Eine wundervolle Liebeserklärung an eine wunderliche Stadt voller Geschichte und Geschichten, Begegnungen und Hinweisen. Wir begegnen unter vielen anderen Herren Simon, verwitwetem Opernfan, Rezeptionist im Hotel Nordau, grundgütiger Auschwitz-Überlebender, der den Autor und seine Tel-Aviver Club-Freunde - äthiopisch-irakisch-weißrussisch-argentinisch-stämmige Juden und Araber - mit seinen Erinnerungen derart fesselt, dass sie vergessen, am Morgen nach der Party zum Strand zu gehen und stattdessen atemlos lauschen, wie in der schnelllebigen Stadt die Zeit rückwärts zu laufen scheint; wir besuchen die Strände der Stadt von Süd nach Nord - vom biblischen Jaffa, Heimat des ungehorsamen Propheten Jona, bis zum Strand der Orthodoxen, wo tagsüber ganzkörper-bekleidete Frauen und bärtige Männer baden, der in den Sommernächten aber zu einem fröhlichen Orgien-Raum wird. Hier am Strand wurde 1948 ein junger Offizier namens Yitzhak Rabin Augenzeuge, wie auf ein Schiff mit jüdischen Extremisten gefeuert wurde, auf dem sich auch Menachim Begin befand. Auch heute gibt es hier Geschichten zuhauf - erzählt von den Urenkeln der Exodus-Passagiere, den Kindern äthiopischer Einwanderer, von thailändischen und philippinischen Krankenpflegerinnen, französischen Juden und israelischen Arabern, die hier angstfrei existieren können; wir tauchen ein in das legendäre Nachtleben, das Tel Aviv zu einem weltweiten »Hotspot« macht, bekommen Antworten auf Fragen wie weshalb gab Yossi Sarid, einst prominenter linksliberaler Oppositionsführer im Parlament, die Politik auf, und veröffentlicht stattdessen Bücher und Kommentare, in denen er sich um die Zukunft seiner Stadt sorgt? Und schließlich: Wer ist der alte weißhaarige Taxifahrer, der bei rasanter Fahrt und offenem Fenster »It´s now or never« singt und bei Wohlgefallen am Ende für 5 Euro eine selbstgebrannte CD nach hinten reicht? Das ist Yuri Cohen, in den fünfziger Jahren »The Israeli Elvis«. Danach abgestürzt, aber wie alle in dieser Stadt ein Genie des Wiederaufstehens; und nehmen teil an Marko MartinsFiedens-Initiativen: Erotischen Begegnungen, die Dank seiner Präsenz Juden und Araber, Eriträer und Aschkenasim usw. zusammenbrachten, komische Momente inklusive. Tel Aviv ist mehr als eine Stadt - Tel Aviv ist ein schräger Kosmos. Marko Martin, bester Kenner dieses globalen »hot spots«, nimmt uns mit auf seiner Stadttour der besonderen Art.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2016Ausschweifungen zwischen Club und Meer
Tel Aviv ist die Partymetropole des Nahen Ostens - auch das. Und so findet sich in Marko Martins Buch über die Stadt selbstredend ein Kapitel über das Nachtleben: "Meine Clubs". Aber, fragt der Autor: "Wie denn ausschweifen, wenn man auf der überfüllten Tanzfläche schwitzend stramm zu stehen hat?" Was für ihn "in einer Region gewaltbereiter Identitätsvergottung" Tel Aviv von allen anderen Städten unterscheidet, ist eine Lebenslust, die sich im Hedonismus manifestiert, darin aber nicht erschöpft. Es sind deshalb eher die Gespräche am Strand oder in kleinen Hotels, im Anschluss an die Club-Besuche, die Marko Martin interessieren. Meist changieren sie hier, wo Vitalität und das Wissen um die abrupte Endlichkeit menschlicher Existenz unmittelbar aufeinandertreffen, zwischen Daseinsjubel und selbstkritischer Reflexion, auch im Politischen. Da mangelt es weder an Skepsis noch Kritik. Dennoch macht Marko Martin in Kapiteln wie "Meine Hotels", "Meine Strände" oder "Meine Kollegen" kein Hehl aus seiner Liebe für Tel Aviv - gerade weil die säkular-liberale Stadt eine solch unwahrscheinliche Ausnahme ist. Davon profitieren auch die jungen Araber, die Marko Martin trifft. Ausgerechnet in einer Metropole, erbaut und besiedelt von jüdischen Flüchtlingen, können sie ihre Individualität ungleich besser verteidigen als in ihren Herkunftsdörfern unter der Aufsicht familiärer Clans. Den Texten sind großformatig Schwarzweißbilder des Hamburger Fotografen Rainer Groothuis zur Seite gestellt. Sie zeigen unter anderem verwitterte Gebäude aus der Osmanen- oder Bauhaus-Zeit.
F.A.Z.
"Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt" von Marko Martin (Text) und Rainer Groothuis (Fotos). Corso Verlag, Hamburg 2016. 156 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tel Aviv ist die Partymetropole des Nahen Ostens - auch das. Und so findet sich in Marko Martins Buch über die Stadt selbstredend ein Kapitel über das Nachtleben: "Meine Clubs". Aber, fragt der Autor: "Wie denn ausschweifen, wenn man auf der überfüllten Tanzfläche schwitzend stramm zu stehen hat?" Was für ihn "in einer Region gewaltbereiter Identitätsvergottung" Tel Aviv von allen anderen Städten unterscheidet, ist eine Lebenslust, die sich im Hedonismus manifestiert, darin aber nicht erschöpft. Es sind deshalb eher die Gespräche am Strand oder in kleinen Hotels, im Anschluss an die Club-Besuche, die Marko Martin interessieren. Meist changieren sie hier, wo Vitalität und das Wissen um die abrupte Endlichkeit menschlicher Existenz unmittelbar aufeinandertreffen, zwischen Daseinsjubel und selbstkritischer Reflexion, auch im Politischen. Da mangelt es weder an Skepsis noch Kritik. Dennoch macht Marko Martin in Kapiteln wie "Meine Hotels", "Meine Strände" oder "Meine Kollegen" kein Hehl aus seiner Liebe für Tel Aviv - gerade weil die säkular-liberale Stadt eine solch unwahrscheinliche Ausnahme ist. Davon profitieren auch die jungen Araber, die Marko Martin trifft. Ausgerechnet in einer Metropole, erbaut und besiedelt von jüdischen Flüchtlingen, können sie ihre Individualität ungleich besser verteidigen als in ihren Herkunftsdörfern unter der Aufsicht familiärer Clans. Den Texten sind großformatig Schwarzweißbilder des Hamburger Fotografen Rainer Groothuis zur Seite gestellt. Sie zeigen unter anderem verwitterte Gebäude aus der Osmanen- oder Bauhaus-Zeit.
F.A.Z.
"Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt" von Marko Martin (Text) und Rainer Groothuis (Fotos). Corso Verlag, Hamburg 2016. 156 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 28 Euro.
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