, aber noch denkt, dass sein Kollege seinen Figuren auf den Leim gegangen ist. Wie er immer wieder an seinen Zweifeln zweifelt, weil er sich sagt: "Niemand denkt sich so etwas aus!" Wie Relotius all diese Einwände ignoriert und stattdessen Morenos Teil bemängelt - zu wenig Action, Drama, Dichte, zu viel Einordnung und Interpretation. Wie er, statt seine eigenen Lügen abzuschwächen, Moreno ein paar "Regieanweisungen" schickt, ihm sämtliche Zweifel rausstreicht und dessen Text mit ein paar "Anreicherungen" verziert. Und wie Moreno schließlich auf eigene Faust die Wahrheit recherchiert, indem er zuerst nächtelang googelt, wer Relotius' Protagonisten wirklich sind, und dann noch einmal nach Amerika fährt, um sie zu treffen.
Man erfährt sehr viel über das betrügerische Talent des Claas Relotius, über die offenbar tatsächlich pathologische Seite seiner Lügerei, die er wohl schon in seiner Zeit an der Journalistenschule auslebte. Sogar eine krebskranke Schwester hat er erfunden, eine Lüge, die so billig ist, dass man sie fast nur glauben kann. Was man aber am allerwenigsten fassen kann, ist die Hochachtung, die Relotius und seiner Art der Reportage all die erfolgreichen Jahre lang entgegenschlägt, die Preise, die erstaunlich ehrlich gemeinte Begeisterung. Moreno zitiert auch die bekannte Mail, in der sein damaliger Ressortleiter Matthias Geyer eine Art Treatment für die gemeinsame Geschichte vorgibt: "Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich geworden ist." Was daran so erschreckend ist, ist nicht nur die grotesk genaue Vorgabe für die Besetzung; es ist vor allem die Vorstellung, dass durch sorgfältiges Casting und einen möglichst klar konturierten Konflikt am Ende ein brauchbarer Text herauskommt, womöglich sogar die "Geschichte des Jahres". Viel lieber hätte man von all den anderen Menschen gelesen, die Moreno getroffen hat und die sich kaum jemand ausdenken kann, von den "guatemaltekischen Dragqueens in silbernen Paillettensensationen" oder den "Typen, die so bekifft waren, dass einige von ihnen über Stunden auf der mexikanischen Landstraße in die falsche Richtung liefen und sich wunderten, dass ihnen ständig Leute entgegenkamen".
Woher die rätselhafte Verehrung für Relotius kam, wie man in ihm, wie es einer seiner Chefredakteure ausdrückte, die "Zukunft des ,Spiegels'" sehen konnte, das versucht auch Moreno zu erklären. Viele sahen ihn, so interpretiert er es, "in erster Linie als Lösung, nicht als Problem des deutschen Journalismus". "Relotius' Texte nahmen Leser in den Arm", schreibt Moreno. "Die Stoffe waren derb, aber der Leser wurde nicht konfrontiert, die Reportagen waren wie er, zurückgenommen und voller Verständnis, über ihnen schwebt immer ein Erlösungsversprechen. Für Leser - und letztlich für den Journalismus." Einfache Antworten auf die Komplexität der Welt: "Die Dinge sind nicht kompliziert im Relotius-Universum. Ein Reporter-Populist, es ist alles immer ganz leicht. Das ist der ganze Trick."
Wie überzeugend aber diese Methode gewesen sein muss, deren Ergebnisse außerhalb der preissüchtigen Reporterwelt ja nicht erst seit dem Bekanntwerden der Fälschungen oft als kunstvoll arrangierter, haltungsloser Kitsch galten, auch das kann man an Morenos Buch ganz gut erkennen. Denn trotz aller Kritik scheint auch er die Währung anzuerkennen, in der Relotius' Ruhm belohnt wurde - nicht nur die Relevanz der Preise, sondern auch die Gültigkeit der Kriterien, die seine Märchen zu gutem Journalismus machten. Der Reporterpreis, den Relotius in Serie gewann, ist auch für ihn ein "Ritterschlag"; "jeder Journalist will ihn gewinnen", behauptet er, und "der Feuilletonist, der sein Büro seit Jahren nicht verlassen hat und Reportern erklärt, sie würden die Welt falsch beschreiben", sei ihm ohnehin "zuwider". Wenn er sich nach den Gründen für Relotius' Erfolg fragt, verfällt er in ein seltsames "Wir": "Warum hat uns das alles so berührt?" Und wenn er doch jemanden findet, dem es nicht so ging, wie etwa Franziska Augstein, die Texte von Relotius nicht mochte, weil sie "beim Lesen das Gefühl hatte, dass ich das alles schon weiß", dann hält er das für eine große Ausnahme: "Die meisten von uns haben genau das geliebt."
Auch in diesem Jahr soll der Reporterpreis wieder verliehen werden, unter veränderten Bedingungen, welche vorsehen, dass die Bewerber die Telefonnummern von wichtigen Protagonisten einreichen. Und ein Making-of, wie es, auch das beschreibt Moreno, Relotius mindestens genauso geschickt erfand wie seine Texte. Ob das auch davor schützt, schlechte Texte auszuzeichnen, wird sich zeigen.
Ein heißer Kandidat für die beste Reportage dürfte der Text sein, den Moreno in dieser Woche im "Spiegel" veröffentlichte, ein Bericht über seinen Besuch bei kolumbianische Farc-Rebellen, die nach jahrelangem Frieden wieder zu den Waffen greifen. Es ist ein sensationeller Coup, spektakulärer als jede Relotius-Story. Moreno hat alles astrein dokumentiert, bei "Spiegel Online" kann man sogar ein Video von seiner Reise sehen, ein Making-of. So kann sich jeder Leser davon überzeugen, dass es das alles wirklich gibt, was er in seinem Text beschreibt: die Soldaten und ihren Kommandanten, die Waffen, die Kokainproduktion, die sympathisierenden Bauern. Und wundert sich doch, warum die Frage, die man so gerne von seinem Text beantwortet bekommen hätte, nur im Film auftaucht: "Warum darf ich hier sein?"
Die Antwort ist mit Sicherheit kompliziert. Es reicht ja auch, zu wissen, dass in den Baumwipfeln die Affen kreischen. Und dass es in Kolumbien bald wieder Krieg geben wird, weil es irgendwo im Dschungel einen Mann gibt, der das so will.
HARALD STAUN.
Juan Moreno: "Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus". Rowohlt Berlin, 288 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Juan Moreno hat die Fälschungen des Claas Relotius entlarvt, wofür es Mut brauchte. Jetzt erzählt er die Story
Wenn am kommenden Dienstag der "Spiegel"-Autor Juan Moreno, der Mann, der vor knapp einem Jahr seinen Kollegen Claas Relotius als Fälscher, Hochstapler und notorischen Lügner entlarvte, sein Buch über diesen folgenreichen Skandal veröffentlicht, dann stellt sich, jedenfalls für halbwegs informierte Leser, vor allem eine Frage: Was zum Teufel soll darin eigentlich noch Neues stehen?
Nachdem der "Spiegel" im Dezember 2018 den Betrug im eigenen Haus offengelegt hatte, arbeiteten die schockierten Kollegen den Fall mit großem Eifer auf. Die wesentlichen Dinge sind bekannt: Das Ausmaß des Betrugs hat sich schnell als so umfassend erwiesen, dass es kaum noch etwas zu enthüllen gibt; die Abläufe von Relotious' Überführung wurden im Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission ausführlich dokumentiert; Relotius ist untergetaucht, seine damaligen Vorgesetzten wurden degradiert, Moreno ist rehabilitiert. Nicht einmal die Produzenten, die demnächst diese hollywoodreife Geschichte in einen Film verwandeln wollen, scheinen sich sonderlich dafür zu interessieren, was Moreno noch zu sagen hat: Sie haben sich schon vor Monaten die Rechte an dem Buch gesichert, lange bevor es fertig geschrieben war. Es ist, mit anderen Worten, ein wenig wie bei den Artikeln von Relotius: Wer gut ist und wer böse, das steht von vornherein fest. Man müsste es nur noch möglichst anschaulich aufschreiben.
Wenn man sich aber trotzdem dafür interessiert, was Moreno zu erzählen hat, dann liegt das zunächst einmal daran, dass es schon auch darauf ankommt, wer diese Geschichte erzählt. Moreno durfte das zwar auch vorher schon tun, nachdem er, wie er schrieb, "etwas geworden" war, "das ich nie sein wollte: Protagonist einer Geschichte". Aber bisher blieb er, auch weil er das selbst so wollte, immer Teil der offiziellen "Spiegel"-Aufarbeitungsmaschine. Bis heute hat der "Spiegel" beinahe ein Monopol auf die Geschichtsschreibung des Skandals. Wobei das Magazin auch dies, zumindest mit dem Bericht der Kommission, mit unvergleichlicher Schonungslosigkeit betrieb.
Wenn Moreno nun, mit zeitlichem Abstand und publizistischer Distanz und, wie er betont, ohne "Rückendeckung" des Magazins, ein ganzes Buch nachlegt, wäre es nicht abwegig, ein paar neue Erschütterungen zu erwarten, wenn nicht sogar eine fundamentale Abrechnung - mit den Kollegen, die ihm damals so viel Misstrauen entgegenbrachten, mit Claas Relotius, mit einer ganzen Branche, deren fleißiges Schulterklopfen den überhaupt erst so unantastbar gemacht hatte. Der Untertitel von "Tausend Zeilen Lüge" jedenfalls deute an, dass darin sehr viel mehr verhandelt wird als Morenos persönliche Befindlichkeiten, nämlich "das System Relotius und der deutsche Journalismus".
Dass es Moreno aber nicht um Rache geht oder auch nur um Anerkennung für die Hartnäckigkeit, mit der er Relotius' Fälschungen aufdeckte, das macht er schon im Vorwort klar: Er ist, wie er es auch schon damals in der ganzen Aufregung war, besonnen genug, die Heldenrolle zurückzuweisen, die ihm der "Spiegel" zugeteilt hatte, als man ihm endlich glaubte und damit selbst die Aufarbeitung des Skandals noch in die unerschütterlichen Schwarzweißdramaturgie fasste. "Das wunderbare Misstrauen des Juan Moreno", das ihm der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit damals attestierte, klingt für ihn "wie ein Roman von Gabriel García Márquez". Und schon deshalb infam, weil ihm, dem Sohn andalusischer Bauern, der Respekt vorher so oft versagt wurde: Zehn Jahre schreibe er schon für den "Spiegel", schreibt Moreno, und er werde an der Pforte immer noch gefragt, "ob er der Taxifahrer sei, den ein Redakteur bestellt hatte". Es fällt nicht leicht, Moreno diese Außenseiterrolle abzunehmen. Als freier Autor mit Vertrag beim "Spiegel" hat auch er in den Augen seiner meisten Kollegen eine beachtliche Karriere gemacht. Dass er sich trotzdem als Journalist zweiter Klasse fühlt, liegt nicht nur daran, dass er, der Vater von vier Kindern, wie er mehrmals betont, "jederzeit kündbar" ist; sondern auch daran, dass ihn seine Vorgesetzten oft genug daran erinnern.
Ein Außenseiter ist Moreno auch deshalb, weil sein Selbstbild des Reporters im angenehmen Kontrast zur Verklärung der eigenen Bedeutung steht, wie sie viele Kollegen betreiben. Mit all dem Pathos und den Eitelkeiten, die im Gesellschaftsressort des "Spiegels" gepflegt wurden, kann er nicht viel anfangen. Für ihn ist eine Reportage nur gelungen, wenn sie "den Widerspruch, das Scheitern, das Ungenügende, die Uneindeutigkeit in sich" trägt. Und so macht er sich anfangs auch keine großen Sorgen, als er im November 2018 den Auftrag bekommt, an der Geschichte mitzuarbeiten, die Relotius' letzte sein wird: Für den "Text, der alles veränderte" (der am 27. November unter dem Titel "Jaegers Grenze" erscheint), soll er den Flüchtlingstreck aus Lateinamerika begleiten, Relotius auf der anderen Seite der Grenze eine Bürgerwehr besuchen und den Text am Schluss "zusammenschreiben". "Mir gefiel gerade, dass sie erwartbar klang. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass solche Schreibtischplots meist in einem vollen Notizblock enden, in dem die anfangs zurechtgelegten Klischees implodieren", schreibt Moreno.
Wie sich die Dinge dann in eine komplett andere Richtung entwickeln, kann man in Morenos Buch noch einmal detailliert nachlesen, inklusive E-Mail-Verkehr: Wie Moreno schon zu Beginn das Gefühl hat, dass irgendetwas "komisch" sei; wie Relotius Schwierigkeiten vorspielt, geeignete Protagonisten zu finden und es dann in letzter Minute doch schafft, eine Gruppe aufzutreiben, deren Vertrauen er zwar innerhalb kürzester Zeit gewinnen kann, nur für einen Fotografen ist es dann doch nicht groß genug. Wie Moreno, als er Relotius' Teil des Textes liest, all die Ungereimtheiten nicht fassen kann, aber noch denkt, dass sein Kollege seinen Figuren auf den Leim gegangen ist. Wie er immer wieder an seinen Zweifeln zweifelt, weil er sich sagt: "Niemand denkt sich so etwas aus!" Wie Relotius all diese Einwände ignoriert und stattdessen Morenos Teil bemängelt - zu wenig Action, Drama, Dichte, zu viel Einordnung und Interpretation. Wie er, statt seine eigenen Lügen abzuschwächen, Moreno ein paar "Regieanweisungen" schickt, ihm sämtliche Zweifel rausstreicht und dessen Text mit ein paar "Anreicherungen" verziert. Und wie Moreno schließlich auf eigene Faust die Wahrheit recherchiert, indem er zuerst nächtelang googelt, wer Relotius' Protagonisten wirklich sind, und dann noch einmal nach Amerika fährt, um sie zu treffen.
Man erfährt sehr viel über das betrügerische Talent des Claas Relotius, über die offenbar tatsächlich pathologische Seite seiner Lügerei, die er wohl schon in seiner Zeit an der Journalistenschule auslebte. Sogar eine krebskranke Schwester hat er erfunden, eine Lüge, die so billig ist, dass man sie fast nur glauben kann. Was man aber am allerwenigsten fassen kann, ist die Hochachtung, die Relotius und seiner Art der Reportage all die erfolgreichen Jahre lang entgegenschlägt, die Preise, die erstaunlich ehrlich gemeinte Begeisterung. Moreno zitiert auch die bekannte Mail, in der sein damaliger Ressortleiter Matthias Geyer eine Art Treatment für die gemeinsame Geschichte vorgibt: "Wir suchen nach einer Frau mit einem Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land, in dem ihr das Leben unmöglich geworden ist." Was daran so erschreckend ist, ist nicht nur die grotesk genaue Vorgabe für die Besetzung; es ist vor allem die Vorstellung, dass durch sorgfältiges Casting und einen möglichst klar konturierten Konflikt am Ende ein brauchbarer Text herauskommt, womöglich sogar die "Geschichte des Jahres". Viel lieber hätte man von all den anderen Menschen gelesen, die Moreno getroffen hat und die sich kaum jemand ausdenken kann, von den "guatemaltekischen Dragqueens in silbernen Paillettensensationen" oder den "Typen, die so bekifft waren, dass einige von ihnen über Stunden auf der mexikanischen Landstraße in die falsche Richtung liefen und sich wunderten, dass ihnen ständig Leute entgegenkamen".
Woher die rätselhafte Verehrung für Relotius kam, wie man in ihm, wie es einer seiner Chefredakteure ausdrückte, die "Zukunft des ,Spiegels'" sehen konnte, das versucht auch Moreno zu erklären. Viele sahen ihn, so interpretiert er es, "in erster Linie als Lösung, nicht als Problem des deutschen Journalismus". "Relotius' Texte nahmen Leser in den Arm", schreibt Moreno. "Die Stoffe waren derb, aber der Leser wurde nicht konfrontiert, die Reportagen waren wie er, zurückgenommen und voller Verständnis, über ihnen schwebt immer ein Erlösungsversprechen. Für Leser - und letztlich für den Journalismus." Einfache Antworten auf die Komplexität der Welt: "Die Dinge sind nicht kompliziert im Relotius-Universum. Ein Reporter-Populist, es ist alles immer ganz leicht. Das ist der ganze Trick."
Wie überzeugend aber diese Methode gewesen sein muss, deren Ergebnisse außerhalb der preissüchtigen Reporterwelt ja nicht erst seit dem Bekanntwerden der Fälschungen oft als kunstvoll arrangierter, haltungsloser Kitsch galten, auch das kann man an Morenos Buch ganz gut erkennen. Denn trotz aller Kritik scheint auch er die Währung anzuerkennen, in der Relotius' Ruhm belohnt wurde - nicht nur die Relevanz der Preise, sondern auch die Gültigkeit der Kriterien, die seine Märchen zu gutem Journalismus machten. Der Reporterpreis, den Relotius in Serie gewann, ist auch für ihn ein "Ritterschlag"; "jeder Journalist will ihn gewinnen", behauptet er, und "der Feuilletonist, der sein Büro seit Jahren nicht verlassen hat und Reportern erklärt, sie würden die Welt falsch beschreiben", sei ihm ohnehin "zuwider". Wenn er sich nach den Gründen für Relotius' Erfolg fragt, verfällt er in ein seltsames "Wir": "Warum hat uns das alles so berührt?" Und wenn er doch jemanden findet, dem es nicht so ging, wie etwa Franziska Augstein, die Texte von Relotius nicht mochte, weil sie "beim Lesen das Gefühl hatte, dass ich das alles schon weiß", dann hält er das für eine große Ausnahme: "Die meisten von uns haben genau das geliebt."
Auch in diesem Jahr soll der Reporterpreis wieder verliehen werden, unter veränderten Bedingungen, welche vorsehen, dass die Bewerber die Telefonnummern von wichtigen Protagonisten einreichen. Und ein Making-of, wie es, auch das beschreibt Moreno, Relotius mindestens genauso geschickt erfand wie seine Texte. Ob das auch davor schützt, schlechte Texte auszuzeichnen, wird sich zeigen.
Ein heißer Kandidat für die beste Reportage dürfte der Text sein, den Moreno in dieser Woche im "Spiegel" veröffentlichte, ein Bericht über seinen Besuch bei kolumbianische Farc-Rebellen, die nach jahrelangem Frieden wieder zu den Waffen greifen. Es ist ein sensationeller Coup, spektakulärer als jede Relotius-Story. Moreno hat alles astrein dokumentiert, bei "Spiegel Online" kann man sogar ein Video von seiner Reise sehen, ein Making-of. So kann sich jeder Leser davon überzeugen, dass es das alles wirklich gibt, was er in seinem Text beschreibt: die Soldaten und ihren Kommandanten, die Waffen, die Kokainproduktion, die sympathisierenden Bauern. Und wundert sich doch, warum die Frage, die man so gerne von seinem Text beantwortet bekommen hätte, nur im Film auftaucht: "Warum darf ich hier sein?"
Die Antwort ist mit Sicherheit kompliziert. Es reicht ja auch, zu wissen, dass in den Baumwipfeln die Affen kreischen. Und dass es in Kolumbien bald wieder Krieg geben wird, weil es irgendwo im Dschungel einen Mann gibt, der das so will.
HARALD STAUN.
Juan Moreno: "Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus". Rowohlt Berlin, 288 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses Buch wird man auch nach Jahren noch lesen - als Musterbeispiel des investigativen Medienjournalismus, als meisterhafte Analyse menschlicher Manipulationsanfälligkeit und als erschütternde Parabel über den Felix Krull des literarischen Journalismus. Bernhard Pörksen Neue Zürcher Zeitung 20190917