Nach der Bildbiographie "a komma punkt" hat Klaus Siblewski nun ein spätes Porträt von Ernst Jandl anhand der Telefongespräche aus den Jahren vor seinem Tod vorgelegt. Das Telefon war das einzige Medium, mit dem Jandl noch Kontakt nach außen halten konnte. Gesprochen wurde über alles, und es zeigte sich immer deutlicher, unter welchen Bedingungen Jandl ein Leben lang arbeitete. Eine Erinnerung an einen der größten Lyriker des 20. Jahrhunderts.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2002Sprechmuschel
Ernst Jandls Leben in
lauter Telefongesprächen
Es kann nicht einfach gewesen sein, mit dem Dichter Ernst Jandl am Telefon zu konferieren. Denn das Genaunehmen gehörte zu seinen Methoden, und das erforderte Nachdruck zur Überwindung der Distanz. Zugleich muss es ein Vergnügen gewesen sein, an den fernmündlichen Mini-Dramen teilzuhaben, die dabei zuweilen entstanden. Etwa über die genauestens um- und umgewendete Frage, ob eine für den 19. September 98 verabredete Lesung in Bielefeld stattfinden könne. Glücklicherweise, wird die Sache positiv entschieden, doch leider: „... falle ihm eben erst auf, also jetzt, während er rede, dass der 19. ja heute sei”. Oder über das Problem der überbordenen Wortergießungen in die Sprechmuschel: „... mein Gott, ob ich ihm sagen könne, wovon er rede, und warum er das alles eigentlich sage? Er leide im Moment an Logorrhö ... Und wenn er sich überlege, was genau ihm derart zusetze, dass er unentwegt sprechen müsse, dann müsse er sagen, es seien die Verhältnisse.”
Das Telefon wurde seit der Mitte der neunziger Jahre zu „dem Medium Ernst Jandls”. So berichtet sein Lektor und Herausgeber Klaus Siblewski. Auf der Basis genauer Notizen hat er nun das Bändchen „Telefongespräche mit Ernst Jandl” – man darf vermuten: – herausgearbeitet. Der Form nach schlichtweg eine Reihe von Gesprächsprotokollen, präsentiert sich das Ganze dennoch als „Ein Porträt”. Kühn, möchte man anfangs meinen, und hat dann doch schon nach wenigen Seiten einen leibhaftigen Jandl vor Augen, oder besser: im Ohr.
Siblewski verzichtet auf jegliche Ausmalungen, statt dessen hält er die Wendungen und Windungen des zunehmend von Krankheit und Einsamkeit Geplagten so stilgemäß fest, dass sie beachtliche Evokationskraft entwickeln. Ganz abgesehen davon bietet das Buch ein Stenogramm von Jandls letzten Lebensjahren. Nur wie ein Nebengeräusch macht sich zunächst der Kampf gegen das zurückweichende Leben bemerkbar, bis er immer vernehmlicher wird. „Wie das Sterben geschehe, ob sich daraus ein Gedicht machen lasse? Zuerst verabschiede sich die Hand vom Fuß, dann der Arm vom Knie, der Kopf von den Beinen, der Rücken von der Brust, die Schultern vom Becken, das Herz von den Augen und dann, dann zerfalle das Ich.”
EBERHARD FALCKE
KLAUS SIBLEWSKI: Telefongespräche mit Ernst Jandl. Ein Porträt. Sammlung Luchterhand, München 2001. 192 Seiten, 9,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ernst Jandls Leben in
lauter Telefongesprächen
Es kann nicht einfach gewesen sein, mit dem Dichter Ernst Jandl am Telefon zu konferieren. Denn das Genaunehmen gehörte zu seinen Methoden, und das erforderte Nachdruck zur Überwindung der Distanz. Zugleich muss es ein Vergnügen gewesen sein, an den fernmündlichen Mini-Dramen teilzuhaben, die dabei zuweilen entstanden. Etwa über die genauestens um- und umgewendete Frage, ob eine für den 19. September 98 verabredete Lesung in Bielefeld stattfinden könne. Glücklicherweise, wird die Sache positiv entschieden, doch leider: „... falle ihm eben erst auf, also jetzt, während er rede, dass der 19. ja heute sei”. Oder über das Problem der überbordenen Wortergießungen in die Sprechmuschel: „... mein Gott, ob ich ihm sagen könne, wovon er rede, und warum er das alles eigentlich sage? Er leide im Moment an Logorrhö ... Und wenn er sich überlege, was genau ihm derart zusetze, dass er unentwegt sprechen müsse, dann müsse er sagen, es seien die Verhältnisse.”
Das Telefon wurde seit der Mitte der neunziger Jahre zu „dem Medium Ernst Jandls”. So berichtet sein Lektor und Herausgeber Klaus Siblewski. Auf der Basis genauer Notizen hat er nun das Bändchen „Telefongespräche mit Ernst Jandl” – man darf vermuten: – herausgearbeitet. Der Form nach schlichtweg eine Reihe von Gesprächsprotokollen, präsentiert sich das Ganze dennoch als „Ein Porträt”. Kühn, möchte man anfangs meinen, und hat dann doch schon nach wenigen Seiten einen leibhaftigen Jandl vor Augen, oder besser: im Ohr.
Siblewski verzichtet auf jegliche Ausmalungen, statt dessen hält er die Wendungen und Windungen des zunehmend von Krankheit und Einsamkeit Geplagten so stilgemäß fest, dass sie beachtliche Evokationskraft entwickeln. Ganz abgesehen davon bietet das Buch ein Stenogramm von Jandls letzten Lebensjahren. Nur wie ein Nebengeräusch macht sich zunächst der Kampf gegen das zurückweichende Leben bemerkbar, bis er immer vernehmlicher wird. „Wie das Sterben geschehe, ob sich daraus ein Gedicht machen lasse? Zuerst verabschiede sich die Hand vom Fuß, dann der Arm vom Knie, der Kopf von den Beinen, der Rücken von der Brust, die Schultern vom Becken, das Herz von den Augen und dann, dann zerfalle das Ich.”
EBERHARD FALCKE
KLAUS SIBLEWSKI: Telefongespräche mit Ernst Jandl. Ein Porträt. Sammlung Luchterhand, München 2001. 192 Seiten, 9,50 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2001Hosi und Anna, Auge und Ohr
Der den Schlurf haßte: Klaus Siblewski porträtiert Ernst Jandl
Nach vielen Artikeln und einigen Dissertationen gibt es nun ein kompaktes und wohlausgestattetes Buch über Ernst Jandls ganzes Leben und alle seine Arbeiten - endlich. Nur der melancholische Gedanke an Jandls Tod am 29. Juni 2000 dämpft meine Freude daran. Klaus Siblewski, Jandls Freund und loyaler Herausgeber seiner Werke, beginnt seine Publikation im Präsens, als ob Jandl noch unter uns weilte, und schließt mit einer letzten Zeile, welche die Gegenwart seiner Poesie akzentuiert, aber das ist etwas ganz anderes. Eine Biographie, die in sieben selbständigen und chronologisch doch sinnvollen Kapiteln über Jandls Familie berichtet, den Krieg, die wechselvolle Partnerschaft mit Friederike Mayröcker, über das literarische Experiment, Jandls Lesungen, über Autobiographisches und Musikalisches; und zuletzt noch ein Interview über das Altern, das letzte, das Jandl gab. Siblewski legt es nicht darauf an, den Poeten psychoanalytisch oder anders zu entblößen, er will ihn verstehen; und ich muß gestehen, daß ich manchmal dem Text vorausblätterte, um mir ja die vielen Photographien, Snapshots und Materialien genauer anzuschauen, die niemand missen möchte - die brave Familie in der Sommerfrische, der junge Landser zur Infanterieausbildung in Olmütz (von wo aus er prompt nach Brünn reiste, um sich dort ein tschechisches Jazzkonzert anzuhören), sein Londoner Kollege Erich Fried mit hochgekämmtem Haarschopf, Sommerliches mit Frau Mayröcker, der Gymnasialprofessor, und Poet dazu, mit seiner Klasse, Bild für Bild, der gefeierte Autor vor den Mikrophonen (fünfzehn und mehr Literaturpreise), aber das einstige Lächeln immer dünner und dünner, und dann die fragenden Augen des vereinsamten alten Mannes. Da kommt vieles zusammen; Historisches, Intimes, Sachliches und Rührendes, und ich kann mich der Anziehungskraft dieses komplizierten und arglosen Lebens nicht verweigern.
Siblewski gelingt es mit Geschick und Takt, Jandls "tangentiales" oder gar dorniges Verhältnis zur Wiener Gruppe der Avantgardisten zu klären (soweit das im Dschungel der Kaffeehäuser und Cliquen überhaupt möglich ist). Sie war ihm, dem strebsamen Neuphilologen, ebenso fremd wie er seinerseits den Erneuerern des assoziativen Surrealismus in der Strohkoffer-Bar; ohne die freundlichsten Gespräche mit Gerhard Rühm oder H. C. Artmann zu scheuen (der aus Bratislava kommende Lyriker Andreas Okopenko war ihm doch lieber), beteiligte er sich nicht an den Veranstaltungen der Gruppe oder wurde gar, wie Siblewski meint, von ihr "boykottiert", weil er ihr zu bieder war - so wandte er sich in die Bundesrepublik, geriet dort zu seinem Glück an Reinhard Döhl, Eugen Gomringer und Walter Höllerer und begann dort seine frühen Lesungen. Der Biograph begnügt sich damit, Jandls bundesdeutschen Kontakten mit Verlegern und Kritikern nachzugehen, und die Frage bleibt offen, wie und warum Jandl von der internationalen Welle öffentlicher Lyrikrezitationen erfaßt wurde, von Jewtuschenko über die deutsche Studentenbewegung bis zur Performance Art im New Yorker Village. Er war damals der liebe Augustin einer akademischen Protestbewegung, die große (illusionäre) Hoffnungen auf die alles verändernde gesellschaftliche Wirkung einer ungewöhnlichen Poesie setzte, und er blieb seiner öffentlichen Rolle auch noch später treu, als die jungen Leute vor allem "Ottos Mops" und "Hosi und Anna" hören wollten.
Siblewski tut gut daran, uns das Argument vom politischen Jandl nicht neuerlich aufzuzwingen, das vor zwanzig Jahren aus Gründen des Marktes unerläßlich war. Er bemerkt, der Krieg hätte Jandl "zu jener Radikalität geführt, die seine Literatur insgesamt auszeichnet", aber man könnte einwenden, daß Jandls poetische Radikalität seiner politischen immer um drei Längen voraus war. Seine politischen Ideen gegen Gewalt, die Mächtigen und die Schurken, sind ebenso zugänglich wie allgemein (ungefähr Al Gore), Fragen über Nationalwirtschaft oder den Sozialismus haben ihn nie bedrängt, und seine beliebtesten Politlesebuchgedichte, geschrieben viele Jahrzehnte nach den Ereignissen, haben (wie Siblewski bestätigt) ihren soliden Grund in der literarischen Erfahrung oder eigentlich einer Lyrikanthologie von 1926, die dem aufmerksamen Gymnasiasten in die Hände fiel, mit einigen Gedichten von Wilhelm Klemm, August Stramm und Johannes R. Becher.
Sein "schtzngrmm" komprimiert das akustische Material des Frühexpressionisten Klemm, um so eingängiger, als ja der Schützengraben ein Emblem des Ersten Weltkrieges war und nicht das Zweiten mit seinen blitzhaften Interventionen, Luftlandungen und beweglichen Tankoffensiven. Gewiß: "Heldenplatz" ist Jandls mutigstes Gedicht, denn es blickt ungerührt in den tiefsten Abgrund der neueren österreichischen Geschichte, und ich mindere seine Bedeutung nicht, wenn ich glaube, daß es sich an Johannes R. Bechers Verb-Kontaminationen entzündet hat, poetische Energie an poetischer Energie, quer durch die Unzeiten. Mir wäre wohler zumute, wenn Siblewski seiner eigenen Sprache ähnliche Aufmerksamkeit widmete wie der seines Autors. Zumindest dort, wo er berichtet, daß der Gymnasiast nicht das ganze Ausmaß der neuen Anordnungen nach dem Anschluß kennenlernte, weil er "die Säuberung der Klassen von den jüdischen Mitschülern nicht mehr ganz erlebte, da nach seinem Schulwechsel ungefähr ein Drittel der Schüler seiner Klasse bereits ausgesondert" worden war. Ich zählte damals, wenn auch anderswo, zu den "Gesäuberten" und "Ausgesonderten" und setze die einstige Terminologie lieber in distanzierende Anführungszeichen.
Siblewskis Biographie führt uns vor Augen, wie Jandl in Leben und Arbeit zwischen Ordnung und Chaos (ein wenig theatralisch ausgedrückt) schwebte, trotz allem Pragmatismus also ein diskreter Romantiker. Seine penible Abneigung gegen den "Schlurf" (den Wiener Typ des langhaarigen Plebejers, schon im Zweiten Weltkrieg) war ebenso charakteristisch für ihn wie sein Mißtrauen gegen alles Poetische in Nachtlokalen und die lange Treue zu Schlips und Sakko, das er sich erst spät abzulegen bequemte. Er war ein lyrischer Aufwiegler mit dem Aktenordner im Kopf und im Gepäck (so erlebte ich ihn in der Berliner Akademie), der letzte k.u.k. Bürokrat, der endlose Listen anlegte (viele bei Siblewski zu sehen), um ja nicht, in seinen alltäglichen Vorhaben, eines oder das andere zu vergessen. Merkwürdig: Franz Mon oder Eugen Gomringer waren, in ihren engeren Sphären, radikaler als er, aber es gelang ihm wie einst Kurt Schwitters, die öffentlichen Sympathien auf sich zu ziehen und mit seiner vielgefächerten Produktion als einer Augen- und Ohrenweide quer durch die Gattungen und die Medien zu wirken, in die vielen Schallplatten, die Tonbänder und in die Elektronik. Yahoo und Alta Vista bieten mir jetzt vierhundertundfünfzig Ernst-Jandl-Web-Pages an, und so beginnt er glücklicher denn je zu überleben, in einem demokratischen und unstofflichen Element.
PETER DEMETZ
Klaus Siblewski: "a komma punkt. Ernst Jandl. Ein Leben in Texten und Bildern". Luchterhand Literaturverlag, München 2000. 215 S., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der den Schlurf haßte: Klaus Siblewski porträtiert Ernst Jandl
Nach vielen Artikeln und einigen Dissertationen gibt es nun ein kompaktes und wohlausgestattetes Buch über Ernst Jandls ganzes Leben und alle seine Arbeiten - endlich. Nur der melancholische Gedanke an Jandls Tod am 29. Juni 2000 dämpft meine Freude daran. Klaus Siblewski, Jandls Freund und loyaler Herausgeber seiner Werke, beginnt seine Publikation im Präsens, als ob Jandl noch unter uns weilte, und schließt mit einer letzten Zeile, welche die Gegenwart seiner Poesie akzentuiert, aber das ist etwas ganz anderes. Eine Biographie, die in sieben selbständigen und chronologisch doch sinnvollen Kapiteln über Jandls Familie berichtet, den Krieg, die wechselvolle Partnerschaft mit Friederike Mayröcker, über das literarische Experiment, Jandls Lesungen, über Autobiographisches und Musikalisches; und zuletzt noch ein Interview über das Altern, das letzte, das Jandl gab. Siblewski legt es nicht darauf an, den Poeten psychoanalytisch oder anders zu entblößen, er will ihn verstehen; und ich muß gestehen, daß ich manchmal dem Text vorausblätterte, um mir ja die vielen Photographien, Snapshots und Materialien genauer anzuschauen, die niemand missen möchte - die brave Familie in der Sommerfrische, der junge Landser zur Infanterieausbildung in Olmütz (von wo aus er prompt nach Brünn reiste, um sich dort ein tschechisches Jazzkonzert anzuhören), sein Londoner Kollege Erich Fried mit hochgekämmtem Haarschopf, Sommerliches mit Frau Mayröcker, der Gymnasialprofessor, und Poet dazu, mit seiner Klasse, Bild für Bild, der gefeierte Autor vor den Mikrophonen (fünfzehn und mehr Literaturpreise), aber das einstige Lächeln immer dünner und dünner, und dann die fragenden Augen des vereinsamten alten Mannes. Da kommt vieles zusammen; Historisches, Intimes, Sachliches und Rührendes, und ich kann mich der Anziehungskraft dieses komplizierten und arglosen Lebens nicht verweigern.
Siblewski gelingt es mit Geschick und Takt, Jandls "tangentiales" oder gar dorniges Verhältnis zur Wiener Gruppe der Avantgardisten zu klären (soweit das im Dschungel der Kaffeehäuser und Cliquen überhaupt möglich ist). Sie war ihm, dem strebsamen Neuphilologen, ebenso fremd wie er seinerseits den Erneuerern des assoziativen Surrealismus in der Strohkoffer-Bar; ohne die freundlichsten Gespräche mit Gerhard Rühm oder H. C. Artmann zu scheuen (der aus Bratislava kommende Lyriker Andreas Okopenko war ihm doch lieber), beteiligte er sich nicht an den Veranstaltungen der Gruppe oder wurde gar, wie Siblewski meint, von ihr "boykottiert", weil er ihr zu bieder war - so wandte er sich in die Bundesrepublik, geriet dort zu seinem Glück an Reinhard Döhl, Eugen Gomringer und Walter Höllerer und begann dort seine frühen Lesungen. Der Biograph begnügt sich damit, Jandls bundesdeutschen Kontakten mit Verlegern und Kritikern nachzugehen, und die Frage bleibt offen, wie und warum Jandl von der internationalen Welle öffentlicher Lyrikrezitationen erfaßt wurde, von Jewtuschenko über die deutsche Studentenbewegung bis zur Performance Art im New Yorker Village. Er war damals der liebe Augustin einer akademischen Protestbewegung, die große (illusionäre) Hoffnungen auf die alles verändernde gesellschaftliche Wirkung einer ungewöhnlichen Poesie setzte, und er blieb seiner öffentlichen Rolle auch noch später treu, als die jungen Leute vor allem "Ottos Mops" und "Hosi und Anna" hören wollten.
Siblewski tut gut daran, uns das Argument vom politischen Jandl nicht neuerlich aufzuzwingen, das vor zwanzig Jahren aus Gründen des Marktes unerläßlich war. Er bemerkt, der Krieg hätte Jandl "zu jener Radikalität geführt, die seine Literatur insgesamt auszeichnet", aber man könnte einwenden, daß Jandls poetische Radikalität seiner politischen immer um drei Längen voraus war. Seine politischen Ideen gegen Gewalt, die Mächtigen und die Schurken, sind ebenso zugänglich wie allgemein (ungefähr Al Gore), Fragen über Nationalwirtschaft oder den Sozialismus haben ihn nie bedrängt, und seine beliebtesten Politlesebuchgedichte, geschrieben viele Jahrzehnte nach den Ereignissen, haben (wie Siblewski bestätigt) ihren soliden Grund in der literarischen Erfahrung oder eigentlich einer Lyrikanthologie von 1926, die dem aufmerksamen Gymnasiasten in die Hände fiel, mit einigen Gedichten von Wilhelm Klemm, August Stramm und Johannes R. Becher.
Sein "schtzngrmm" komprimiert das akustische Material des Frühexpressionisten Klemm, um so eingängiger, als ja der Schützengraben ein Emblem des Ersten Weltkrieges war und nicht das Zweiten mit seinen blitzhaften Interventionen, Luftlandungen und beweglichen Tankoffensiven. Gewiß: "Heldenplatz" ist Jandls mutigstes Gedicht, denn es blickt ungerührt in den tiefsten Abgrund der neueren österreichischen Geschichte, und ich mindere seine Bedeutung nicht, wenn ich glaube, daß es sich an Johannes R. Bechers Verb-Kontaminationen entzündet hat, poetische Energie an poetischer Energie, quer durch die Unzeiten. Mir wäre wohler zumute, wenn Siblewski seiner eigenen Sprache ähnliche Aufmerksamkeit widmete wie der seines Autors. Zumindest dort, wo er berichtet, daß der Gymnasiast nicht das ganze Ausmaß der neuen Anordnungen nach dem Anschluß kennenlernte, weil er "die Säuberung der Klassen von den jüdischen Mitschülern nicht mehr ganz erlebte, da nach seinem Schulwechsel ungefähr ein Drittel der Schüler seiner Klasse bereits ausgesondert" worden war. Ich zählte damals, wenn auch anderswo, zu den "Gesäuberten" und "Ausgesonderten" und setze die einstige Terminologie lieber in distanzierende Anführungszeichen.
Siblewskis Biographie führt uns vor Augen, wie Jandl in Leben und Arbeit zwischen Ordnung und Chaos (ein wenig theatralisch ausgedrückt) schwebte, trotz allem Pragmatismus also ein diskreter Romantiker. Seine penible Abneigung gegen den "Schlurf" (den Wiener Typ des langhaarigen Plebejers, schon im Zweiten Weltkrieg) war ebenso charakteristisch für ihn wie sein Mißtrauen gegen alles Poetische in Nachtlokalen und die lange Treue zu Schlips und Sakko, das er sich erst spät abzulegen bequemte. Er war ein lyrischer Aufwiegler mit dem Aktenordner im Kopf und im Gepäck (so erlebte ich ihn in der Berliner Akademie), der letzte k.u.k. Bürokrat, der endlose Listen anlegte (viele bei Siblewski zu sehen), um ja nicht, in seinen alltäglichen Vorhaben, eines oder das andere zu vergessen. Merkwürdig: Franz Mon oder Eugen Gomringer waren, in ihren engeren Sphären, radikaler als er, aber es gelang ihm wie einst Kurt Schwitters, die öffentlichen Sympathien auf sich zu ziehen und mit seiner vielgefächerten Produktion als einer Augen- und Ohrenweide quer durch die Gattungen und die Medien zu wirken, in die vielen Schallplatten, die Tonbänder und in die Elektronik. Yahoo und Alta Vista bieten mir jetzt vierhundertundfünfzig Ernst-Jandl-Web-Pages an, und so beginnt er glücklicher denn je zu überleben, in einem demokratischen und unstofflichen Element.
PETER DEMETZ
Klaus Siblewski: "a komma punkt. Ernst Jandl. Ein Leben in Texten und Bildern". Luchterhand Literaturverlag, München 2000. 215 S., geb., 78,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit Ernst Jandl zu telefonieren, muss ebenso schön wie anstrengend gewesen sein, vermutet Eberhard Falcke, da Jandl eine Person war, die alles sehr genau nahm. Sein Herausgeber Siblewski musste naturgemäß häufiger mit ihm telefonieren und hat diese "fernmündlichen Mini-Dramen" auf der Basis von Gesprächsnotizen (ob seiner eigenen oder Jandls, bleibt offen) erarbeitet. Die Gesprächsprotokolle jedenfalls entstanden nach Jandls Tod. Gute Arbeit! Schon nach ein paar Seiten habe man den echten Jandl vor Augen, schwärmt Falcke - und "im Ohr". Nebenbei entstehe auf diese Weise ein Porträt der letzten Lebensjahre Jandls, der zunehmend von Einsamkeit und Krankheit geplagt gewesen sei. Siblewski verzichte gänzlich auf Ausmalungen, schreibt Falcke, weshalb diese der Form nach eher dürftigen Gesprächsprotokolle eine solche Evokationskraft entwickeln konnten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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