Musils 'Epochenroman' laboriert an einem doppelten Paradox: Woran er die alte Welt festmacht, ist die Unwahrscheinlichkeit ihres Bestehens - ihr 'unzureichender Grund'. Und worin sich das Geschehen erfüllt, ist der Große Krieg - ein Ereignis, das sich mehrfach und immer dringlicher ankündigt, als narrativer Fluchtpunkt aber außerhalb des zu Musils Lebzeiten gedruckten Romans verbleibt. Man könnte deshalb glauben, es sei eine ganz bestimmte Agenda, die dem grund- und endlosen Erzählverlauf Kontur und Richtung gibt: die des Militärs. Doch tatsächlich nicht zu überlesen ist die Rolle der k.u.k. Administration. Diese nämlich erst schafft aus einer Gemengelage an Personen, Interessen und bürokratischen Eigendynamiken heraus jenes Verwaltungskonstrukt »Kakanien«, das sie trotz aller Widerstände und Widersprüche am Leben erhält; und dieselbe Administration ist es, die mittels vielgestaltiger Organisationseinheiten, Netzwerke und zahlloser Kommunikationskanäle die alte Welt auf Linie [nämlich die zum Krieg] und damit zum Verschwinden bringt. In der Bürokratie entfaltet sich das Paradox des MoE. Davon zeugt bereits die Entstehungsgeschichte des Romans: Ab Ende 1918 sollte der ehemalige Soldat und Verwaltungsbedienstete Musil im nun ebenso ehemaligen Kriegsministerium dessen Schriftgut in die Erste Republik überführen helfen. »Ich löse auf«, beschrieb er seine Tätigkeit; aber gerade dieses Amt der Liquidierung setzte ihn dazu imstande, Kakanien in der Erzählung auferstehen und zugleich Kapitel für Kapitel zerfallen zu lassen. Denn die gesichteten Aktenbestände belegten präzise, was das Romangeschehen manchmal offenkundig, immer aber untergründig ausrichtet: die prägende Rolle der Bürokratie, den Eigensinn ihres Schrift- und Parteienverkehrs - und die aus ihrer Rationalität der Selbsterhaltung heraus entstehende Möglichkeit, der alten Welt und dem eigenen Fortbestand zuletzt den Grund zu entziehen. Wie aber wird im MoE gerade die Bürokratie zum [zuweilen geheimen] Zentrum eines Erzählens von Epochengeltung?Die Verwaltung umkreist der Roman in seinen Kapiteln auf unterschiedlichste Art und Weise: es wird gezeigt, wie in Kakanien historisch ungleichzeitige Bürokratien aufeinander prallen, von der Kanzleikultur über den modernen Staatsapparat bis hin zur reform- und gewinnorientierten Geschäftsbürokratie; ein andermal geht es um die selbstreferentielle Rationalität und den eigentümlichen 'Geist' der Institution oder um den Habitus, das Amtsethos und die damit verknüpften privaten Leidenschaften ihrer Exponenten; und schließlich wird von Amts wegen ein Messianismus ausgemalt, der die fatalen Zeitläufte im »Fortwursteln« zum Halten bringt oder die Möglichkeit einer anderen Geschichte zumindest in der Schrift bewahrt; aufgerufen werden wiederholt administrative Kultur- und Medientechniken, vom Verhandeln und Entscheiden bis zur Aktenführung und -versendung; und schließlich verraten etliche Kapitel, wie versiert Musil selbst mit bürokratischen Organisationsverfahren zu navigieren wusste, als er sein uferloses Textmaterial auf den Kanzleipapieren einer untergegangenen Welt zum Roman disponierte. Um die Komplexität des MoE partiell und exemplarisch einzufangen, folgt auch dieser zweite Band der Reihe Teilweise Musil dem Verfahren essayistischer Kapitelkommentare: das Textgeschehen im Kleinen rückt er in jenen weiten Horizont, den Kakaniens alte Welt umschreibt.
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