An kaum einem Bereich der mittelalterlichen Welt ging der technische Fortschritt spurlos vorüber - mochte es sich dabei um die Kunst des Uhrmacherhandwerks, um die Mühlentechnik, das Bauwesen, die Waffentechnik oder die Schwarze Kunst des Buchdrucks handeln. Marcus Popplow bietet einen kompetenten Überblick über die Geschichte der mittelalterlichen Technik, über Fortschritt und Widerstände, über Techniktransfer und die Rolle des Handwerks und über vieles andere mehr, das in diesem Zusammenhang zu wissen lohnt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2010Auf Mühlenrädern in die Moderne
In Europa erfand man gerne noch einmal, was man im Fernen Osten schon kannte: Marcus Popplow bilanziert die Einsichten der Forschung über Technik im Mittelalter.
Über die Stellung des Mittelalters in der neuen Globalgeschichte ist noch nicht entschieden. Als überwunden kann immerhin eine historische Auffassung gelten, nach der sich in diesem Zeitalter eine Reihe von Umbrüchen ereignet hat, die das Ende des jahrtausendealten agrarischen Zeitalters in der großen industriellen Revolution vorbereitete. Anders als die alte Universalgeschichte misstraut die Globalgeschichte aller Teleologie; der vermeintlichen Entwicklungslogik von Gesellschaften setzt sie die Analyse transnationaler und -kultureller Netzwerke entgegen, die regionale und segmentäre Differenzen zutage fördert, unbezweifelbare Wenden in der Geschichte kontingent erscheinen lässt und damit das Potential jedes Akteurs im historischen Prozess vergegenwärtigt. Wirtschaftshistoriker haben versucht, schon im Mittelalter ein Weltsystem des Handels nachzuweisen, das Beziehungsnetzen dieser Art seit dem Zeitalter der Entdeckungen ähnelte. Dass auch von der Technikgeschichte neue Antworten auf die Frage nach dem Mittelalter in der größeren Welt zu erwarten sind, zeigt Marcus Popplow in einer lesenswerten Zwischenbilanz der Forschung.
Deutlich sind die Unterschiede zwischen Moderne und Vormoderne. Zum einen basierten die technischen Leistungen der Zeitspanne des Mittelalters bis 1800 kaum auf schriftlich niedergelegtem, sondern auf mündlich tradiertem Erfahrungswissen, dem jede theoretisch-wissenschaftliche Absicherung mangelte. Deshalb kennt man die Erfinder der älteren Zeiten auch nicht mit Namen, kann ihre Inventionen oder Innovationen kaum datieren und lokalisieren und muss einer Heroengeschichte, wie sie seit Leonardo da Vinci möglich wird, entsagen. Zum andern beruhte die Technik ausschließlich auf der "solaren Energie" menschlicher und tierischer Muskelkraft, des Wassers und Windes sowie von Holz und Holzkohle, denn fossile Brennstoffe konnten erst im 19. Jahrhundert im großen Maßstab genutzt werden. Energiequellen "unter der Sonne" lassen sich aber nur wenig speichern, und gerade Holz konnte über größere Entfernungen rentabel nur begrenzt transportiert werden. Anders als in der Moderne mit ihrem weit entwickelten Verkehrssystem war schon deshalb der Durchbruch einer neuen Technik von ungleichmäßigen regionalen Bedingungen abhängig. Dementsprechend kann es als glücklicher Umstand gelten, dass in England um 1800 die für die Verhüttung geeignete Steinkohle dort gefunden wurde, wo auch Eisenerz vorkam; zusammen mit der Entwicklung der Dampfmaschine kommt dieser welthistorische Zufall, wenn überhaupt etwas, für den viel beredeten europäischen Sonderweg in die Moderne in Betracht.
Die Erst- und Nacherfindungen, Variationen und Diffusionen technischer Errungenschaften lassen sich im Mittelalter im globalen Maßstab nur schwer bewerten. Peinlich danebengegriffen haben allerdings die Humanisten, als sie Kompass, Schießpulver und Buchdruck als Leistungen ihrer eigenen Zeit und nicht, wie es korrekt gewesen wäre, der von ihnen geschmähten mittelalterlichen Vergangenheit zuschrieben. Alle drei Technologien hatten chinesische Vorläufer, ohne dass man sagen könnte, dass sie auch von ostasiatischen Vorbildern abhängig gewesen wären. Ähnlich verhält es sich mit der Technik zur Härtung von Roheisen zu Stahl, die bereits in der Han-Dynastie (um die Zeitenwende) angewandt und in Europa erst am Beginn der Industrialisierung eingeholt wurde, während der Westen in der Kreuzzugszeit von den Arabern bedeutende Angriffs- und Verteidigungswaffen und noch etwas früher die Architekturelemente von Spitzbogen und Rippengewölbe gelernt haben dürfte.
Die moderne Hochschätzung der Ersterfindung lenkt allerdings davon ab, dass es für die Technikgeschichte meist viel mehr auf die Weiterentwicklung und Verbreitung von Geräten und Verfahren ankam. So wurde Gutenbergs Erfindung gegenüber der fast tausend Jahre älteren Entwicklung der Chinesen zu einem welthistorischen Erfolg, weil die Vielzahl chinesischer Schriftzeichen der Massenproduktion von beweglichen Lettern im Wege stand und der in Asien praktizierte Blockdruck höhere gestalterische Ansprüche erfüllen sollte. Seit der Zeit der europäischen Antike kannten die Chinesen auch die Wassermühle, die aber wiederum, vermittelt durch römische Traditionen, erst als Getreidemühle im Mittelalter ihren Durchbruch erfuhr. Denn die "Vergetreidung" der Landwirtschaft, also der zunehmende Anbau von Weizen und Roggen auf Kosten der Viehzucht und zugunsten des Brot- statt des Breikonsums, verlangte Mahlwerke zur Mehlproduktion, während sich die Chinesen auf den Reisanbau konzentrierten. Namentlich im hohen Mittelalter konnte die Mühlentechnik, begünstigt auch durch den vermehrten Einsatz der Nockenwelle, zur Schlüsseltechnologie überhaupt werden: Sie entlastete die menschliche und tierische Arbeitskraft, gefährdete aber auch in Gestalt der Walkmühle Tausende von Arbeitsplätzen in der Textilherstellung.
Die Frage nach dem Motiv technologischer Entwicklungen oder Retardationen umkreist Popplow mit vorsichtigen Erwägungen. Manchmal mögen religiöse Vorbehalte wirksam gewesen sein, so, wenn im Islam nur das manuelle Kopieren des Korans als verdienstliches Werk galt und die Verbreitung des Buchdrucks unter den Osmanen behindert wurde. Unbeachtet ließ der Autor die schöne Idee von Hans Martin Klinkenberg, dass es weniger elementares somatisches Bedürfnis als die Freude am Spiel gewesen sei, die (häufig, gewiss nicht immer) zu technischen Neuerungen führte. Im Mittelalter selbst hat man sich über derlei Fragen den Kopf nicht zerbrochen. Umso wertvoller ist das Zeugnis von Empfehlungen, die der Autor eines Techniktraktats, wohl Mönch des hessischen Klosters Helmarshausen, um 1100 seinen Mitbrüdern gab: Der Leser sollte sich himmlischen Lohn "durch nützliche Handwerksarbeiten und erfreuliche Studien von Neuigkeiten" erwerben. Einheimische Produkte möge er nicht verachten, aber trotzdem schätzen, was bei der Wanderung durch die Kontinente oder über die Meere erfahren werden könne.
MICHAEL BORGOLTE
Marcus Popplow: "Technik im Mittelalter". Verlag C. H. Beck, München 2010. 128 S., Abb., br., 8,95 [Euro].
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In Europa erfand man gerne noch einmal, was man im Fernen Osten schon kannte: Marcus Popplow bilanziert die Einsichten der Forschung über Technik im Mittelalter.
Über die Stellung des Mittelalters in der neuen Globalgeschichte ist noch nicht entschieden. Als überwunden kann immerhin eine historische Auffassung gelten, nach der sich in diesem Zeitalter eine Reihe von Umbrüchen ereignet hat, die das Ende des jahrtausendealten agrarischen Zeitalters in der großen industriellen Revolution vorbereitete. Anders als die alte Universalgeschichte misstraut die Globalgeschichte aller Teleologie; der vermeintlichen Entwicklungslogik von Gesellschaften setzt sie die Analyse transnationaler und -kultureller Netzwerke entgegen, die regionale und segmentäre Differenzen zutage fördert, unbezweifelbare Wenden in der Geschichte kontingent erscheinen lässt und damit das Potential jedes Akteurs im historischen Prozess vergegenwärtigt. Wirtschaftshistoriker haben versucht, schon im Mittelalter ein Weltsystem des Handels nachzuweisen, das Beziehungsnetzen dieser Art seit dem Zeitalter der Entdeckungen ähnelte. Dass auch von der Technikgeschichte neue Antworten auf die Frage nach dem Mittelalter in der größeren Welt zu erwarten sind, zeigt Marcus Popplow in einer lesenswerten Zwischenbilanz der Forschung.
Deutlich sind die Unterschiede zwischen Moderne und Vormoderne. Zum einen basierten die technischen Leistungen der Zeitspanne des Mittelalters bis 1800 kaum auf schriftlich niedergelegtem, sondern auf mündlich tradiertem Erfahrungswissen, dem jede theoretisch-wissenschaftliche Absicherung mangelte. Deshalb kennt man die Erfinder der älteren Zeiten auch nicht mit Namen, kann ihre Inventionen oder Innovationen kaum datieren und lokalisieren und muss einer Heroengeschichte, wie sie seit Leonardo da Vinci möglich wird, entsagen. Zum andern beruhte die Technik ausschließlich auf der "solaren Energie" menschlicher und tierischer Muskelkraft, des Wassers und Windes sowie von Holz und Holzkohle, denn fossile Brennstoffe konnten erst im 19. Jahrhundert im großen Maßstab genutzt werden. Energiequellen "unter der Sonne" lassen sich aber nur wenig speichern, und gerade Holz konnte über größere Entfernungen rentabel nur begrenzt transportiert werden. Anders als in der Moderne mit ihrem weit entwickelten Verkehrssystem war schon deshalb der Durchbruch einer neuen Technik von ungleichmäßigen regionalen Bedingungen abhängig. Dementsprechend kann es als glücklicher Umstand gelten, dass in England um 1800 die für die Verhüttung geeignete Steinkohle dort gefunden wurde, wo auch Eisenerz vorkam; zusammen mit der Entwicklung der Dampfmaschine kommt dieser welthistorische Zufall, wenn überhaupt etwas, für den viel beredeten europäischen Sonderweg in die Moderne in Betracht.
Die Erst- und Nacherfindungen, Variationen und Diffusionen technischer Errungenschaften lassen sich im Mittelalter im globalen Maßstab nur schwer bewerten. Peinlich danebengegriffen haben allerdings die Humanisten, als sie Kompass, Schießpulver und Buchdruck als Leistungen ihrer eigenen Zeit und nicht, wie es korrekt gewesen wäre, der von ihnen geschmähten mittelalterlichen Vergangenheit zuschrieben. Alle drei Technologien hatten chinesische Vorläufer, ohne dass man sagen könnte, dass sie auch von ostasiatischen Vorbildern abhängig gewesen wären. Ähnlich verhält es sich mit der Technik zur Härtung von Roheisen zu Stahl, die bereits in der Han-Dynastie (um die Zeitenwende) angewandt und in Europa erst am Beginn der Industrialisierung eingeholt wurde, während der Westen in der Kreuzzugszeit von den Arabern bedeutende Angriffs- und Verteidigungswaffen und noch etwas früher die Architekturelemente von Spitzbogen und Rippengewölbe gelernt haben dürfte.
Die moderne Hochschätzung der Ersterfindung lenkt allerdings davon ab, dass es für die Technikgeschichte meist viel mehr auf die Weiterentwicklung und Verbreitung von Geräten und Verfahren ankam. So wurde Gutenbergs Erfindung gegenüber der fast tausend Jahre älteren Entwicklung der Chinesen zu einem welthistorischen Erfolg, weil die Vielzahl chinesischer Schriftzeichen der Massenproduktion von beweglichen Lettern im Wege stand und der in Asien praktizierte Blockdruck höhere gestalterische Ansprüche erfüllen sollte. Seit der Zeit der europäischen Antike kannten die Chinesen auch die Wassermühle, die aber wiederum, vermittelt durch römische Traditionen, erst als Getreidemühle im Mittelalter ihren Durchbruch erfuhr. Denn die "Vergetreidung" der Landwirtschaft, also der zunehmende Anbau von Weizen und Roggen auf Kosten der Viehzucht und zugunsten des Brot- statt des Breikonsums, verlangte Mahlwerke zur Mehlproduktion, während sich die Chinesen auf den Reisanbau konzentrierten. Namentlich im hohen Mittelalter konnte die Mühlentechnik, begünstigt auch durch den vermehrten Einsatz der Nockenwelle, zur Schlüsseltechnologie überhaupt werden: Sie entlastete die menschliche und tierische Arbeitskraft, gefährdete aber auch in Gestalt der Walkmühle Tausende von Arbeitsplätzen in der Textilherstellung.
Die Frage nach dem Motiv technologischer Entwicklungen oder Retardationen umkreist Popplow mit vorsichtigen Erwägungen. Manchmal mögen religiöse Vorbehalte wirksam gewesen sein, so, wenn im Islam nur das manuelle Kopieren des Korans als verdienstliches Werk galt und die Verbreitung des Buchdrucks unter den Osmanen behindert wurde. Unbeachtet ließ der Autor die schöne Idee von Hans Martin Klinkenberg, dass es weniger elementares somatisches Bedürfnis als die Freude am Spiel gewesen sei, die (häufig, gewiss nicht immer) zu technischen Neuerungen führte. Im Mittelalter selbst hat man sich über derlei Fragen den Kopf nicht zerbrochen. Umso wertvoller ist das Zeugnis von Empfehlungen, die der Autor eines Techniktraktats, wohl Mönch des hessischen Klosters Helmarshausen, um 1100 seinen Mitbrüdern gab: Der Leser sollte sich himmlischen Lohn "durch nützliche Handwerksarbeiten und erfreuliche Studien von Neuigkeiten" erwerben. Einheimische Produkte möge er nicht verachten, aber trotzdem schätzen, was bei der Wanderung durch die Kontinente oder über die Meere erfahren werden könne.
MICHAEL BORGOLTE
Marcus Popplow: "Technik im Mittelalter". Verlag C. H. Beck, München 2010. 128 S., Abb., br., 8,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Technikgeschichte und Mittelalter, wie das zusammengeht und Erkenntnis bringt, lässt sich Michael Borgolte von Marcus Popplow zeigen. Über die Unterschiede zwischen Vormoderne und Moderne (mündlich tradiertes Erfahrungswissen da, theoretisch-wissenschaftliche Beweisführung dort) lernt Borgolte in diesem Band, über die frühe Nutzung erneuerbarer und Muskelenergien und regionale Bedingungen, die den Durchbruch einer Technik begünstigten oder verhinderten. Wie konnte die Mühlentechnik zur Schlüsseltechnologie werden? Der Autor umkreist Entwicklungsmotive laut Borgolte vorsichtig erwägend, lässt zum Leid des Rezensenten allerdings die schöne Idee von der Freude am Spiel als Motiv unbeachtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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