Für die Romantiker ist der Tegernsee der Vorgarten zum Paradies. Für die Seelensucher gilt er als "ein Trost Gottes" - Papst Benedikt XVI. nannte die Landschaft einmal so. Für die Minnesänger des Mittelalters war er der Ort, wo die Liebesschlüssel auf dem Seegrund liegen. Für die Reichen und Mächtigen aus ganz Deutschland funkelt er über Jahrhunderte als ein habituelles und ästhetisches Accessoire ihres Glanzes. Für die Schriftsteller und Künstler ist er eine Sehnsucht zum Anfassen und für die Münchner der feinste Vorgarten, für Berliner zuweilen surrealer Kitsch, für Amerikaner das liebenswerte Deutschland. Die Magie des Tegernsees ist gewaltig, weiträumig ausstrahlend und jahrhunderteübergreifend. Viele nennen ihn den schönsten Flecken Deutschlands, weil die kraftvollen Berge, der farbenspielende See, die heiteren Biergärten, die dampfenden Auen, das Wasserglitzern, die Baumwipfel, die feist-fröhlichen Kühe, die geschnitzten Herrgottswinkel, die Kirchlein und das Schlosskloster sich malerisch so perfekt zusammenfügen, dass das Landschaftsensemble fast zu einer Ikone von idyllischer Schönheit geworden ist. Doch die ästhetische Harmonie des Idylls wird gerne missverstanden als ein lebendiges Klischee des Bajuwarisch-Romantischen, als ein Heidi-Fantasialand für verloren gegangene Heimaten. Das "Hier-ist-die-Welt-noch-in-Ordnung", das "Spinn i oder bin i jetzt im Himmi?", das "The Place to be. Do mog i hi" ist ein Abziehbild der Sehnsüchte. Es erklärt die innere Kraft des Tegernsees keineswegs, es vernebelt zuweilen gar den Blick auf das Eigentliche. Weder das Schöne noch das Idyllische enträtselt das Magische. Der Tegernsee hat mehr als die himmlische Zauberei seiner Landschaft und sein Heimatfilm-Narrativ. Er trägt auch eine irdische Fügung des Kulturellen in sich. Und die ist raffiniert. Der Tegernsee gehört zu Deutschland und ist doch kaum deutsch. Er ist religiös aufgeladen, hoch katholisch, doch leicht und heiter, diesseitig und selbstironisch. Dass aus dem hiesigen Benediktinerkloster die schönsten Liebesgedichte des Mittelalters kamen, legt Zeugnis ab von dieser besonderen Symbiose aus Form und Freiheit, aus Haltung und Herz. Der Tegernsee ist opulent sinnenfroh und zugleich clever kommerziant. Das Leben ist bäuerlich und doch kosmopolitisch, es ist ganz klein und ganz groß zugleich. Ein Faszinosum der verwobenen Vielfalt in einer scheinbar so definierten Fasson. Das Geheimnis liegt darum gerade im ganz Eigenen. Hier hat man das betörende Gefühl, ohne Pathos die ganze Welt zu umarmen. Der Tegernsee und seine Menschen strahlen eine enorme Kraft des Autonomen und Allumfassenden aus. Die Tegernseer sind außergewöhnlich selbstbewusst, und zwar im Wortsinne, sich ihrer Selbst bewusst zu sein. Tegernseer sind geborgen in ihrer Heimat, in kulturbewussten Denk- und Verhaltensweisen, in einer mittelständisch geprägten Leistungs- und Wettbewerbsethik. Sie haben sich den Erfolg aus eigener Kraft erarbeitet. Sie wissen um sich selbst. Kurzum: Sie haben Identitäten und damit ein kollektives Kleid des Selbstbewusstseins. Am Tegernsee gilt: Das Ethos des Machens erwächst aus der Gewissheit des Seins. Je schneller sich das Globalisierungskarussell dreht, desto mehr erweist sich der gefestigte kulturelle Unterbau einer Region als Kraftquell und Halt. Die Geborgenheit eines verwurzelten, selbstbewussten Bürger- und Bauerntums ist das entscheidende Erfolgskriterium. Der Philosoph Odo Marquard hat das einmal mit "Zukunft braucht Herkunft" umschrieben. Weil das Tegernseer Selbstbewusstsein von Herkunft zehrt, aber zur Zukunft hin lebt, trägt es auch keinen Zug falschen Stolzes, dazu wissen die Tegernseer zu genau um ihre Grenzen, wer sie nicht sind und was sie nicht haben. Es ist auch kein abweisendes Selbstbewusstsein, denn seit Jahrhunderten heißen die Tegernseer Millionen willkommen - so gastfreundlich ist der See wie kaum ein anderer Fleck Deutschlands. Und doch haben sie sich das Selbstbewusstsein in einem großen kulturellen Spiel innerer Freiheit und äußerer Tradition bewahrt. Wenn irgendwo die viel zitierte "Liberalitas Bavarica" zu Hause ist, dann hier. Dieser italienische Wind der Leichtigkeit weht herüber und umschmeichelt eine lederne Haltung, laute Meinung zu haben, aber gerne auch mal fünfe gerade sein zu lassen. Denn trotz Selbstbewusstseins, Haltung, Eigensinns, Grantlertums, Preußenskepsis und Traditionsbewusstseins, spürt man am Tegernsee diese tief verwurzelte Liberalität des Habituellen. Weil man sich selber stark in seiner Autonomie fühlt, respektiert man den anderen in der seinigen wie selbstverständlich. Der Neid ist hier kleiner als andernorts, das Schwächen-Verzeihen dafür größer als anderswo. Es liegt häufiger als anderswo ein Augenzwinkern in der Luft. Und so erzählten sich Tegernseer während der Covid-Pandemie und europaweit geschlossener Büros folgende Geschichte: Der Herrgott wurde mitten im Lockdown spaziergehender Weise am Tegernsee gesehen und gefragt: "Herr, was machst Du hier?" Die Antwort Gottes: "Homeoffice!"
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