Produktdetails
- Verlag: Literatura Random House
- Seitenzahl: 560
- Erscheinungstermin: März 2013
- Spanisch
- Abmessung: 238mm x 139mm x 45mm
- Gewicht: 810g
- ISBN-13: 9788439726746
- ISBN-10: 8439726740
- Artikelnr.: 37488997
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
- Herstellerkennzeichnung
- AGAPEA FACTORY
- c/ Bodegueros, 43nave5
- 29006 Malaga / SPANIEN, ES
- 0034 902195236
Frankfurter Allgemeine ZeitungWas von Brokeland übrig bleibt
Eine solche Verbindung von Musik- und Sozialgeschichte hat es noch nicht gegeben: Michael Chabon hat einen grotesk komischen, dabei wirklichkeitssatten Amerika-Roman geschrieben.
Was für ein großartiger Eröffnungssatz für einen Roman: "Mondgesichtig, massig und mild bekifft stand Archy Stallings, ein Baby auf dem Arm, in einem rehbraunen Kordanzug und einem kürbisfarbenen Rollkragenpullover, der seine berüchtigte, aber nicht unvorteilhafte Ähnlichkeit mit Gamera betonte, der riesigen fliegenden Mutantenschildkröte aus dem japanischen Kino, hinter dem Verkaufstresen von Brokeland Records."
Der Satz beginnt in der literarischen Welt von James Joyces "Ulysses", indem er dessen ersten Satz über den stattlichen, plumpen Buck Mulligan heraufbeschwört - und diesen in einen schwarzen Hippie verwandelt. Er kleidet dann diese Figur so liebevoll mit Retro-Chic ein, als stammte sie aus einem Film von Wes Anderson, nur um ihre Erscheinung kurz darauf mit einer weiteren filmischen Anspielung ins grotesk Komische zu übersteigern (wie geht das eigentlich, Ähnlichkeit mit einer Monsterschildkröte zu haben, ohne dass es unvorteilhaft wirkt?).
Im letzten Atemzug stellt der Satz die Figur dann noch geschwind in eine ganz reale und doch hochmetaphorisch aufgeladene Welt: "Brokeland" ist die Zwittergegend zwischen Berkeley und Oakland, also zwischen dem kalifornischen Hippie-Campus schlechthin und der schwarzen Arbeiterstadt. Als Name für einen Plattenladen schwingt bei "Brokeland" aber noch viel mehr mit: nämlich sowohl der Bankrott, der seinen Besitzern droht, als auch der exemplarische Bankrott einer ganzen Kultur.
Man könnte sagen, dass dieser Satz, mit dem nach einer emblematischen Kurzszene die Geschichte von Michael Chabons neuem Buch beginnt, fast alle wichtigen Stilelemente des Autors der "Unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay" (2000) in einer Nussschale enthält: den filmischen Blick wie die zahlreichen Zitate und Assoziationen zwischen Höhenkammliteratur und Groschenheft, zwischen Kino und Comic, die ständige Referenz auf konkrete Produkte der Popkultur und den eigentümlichen Humor.
Eine voraussetzungsreiche Literatur also, die aber auch dann schon lustig zu lesen ist, wenn man nicht jede Kröte googelt, und eine Erzählweise, die, wie die in mehrere Nebensätze unterteilte Apposition zu Archy Stallings verrät, um keine Abschweifung verlegen ist. Wobei die hier belegte noch gar nichts ist im Vergleich zum dritten Kapitel des Romans: Es besteht aus einem einzigen, fünfzehnseitigen Satz, der von einem Papagei handelt. Einem Papagei wohlgemerkt, der die Hammondorgel seines Besitzers, eines Jazzmusikers mit Namen Cochise Jones, perfekt nachahmen kann.
Aber zurück zu Archy Stallings: Der ehemalige Elektriker und Veteran des ersten Golfkriegs betreibt zusammen mit dem weißen Juden Nat Jaffe den besagten Jazzplattenladen an der Telegraph Avenue, nach der Chabons Roman benannt ist, und die tatsächlich berühmt ist für ihre Secondhandshops mit allerlei Nostalgieware. Hier wird sie zum Inbegriff der amerikanischen Vielfalt schlechthin, wo aus der Zeit gefallene schwarze Soul Brothers auf Räucherstäbchen-Freaks in Hightech-Sandalen treffen, Hipster sich mit Hippies mischen. Das Plattengeschäft liegt zwischen zwei Läden namens "United Federation of Donuts" und dem "King of Bling".
Archy und Nat sind ein seltsames Paar, in äußerer Erscheinung wie im Temperament denkbar gegensätzlich, vereint jedoch in der Liebe zum Jazz, der ihnen Religion ist. Archy trägt stets ein zerfleddertes Exemplar von Marc Aurels "Selbstbetrachtungen" in der Hosentasche, aus dem er gelernt hat, "dass man niemals ausflippte, dass man denen, die einen beleidigt oder verletzt hatten, niemals zeigte, dass man beleidigt oder verletzt war". Diese Lektion hat sein Kompagnon Nat Jaffe noch nicht gelernt, der immer, wenn er sich über etwas aufregt, mit Vinyl um sich wirft. So auch, als der Stadtrat Chandler Flowers bei Brokeland aufkreuzt und die Nachricht verkündet, die den Plot des Romans in Schwung bringt: Der ehemalige Football-Star Gibson Goode, fünftreichster Schwarzer Amerikas, will ein Musik-Megastore seiner Kette namens "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen. Das kleine Paradies ist bedroht: "So viele andere Schallplattenkönige an der East Bay waren schon gescheitert, hatten ihr Geschäft an den Nagel gehängt oder sich zu Internetfirmen gewandelt", heißt es, und dann kommt wieder so ein lustiger Chabon-Satz: "Brokeland Records war fast der letzte seiner Art: wie Ishi, Chingachcook oder Martha die Wandertaube."
Chabons Roman spielt im Jahr 2004, also noch vor der Wirtschaftskrise und auch vor dem alles verändernden Siegeszug von Digitalisierung und Online-Versandhandel, das Thema hat also noch eine größere Fallhöhe. Nun wird vielleicht mancher sagen: Ein Roman über einen Plattenladen, hatten wir das nicht schon einmal? Aber bei allem Respekt vor Nick Hornbys "High Fidelity", der unumgänglichen Referenz, gibt es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal ist der Soundtrack ein ganz anderer: Hier geht es nicht um Rockmusik (oder wenn, dann nur amüsant despektierlich), sondern um Jazz - "fetten, fleischigen Jazz, gepökelt und mit Funk durchwachsen", wie Archy ihn liebt. Dieses Thema geht Chabon ernsthaft und enzyklopädisch an: Wenn hier ein Album genannt wird, dann stets mit Erscheinungsjahr und Label: so wie bei jenem ungeöffneten Mono-Exemplar von Sun Ras "The Soul Vibrations of Man (Saturn Research, 1976)", das Nat als Frisbee nach Stadtrat Flowers schmeißt.
Aber auch im Vergleich zum zeitdiagnostischen Gehalt von Hornbys musikalischer Beziehungsbiographie ist "Telegraph Avenue" dann doch ein anderes Kaliber: Hier werden Musikgeschichte und amerikanische Sozialgeschichte in einer Weise verbunden, in der wohl noch niemand zuvor sie in einem Roman verbunden hat - unvergesslich etwa in einer Art Predigt von Gibson Goode über den Zustand der schwarzen Musik, den er als "postapokalyptisch" bezeichnet: "Gitarre, Saxofon, Bass, Schlagzeug, die Scheißteile gehörten früher alle uns. Trompete! Wir waren die Hausherren. Wenn jetzt ein Schwarzer vorbeikommt, der halbwegs genial ist? Wie RZA? Der kann noch nicht mal ein verfluchtes Kazoo spielen, Kann nichts anderes als ,zitieren'."
Bei allem Humor ist das Buch eine ernste Begegnung zwischen schwarzem und weißem Amerika, eine neue und tiefe Analyse der sogenannten Schmelztiegel-Kultur, die neben der Kerngeschichte von Archy und Nat in Parallelbeziehungen dargestellt wird: so zwischen den Frauen der Protagonisten, Gwen und Aviva, die beide Hebammen für Hausgeburten sind, und zwischen ihren jugendlichen Söhnen Julius und Titus, die sich in der frühen Suchphase des Lebens ineinander verlieben. Jede dieser Parallelgeschichten ist ein eigener Roman, verzwickt und dramatisch gespickt mit den Problemen von latentem und offen zutage tretendem Rassismus, meisterlich geschildert in einer Episode, die den Hebammen widerfährt, als es Komplikationen bei einer Hausgeburt gibt: Bei der Verlegung in ein Krankenhaus, wo Mutter und Kind zwar gerettet werden, prallen nicht nur Ansichten über die richtige medizinische Versorgung aufeinander, sondern unterstellt ein weißer Arzt der schwarzen Hebamme "Voodoo", worauf die ihn einen "kahlen Babyface-Kaiserschnitt-Metzger" nennt. Aus dem hitzigen Wortgefecht wird schließlich eine juristische Auseinandersetzung, die Gwen in einen Gewissenskonflikt zwischen Stolz und Verantwortung bringt: Es stehen nämlich auch ihre und Avivas Lizenz zur Berufsausübung auf dem Spiel. Chabon macht daraus ein Dilemma um tiefsitzende Vorurteile, falsche Entschuldigungen und gescheiterte Supervisionsversuche durch eine Gleichstellungsbehörde, das an die Wurzel amerikanischer Gegenwartskultur greift.
Doch das ist immer noch nicht alles, was diesen Roman ausmacht. Er ist eine große Ballade von Patchwork-Familien und abwesenden Vätern, in der sich Einsichten aus Chabons Essay-Band "Mann sein für Anfänger" (2011) wiederfinden. Und neben der Musik enthält er ein weiteres Referenz-Universum: Es ist das des sogenannten Blaxploitation-Kinos der siebziger Jahre, das sich auch in den Filmen Quentin Tarantinos spiegelt, und weite Teile des Buches sind als Hommage an dieses Kino gestaltet: mit sehr detailliert beschriebenen Automodellen der siebziger Jahre, bestickten Trainingsanzügen von kalifornischen Kung-Fu-Schulen.
Dann aber wird dieses Oakland-Sujet auch parodistisch eingebettet in die akademische Berkeley-Welt: So besucht der fünfzehnjährige Julius Jaffe im Seniorenzentrum Southside Berkeley einen Filmkurs mit dem Titel "Rache als Motiv: "Zitate und Vorbilder von Kill Bill", in dem neben Samurai-Filmen auch "Clockwork Orange" oder "Coffy, die Raumkatze" analysiert werden. Wie Chabon schließlich noch die Geschichte von Archys Vater Luther Stallings einbettet in die des Blaxploitation-Kinos, bringt den Plot an die Grenze der Überlastung, zeitigt aber wiederum komische Einfälle en masse.
Man weiß nicht, was man an diesem Buch mehr lieben soll: sein immer wieder bezauberndes Reservoir an Sprachbildern und Aperçus, die sich aus der Liebe zum Vinyl ableiten (die Abwandlung der Einsicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat, lautet hier: "Was ist das für'n Himmel, wo man seine Platten nicht mitnehmen kann?"), seine musikrezensorischen Einsichten, die sich direkt in Stimmungen oder Eigenschaften der Figuren übersetzen (so hört Nat Jaffe John Coltranes "A Love Supreme" als "eine Art Kaddisch, das, wie er selbst, insgeheim von den Strömungen des Zorns getrieben wurde"), seine Kapitelüberschriften ("Sahnetraum", "Die Kirche des Vinyls", "Ein Vogel von großer Erfahrung"), sein dezent an "Moby Dick" angelehntes Motto ("Nennt mich Ishmael. Wahrscheinlich Ishmael Reed"), seine schier überbordende Phantasie oder seine satte Wirklichkeit: Die Beschreibung einer Notaufnahme, in der auf einem Fernseher "Sponge Bob" läuft, während lauter Verwundete warten, fluchen und schreien, ist ein Höhepunkt der amerikanischen Literatur genauso wie die Beschreibung des tragisch verunglückten Organisten Cochise Jones, wie er aufgebahrt in seinem Sarg liegt: "Sparsames Lächeln der Vergebung. Halluzinogener Freizeitanzug von Ron Postal, 1975 für 300 Dollar erstanden." Viel besser kann Literatur nicht werden.
JAN WIELE
Michael Chabon:
"Telegraph Avenue".
Roman. Aus dem
Englischen von Andrea
Fischer.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 592 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine solche Verbindung von Musik- und Sozialgeschichte hat es noch nicht gegeben: Michael Chabon hat einen grotesk komischen, dabei wirklichkeitssatten Amerika-Roman geschrieben.
Was für ein großartiger Eröffnungssatz für einen Roman: "Mondgesichtig, massig und mild bekifft stand Archy Stallings, ein Baby auf dem Arm, in einem rehbraunen Kordanzug und einem kürbisfarbenen Rollkragenpullover, der seine berüchtigte, aber nicht unvorteilhafte Ähnlichkeit mit Gamera betonte, der riesigen fliegenden Mutantenschildkröte aus dem japanischen Kino, hinter dem Verkaufstresen von Brokeland Records."
Der Satz beginnt in der literarischen Welt von James Joyces "Ulysses", indem er dessen ersten Satz über den stattlichen, plumpen Buck Mulligan heraufbeschwört - und diesen in einen schwarzen Hippie verwandelt. Er kleidet dann diese Figur so liebevoll mit Retro-Chic ein, als stammte sie aus einem Film von Wes Anderson, nur um ihre Erscheinung kurz darauf mit einer weiteren filmischen Anspielung ins grotesk Komische zu übersteigern (wie geht das eigentlich, Ähnlichkeit mit einer Monsterschildkröte zu haben, ohne dass es unvorteilhaft wirkt?).
Im letzten Atemzug stellt der Satz die Figur dann noch geschwind in eine ganz reale und doch hochmetaphorisch aufgeladene Welt: "Brokeland" ist die Zwittergegend zwischen Berkeley und Oakland, also zwischen dem kalifornischen Hippie-Campus schlechthin und der schwarzen Arbeiterstadt. Als Name für einen Plattenladen schwingt bei "Brokeland" aber noch viel mehr mit: nämlich sowohl der Bankrott, der seinen Besitzern droht, als auch der exemplarische Bankrott einer ganzen Kultur.
Man könnte sagen, dass dieser Satz, mit dem nach einer emblematischen Kurzszene die Geschichte von Michael Chabons neuem Buch beginnt, fast alle wichtigen Stilelemente des Autors der "Unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay" (2000) in einer Nussschale enthält: den filmischen Blick wie die zahlreichen Zitate und Assoziationen zwischen Höhenkammliteratur und Groschenheft, zwischen Kino und Comic, die ständige Referenz auf konkrete Produkte der Popkultur und den eigentümlichen Humor.
Eine voraussetzungsreiche Literatur also, die aber auch dann schon lustig zu lesen ist, wenn man nicht jede Kröte googelt, und eine Erzählweise, die, wie die in mehrere Nebensätze unterteilte Apposition zu Archy Stallings verrät, um keine Abschweifung verlegen ist. Wobei die hier belegte noch gar nichts ist im Vergleich zum dritten Kapitel des Romans: Es besteht aus einem einzigen, fünfzehnseitigen Satz, der von einem Papagei handelt. Einem Papagei wohlgemerkt, der die Hammondorgel seines Besitzers, eines Jazzmusikers mit Namen Cochise Jones, perfekt nachahmen kann.
Aber zurück zu Archy Stallings: Der ehemalige Elektriker und Veteran des ersten Golfkriegs betreibt zusammen mit dem weißen Juden Nat Jaffe den besagten Jazzplattenladen an der Telegraph Avenue, nach der Chabons Roman benannt ist, und die tatsächlich berühmt ist für ihre Secondhandshops mit allerlei Nostalgieware. Hier wird sie zum Inbegriff der amerikanischen Vielfalt schlechthin, wo aus der Zeit gefallene schwarze Soul Brothers auf Räucherstäbchen-Freaks in Hightech-Sandalen treffen, Hipster sich mit Hippies mischen. Das Plattengeschäft liegt zwischen zwei Läden namens "United Federation of Donuts" und dem "King of Bling".
Archy und Nat sind ein seltsames Paar, in äußerer Erscheinung wie im Temperament denkbar gegensätzlich, vereint jedoch in der Liebe zum Jazz, der ihnen Religion ist. Archy trägt stets ein zerfleddertes Exemplar von Marc Aurels "Selbstbetrachtungen" in der Hosentasche, aus dem er gelernt hat, "dass man niemals ausflippte, dass man denen, die einen beleidigt oder verletzt hatten, niemals zeigte, dass man beleidigt oder verletzt war". Diese Lektion hat sein Kompagnon Nat Jaffe noch nicht gelernt, der immer, wenn er sich über etwas aufregt, mit Vinyl um sich wirft. So auch, als der Stadtrat Chandler Flowers bei Brokeland aufkreuzt und die Nachricht verkündet, die den Plot des Romans in Schwung bringt: Der ehemalige Football-Star Gibson Goode, fünftreichster Schwarzer Amerikas, will ein Musik-Megastore seiner Kette namens "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen. Das kleine Paradies ist bedroht: "So viele andere Schallplattenkönige an der East Bay waren schon gescheitert, hatten ihr Geschäft an den Nagel gehängt oder sich zu Internetfirmen gewandelt", heißt es, und dann kommt wieder so ein lustiger Chabon-Satz: "Brokeland Records war fast der letzte seiner Art: wie Ishi, Chingachcook oder Martha die Wandertaube."
Chabons Roman spielt im Jahr 2004, also noch vor der Wirtschaftskrise und auch vor dem alles verändernden Siegeszug von Digitalisierung und Online-Versandhandel, das Thema hat also noch eine größere Fallhöhe. Nun wird vielleicht mancher sagen: Ein Roman über einen Plattenladen, hatten wir das nicht schon einmal? Aber bei allem Respekt vor Nick Hornbys "High Fidelity", der unumgänglichen Referenz, gibt es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal ist der Soundtrack ein ganz anderer: Hier geht es nicht um Rockmusik (oder wenn, dann nur amüsant despektierlich), sondern um Jazz - "fetten, fleischigen Jazz, gepökelt und mit Funk durchwachsen", wie Archy ihn liebt. Dieses Thema geht Chabon ernsthaft und enzyklopädisch an: Wenn hier ein Album genannt wird, dann stets mit Erscheinungsjahr und Label: so wie bei jenem ungeöffneten Mono-Exemplar von Sun Ras "The Soul Vibrations of Man (Saturn Research, 1976)", das Nat als Frisbee nach Stadtrat Flowers schmeißt.
Aber auch im Vergleich zum zeitdiagnostischen Gehalt von Hornbys musikalischer Beziehungsbiographie ist "Telegraph Avenue" dann doch ein anderes Kaliber: Hier werden Musikgeschichte und amerikanische Sozialgeschichte in einer Weise verbunden, in der wohl noch niemand zuvor sie in einem Roman verbunden hat - unvergesslich etwa in einer Art Predigt von Gibson Goode über den Zustand der schwarzen Musik, den er als "postapokalyptisch" bezeichnet: "Gitarre, Saxofon, Bass, Schlagzeug, die Scheißteile gehörten früher alle uns. Trompete! Wir waren die Hausherren. Wenn jetzt ein Schwarzer vorbeikommt, der halbwegs genial ist? Wie RZA? Der kann noch nicht mal ein verfluchtes Kazoo spielen, Kann nichts anderes als ,zitieren'."
Bei allem Humor ist das Buch eine ernste Begegnung zwischen schwarzem und weißem Amerika, eine neue und tiefe Analyse der sogenannten Schmelztiegel-Kultur, die neben der Kerngeschichte von Archy und Nat in Parallelbeziehungen dargestellt wird: so zwischen den Frauen der Protagonisten, Gwen und Aviva, die beide Hebammen für Hausgeburten sind, und zwischen ihren jugendlichen Söhnen Julius und Titus, die sich in der frühen Suchphase des Lebens ineinander verlieben. Jede dieser Parallelgeschichten ist ein eigener Roman, verzwickt und dramatisch gespickt mit den Problemen von latentem und offen zutage tretendem Rassismus, meisterlich geschildert in einer Episode, die den Hebammen widerfährt, als es Komplikationen bei einer Hausgeburt gibt: Bei der Verlegung in ein Krankenhaus, wo Mutter und Kind zwar gerettet werden, prallen nicht nur Ansichten über die richtige medizinische Versorgung aufeinander, sondern unterstellt ein weißer Arzt der schwarzen Hebamme "Voodoo", worauf die ihn einen "kahlen Babyface-Kaiserschnitt-Metzger" nennt. Aus dem hitzigen Wortgefecht wird schließlich eine juristische Auseinandersetzung, die Gwen in einen Gewissenskonflikt zwischen Stolz und Verantwortung bringt: Es stehen nämlich auch ihre und Avivas Lizenz zur Berufsausübung auf dem Spiel. Chabon macht daraus ein Dilemma um tiefsitzende Vorurteile, falsche Entschuldigungen und gescheiterte Supervisionsversuche durch eine Gleichstellungsbehörde, das an die Wurzel amerikanischer Gegenwartskultur greift.
Doch das ist immer noch nicht alles, was diesen Roman ausmacht. Er ist eine große Ballade von Patchwork-Familien und abwesenden Vätern, in der sich Einsichten aus Chabons Essay-Band "Mann sein für Anfänger" (2011) wiederfinden. Und neben der Musik enthält er ein weiteres Referenz-Universum: Es ist das des sogenannten Blaxploitation-Kinos der siebziger Jahre, das sich auch in den Filmen Quentin Tarantinos spiegelt, und weite Teile des Buches sind als Hommage an dieses Kino gestaltet: mit sehr detailliert beschriebenen Automodellen der siebziger Jahre, bestickten Trainingsanzügen von kalifornischen Kung-Fu-Schulen.
Dann aber wird dieses Oakland-Sujet auch parodistisch eingebettet in die akademische Berkeley-Welt: So besucht der fünfzehnjährige Julius Jaffe im Seniorenzentrum Southside Berkeley einen Filmkurs mit dem Titel "Rache als Motiv: "Zitate und Vorbilder von Kill Bill", in dem neben Samurai-Filmen auch "Clockwork Orange" oder "Coffy, die Raumkatze" analysiert werden. Wie Chabon schließlich noch die Geschichte von Archys Vater Luther Stallings einbettet in die des Blaxploitation-Kinos, bringt den Plot an die Grenze der Überlastung, zeitigt aber wiederum komische Einfälle en masse.
Man weiß nicht, was man an diesem Buch mehr lieben soll: sein immer wieder bezauberndes Reservoir an Sprachbildern und Aperçus, die sich aus der Liebe zum Vinyl ableiten (die Abwandlung der Einsicht, dass das letzte Hemd keine Taschen hat, lautet hier: "Was ist das für'n Himmel, wo man seine Platten nicht mitnehmen kann?"), seine musikrezensorischen Einsichten, die sich direkt in Stimmungen oder Eigenschaften der Figuren übersetzen (so hört Nat Jaffe John Coltranes "A Love Supreme" als "eine Art Kaddisch, das, wie er selbst, insgeheim von den Strömungen des Zorns getrieben wurde"), seine Kapitelüberschriften ("Sahnetraum", "Die Kirche des Vinyls", "Ein Vogel von großer Erfahrung"), sein dezent an "Moby Dick" angelehntes Motto ("Nennt mich Ishmael. Wahrscheinlich Ishmael Reed"), seine schier überbordende Phantasie oder seine satte Wirklichkeit: Die Beschreibung einer Notaufnahme, in der auf einem Fernseher "Sponge Bob" läuft, während lauter Verwundete warten, fluchen und schreien, ist ein Höhepunkt der amerikanischen Literatur genauso wie die Beschreibung des tragisch verunglückten Organisten Cochise Jones, wie er aufgebahrt in seinem Sarg liegt: "Sparsames Lächeln der Vergebung. Halluzinogener Freizeitanzug von Ron Postal, 1975 für 300 Dollar erstanden." Viel besser kann Literatur nicht werden.
JAN WIELE
Michael Chabon:
"Telegraph Avenue".
Roman. Aus dem
Englischen von Andrea
Fischer.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 592 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main