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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2001

Massachausetts, nicht hier
Zärtlichkeit, Robert Cormiers Psychogramm eines jugendlichen Mörders
Ein fünffacher jugendlicher Mörder als Hauptperson im Roman eines deutschsprachigen Jugendbuchautors? Nahezu unvorstellbar. Wenn überhaupt, dann nur in Begleitung eines psychologisch-pädagogisch Krisenstabs. Umfeld und Motiv der Taten müssten zudem das aktuelle sozialpolitische Klima widerspiegeln, also Rechtsradikalismus und Fremdenhass. Schon Kirsten Boies ungeschönter Einblick in die Gewaltlandschaft in 'Nicht Chicago, nicht hier' war eine Provokation in der deutschen Reality-Literatur für junge Leser. Der renommierte amerikanische Ostküstenautor Robert Cormier hätte wahrscheinlich keine Chance, seinen neuen Roman 'Zärtlichkeit' bei einem deutschen Verlag unzensiert unterzubringen, siedelte die Geschichte hierzulande. Aber sie ereignet sich in Provinznestern des US-Bundesstaats Massachusetts. Das ist weit weg und fast schon Chicago.
 Schwer zu sagen, was einem bei diesem neuen Cormier-Psychokrimi zuallererst
die Sprache verschlägt: Der Röntgenaugenblick des Autors auf die innere und
äußere Wirklichkeit junger Menschen am Rande der Gesellschaft? Hier spürt man die souveräne Handschrift eines amerikanischen Dirty Realist. Oder Cormiers atemraubende Dramaturgie der Ereignisse, mit einem präzise rhythmisierten Perspektivwechsels vom auktorialen zum Ich-Erzähler, von der Vergangenheit zur Gegenwart? Diese Spannungsbögen bauen auf Alfred Hitchcocks Architektur. Oder sind es Cormiers Persönlichkeiten, die einem nahegehen, wenn sie sich während der Geschichte auf eigentümlichunspektakuläre Weise verändern? Nicht durch therapeutische Eingriffe, nicht durch himmlische Fügungen, sondern durch zufällige Konfrontationen mit Menschen, die nicht ins Weltbild des Gegenübers passen. Veränderung meint bei Cormier nicht Lösung in Wohlgefallen. Veränderung heißt am Ende nicht allgemeines Aufatmen. Die Geschichte kann ganz anders enden als wir Leser uns das wünschen, und trotzdem sind die Handelnden nicht mehr dieselben, die sie am Anfang waren.
Wie das im Fall des 18-jährigen Mörders Eric Poole aussieht, wird natürlich
nicht verraten. Die Katastrophe scheint unausweichlich - vielleicht geschieht sie auch -, als man den jungen Mann nach drei Jahren Jugendhaft in die Freiheit entlässt. Er hatte seine Mutter und ihren Lebensgefährten ermordet. Poole wurde nach dem Jugendstrafrecht des Staates Massachusetts verurteilt, das - zumindest zum Zeitpunkt der Handlung - die Entlassung jugendlicher Täter mit Erreichen der Volljährigkeit vorsah. Der Roman beginnt kurz vor Pooles Entlassung und führt die Leser in die Gedankenwelt
von drei Protagonisten. Ein auktorialer Erzähler nimmt sich zweier Personen
an: des Jungen und seines Hauptgegners, eines alten Police Lieutenant (könnte der legendären Krimiserie 'Hill Street Blues' entstammen), der Poole für ein Monster hält, das mehr als zwei Menschen auf dem Gewissen hat. Parallel dazu lässt Cormier die jugendliche Ausreisserin Lori von ihren Fixierungen erzählen, die sie nun in die Nähe des Mörders treiben. Die liebesbedürftige frühreife 15-Jährige will den unwiderstehlich charmant auftretenden Jungen, dem sie schon einmal begegnet war, unbedingt küssen, um sich von ihrem Zwang zu befreien. Was außer dem Cop und dem Leser niemand ahnt: Eric Poole hat tatsächlich drei Mädchen erwürgt. Der hochintelligente und reuelose Psychopath empfindet absolute Befriedigung seines Bedürfnisses nach - wie er es nennt - 'Zärtlichkeit' im Akt des Tötens. Lori könnte sein nächstes Opfer sein. Das klingt nach einem reißerischen Suspenseroman und ist doch viel mehr: das diffizile Psychogramm eines Mörders, seines potentiellen Opfers und
ihrer Begegnung. Cormier nimmt seine Handelnden ernst. Er unterschiebt ihnen keine Autoren-Kommentare, er stilisiert sie nicht zu Sympathieträgern. Aber er beobachtet sie mit enormer Empathie. Der Autor lässt sie in ihren Welten agieren - so verloren diese auch sein mögen.
Cormiers Dramaturgie erinnert an die Art und Weise, wie die Filmemacher
Joel und Ethan Coen in 'Fargo' ihre Mördergeschichte erzählen. Das Beeeindruckendste an Cormiers neuem Roman jedoch ist der zeitverlorene Umgang mit individuellen Veränderungen der Seele, der nichts gemein hat mit dem forcierten Entwicklungsoptimismus in der gängigen Problemliteratur für junge Leser. (ab 15 Jahre)
SIGGI SEUSS
ROBERT CORMIER: Zärtlichkeit. Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold. Verlag Sauerländer, Aarau 2000, 224 Seiten, .......... Mark
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