Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2014Dekadente Fassade
Zwischen Party, Konsumterror und Sirenenalarm: In den Texten der israelischen Nachwuchsautorin
Julia Fermentto geht es um die dunklen Seiten ihrer Heimatstadt Tel Aviv
VON ANNA STEINBAUER
München – Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die im Club feiernden Jugendlichen als perfekt ausgebildete Scharfschützen. Und im Café an der Ecke gönnt sich der Selbstmordattentäter noch einen Schluck, bevor er sich in die Luft sprengt. Tel Aviv ist eine Blase. Das sagen zumindest die Einwohner über ihre Stadt. Der elegante Bauhausstil paart sich hier mit mediterranem Lebensflair, orthodoxe Juden leben neben Hipstern, Künstlern und muslimischen Großfamilien. Der immer wieder eskalierende Nahostkonflikt ist in der vermeintlich sicheren Partymetropole schnell vergessen. Unter der bunt schillernden Oberfläche verbirgt sich allerdings die ein oder andere abgründige Geschichte.
Diesen dunklen Seiten der Stadt widmete der israelische Schriftsteller Etgar Keret einen Kurzgeschichtenband. Zusammen mit seinem Kollegen Assaf Gavron gab er „Tel Aviv Noir“ heraus, in dem sich auch die Erzählung „Who’s a Good Boy!“ der israelischen Nachwuchsautorin Julia Fermentto befindet. Von der Tageszeitung Haaretz wurde sie nach dem Erscheinen ihres provokativen Debütromans „Safari“ 2011 als „die Stimme ihrer Generation“ gefeiert. Die Autorin wird am Donnerstag in der Galerie Munikat aus ihrem Werk lesen und die neue Veranstaltungsreihe „City Noir“ eröffnen. Der Musiker Benedikt Brachtel wird die Texte musikalisch begleiten. Alle zwei bis drei Monate will sich das Munikat-Team künftig gemeinsam mit der Theatermacherin Christine Milz mit der Struktur unterschiedlicher Stadträume befassen.
Tatsächlich schlägt Fermentto, die 1984 in der Nähe von Tel Aviv geboren wurde, einen ungewohnt direkten Ton an. In ihrem Roman beschreibt sie das aktuelle Lebensgefühl zwischen Party, Konsumterror und Sirenenalarm im gehypten Tel Aviv so treffend wie erschreckend. Als sie 2008 mit dem Schreiben begann, war gerade der zweite Libanonkrieg vorbei und Tel Aviv auf dem Höhepunkt der Dekadenz angelangt: „Die Leute machten die ganze Zeit Party und gaben viel Geld aus. Zum ersten Mal gab es die Hoffnung, ein normales Land zu sein, nicht immer dieser ewige Krisenherd.“, sagt die Autorin. So viel geändert hat sich nicht: „Tel Aviv tut so, als sei es eine Großstadt wie Berlin, Paris oder New York. Die Fassade sieht auch so aus: Partys, Restaurants, viele Menschen auf der Straße. Aber eigentlich ist Tel Aviv sehr provinziell. Wir sind in unserem Shithole im Nahen Osten und schauen aus wie Hipster“, sagt Fermentto.
Die Stadt ist die eigentliche Protagonistin in diesen Geschichten, die drastische und explizite Schilderungen von Sex, Drogen und Gewalt enthalten. „Tel Aviv hat diese Wunde, dass es keine Vergangenheit hat, es ist eine zeitlose Stadt. Einerseits sehr global, aber auf der anderen Seite können sich die Leute nicht verorten. Das macht es aber auch einzigartig und wild. “ Ungehemmt sind auch die beiden Heldinnen aus ihrer Tel-Aviv-Noir-Erzählung. Die beiden gelangweilten Oberschichtmädels streunen durch das nächtliche Tel Aviv, immer auf der Suche nach Alkohol, dem nächsten männlichen Opfer für bedeutungslosen Sex und anderen Obszönitäten. Zwei Fashion-Victims und Anarchistinnen, die sich um nichts scheren, am wenigsten um ihre Zukunft. Julia Fermentto vertritt mit ihren Geschichten einen neuen Feminismus in Israel, den man aus „Girls“ und „Feuchtgebiete“ kennt. Der Schriftstellerin, die ihr Drehbuchstudium an der Sam-Spiegel-Filmschule nach drei Jahren aufgab, waren ihre Protagonistinnen besonders wichtig: „Ich wollte coole Hauptfiguren haben, keine verzweifelten oder deprimierten Hausfrauen oder vergeistigte Akademikerinnen. Fuck, nein, ich wollte selbst die Heldin sein. Vielleicht mehr als die Schriftstellerin.“
Wahrscheinlich ist es die Perspektive des Lesers, die Fermentto stets mitdenkt, und die ihren Texte eine so eindringliche wie existenzielle Notwendigkeit verleiht. Mit der israelischen Literatur kann die lebhafte Fermentto nicht viel anfangen, besonders die Sprache ist ihr zu antiquiert: „Meine Protagonisten sprechen wie ich: trashig, grammatikalisch unkorrekt, und sie fluchen viel.“ In einer anderen israelischen Stadt könnten ihre Geschichten nicht spielen. Nur in Tel Aviv besitzt man diese Freiheit, das Leiden zu feiern.
Julia Fermentto – City Noir Tel Aviv , DJ Benedikt Brachtel, Donnerstag, 18. Dezember, 19.30 Uhr, Galerie Munikat, Gabelsbergerstr. 26
„Wir sind in unserem Shithole
im Nahen Osten und
schauen aus wie Hipster.“
Mit ihrem Roman und ihren Kurzgeschichten vertritt Julia Fermentto einen neuen Feminismus in Israel.
Foto: Yael Engelhart
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwischen Party, Konsumterror und Sirenenalarm: In den Texten der israelischen Nachwuchsautorin
Julia Fermentto geht es um die dunklen Seiten ihrer Heimatstadt Tel Aviv
VON ANNA STEINBAUER
München – Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die im Club feiernden Jugendlichen als perfekt ausgebildete Scharfschützen. Und im Café an der Ecke gönnt sich der Selbstmordattentäter noch einen Schluck, bevor er sich in die Luft sprengt. Tel Aviv ist eine Blase. Das sagen zumindest die Einwohner über ihre Stadt. Der elegante Bauhausstil paart sich hier mit mediterranem Lebensflair, orthodoxe Juden leben neben Hipstern, Künstlern und muslimischen Großfamilien. Der immer wieder eskalierende Nahostkonflikt ist in der vermeintlich sicheren Partymetropole schnell vergessen. Unter der bunt schillernden Oberfläche verbirgt sich allerdings die ein oder andere abgründige Geschichte.
Diesen dunklen Seiten der Stadt widmete der israelische Schriftsteller Etgar Keret einen Kurzgeschichtenband. Zusammen mit seinem Kollegen Assaf Gavron gab er „Tel Aviv Noir“ heraus, in dem sich auch die Erzählung „Who’s a Good Boy!“ der israelischen Nachwuchsautorin Julia Fermentto befindet. Von der Tageszeitung Haaretz wurde sie nach dem Erscheinen ihres provokativen Debütromans „Safari“ 2011 als „die Stimme ihrer Generation“ gefeiert. Die Autorin wird am Donnerstag in der Galerie Munikat aus ihrem Werk lesen und die neue Veranstaltungsreihe „City Noir“ eröffnen. Der Musiker Benedikt Brachtel wird die Texte musikalisch begleiten. Alle zwei bis drei Monate will sich das Munikat-Team künftig gemeinsam mit der Theatermacherin Christine Milz mit der Struktur unterschiedlicher Stadträume befassen.
Tatsächlich schlägt Fermentto, die 1984 in der Nähe von Tel Aviv geboren wurde, einen ungewohnt direkten Ton an. In ihrem Roman beschreibt sie das aktuelle Lebensgefühl zwischen Party, Konsumterror und Sirenenalarm im gehypten Tel Aviv so treffend wie erschreckend. Als sie 2008 mit dem Schreiben begann, war gerade der zweite Libanonkrieg vorbei und Tel Aviv auf dem Höhepunkt der Dekadenz angelangt: „Die Leute machten die ganze Zeit Party und gaben viel Geld aus. Zum ersten Mal gab es die Hoffnung, ein normales Land zu sein, nicht immer dieser ewige Krisenherd.“, sagt die Autorin. So viel geändert hat sich nicht: „Tel Aviv tut so, als sei es eine Großstadt wie Berlin, Paris oder New York. Die Fassade sieht auch so aus: Partys, Restaurants, viele Menschen auf der Straße. Aber eigentlich ist Tel Aviv sehr provinziell. Wir sind in unserem Shithole im Nahen Osten und schauen aus wie Hipster“, sagt Fermentto.
Die Stadt ist die eigentliche Protagonistin in diesen Geschichten, die drastische und explizite Schilderungen von Sex, Drogen und Gewalt enthalten. „Tel Aviv hat diese Wunde, dass es keine Vergangenheit hat, es ist eine zeitlose Stadt. Einerseits sehr global, aber auf der anderen Seite können sich die Leute nicht verorten. Das macht es aber auch einzigartig und wild. “ Ungehemmt sind auch die beiden Heldinnen aus ihrer Tel-Aviv-Noir-Erzählung. Die beiden gelangweilten Oberschichtmädels streunen durch das nächtliche Tel Aviv, immer auf der Suche nach Alkohol, dem nächsten männlichen Opfer für bedeutungslosen Sex und anderen Obszönitäten. Zwei Fashion-Victims und Anarchistinnen, die sich um nichts scheren, am wenigsten um ihre Zukunft. Julia Fermentto vertritt mit ihren Geschichten einen neuen Feminismus in Israel, den man aus „Girls“ und „Feuchtgebiete“ kennt. Der Schriftstellerin, die ihr Drehbuchstudium an der Sam-Spiegel-Filmschule nach drei Jahren aufgab, waren ihre Protagonistinnen besonders wichtig: „Ich wollte coole Hauptfiguren haben, keine verzweifelten oder deprimierten Hausfrauen oder vergeistigte Akademikerinnen. Fuck, nein, ich wollte selbst die Heldin sein. Vielleicht mehr als die Schriftstellerin.“
Wahrscheinlich ist es die Perspektive des Lesers, die Fermentto stets mitdenkt, und die ihren Texte eine so eindringliche wie existenzielle Notwendigkeit verleiht. Mit der israelischen Literatur kann die lebhafte Fermentto nicht viel anfangen, besonders die Sprache ist ihr zu antiquiert: „Meine Protagonisten sprechen wie ich: trashig, grammatikalisch unkorrekt, und sie fluchen viel.“ In einer anderen israelischen Stadt könnten ihre Geschichten nicht spielen. Nur in Tel Aviv besitzt man diese Freiheit, das Leiden zu feiern.
Julia Fermentto – City Noir Tel Aviv , DJ Benedikt Brachtel, Donnerstag, 18. Dezember, 19.30 Uhr, Galerie Munikat, Gabelsbergerstr. 26
„Wir sind in unserem Shithole
im Nahen Osten und
schauen aus wie Hipster.“
Mit ihrem Roman und ihren Kurzgeschichten vertritt Julia Fermentto einen neuen Feminismus in Israel.
Foto: Yael Engelhart
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