Es ist Nilufars erste Reise nach Iran und in eine ihr unbekannte Familie - die Familie ihres Vaters, der sie verlassen hat, als sie noch ein junges Mädchen war, und zurück in seine Heimat gegangen ist. Dort trifft sie auf neue Gesichter, die alle ihre Wunden und Sehnsüchte haben, und eine Gesellschaft voller Gegensätze. Nilufar lernt ein Leben kennen, das hätte ihres sein können, und einen Vater, der ihr immer dann ausweicht, wenn sie ihm nahekommt. Umgeben vom Chaos der ständig fließenden Hauptstadt Teheran und der wohlmeinenden Gastfreundschaft ihrer Verwandten entblättert Nilufar Schicht um Schicht die Zerrissenheit eines Landes, ihrer Familie und ihrer eigenen Identität.
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»Khozani ist ein mitreißendes Porträt der niemals stillstehenden Metropole Teheran gelungen und ein anrührendes Psychogramm einer jungen Frau auf der Suche nach der eigenen Identität.« Berliner Morgenpost
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Ayca Balci bespricht drei Debütromane von deutschen Schriftstellerinnen, die man hierzulande unter dem Label "postmigrantische Literatur" fassen würde. Aber dagegen hat die Kritikerin einiges einzuwenden, erzählt doch eine jede der Autorinnen ihre eigene Geschichte. Dennoch macht Balci zunächst auf die Gemeinsamkeiten der Romane aufmerksam: Sowohl Nilufar Karkhiran Khozani als auch Özge Inan und Mina Hava erzählen vom Schicksal der Eltern und dem Gefühl, Sehnsucht nach einem Land zu empfinden, das sie aufgrund von Krieg oder Repressionen verlassen mussten. Karkhiran Khozani erzählt uns in "Terafik" von Psychologiestudentin Nilufar, die nach Diskriminierungserfahrungen in Deutschland erst in den Straßen von Teheran ihrem Vater näher kommt, Özge Inans fünfzehnjährige Heldin Nilay zieht es in die Türkei, obwohl ihre Eltern nach dem Militärputsch 1980 fliehen mussten und die Freiheit erst in Deutschland fanden, und Mina Hava lässt ihre Heldin Seka nach Bosnien reisen, um nicht nur das Schicksal ihrer zerbrochenen Familie zusammenzusetzen, sondern auch über die fast vergessenen Kriegsverbrechen des Bosnienkrieges zu recherchieren, resümiert die Rezensentin. Sie scheint alle drei Romane mit Gewinn gelesen zu haben und hofft, dass die Autorinnen auch dann noch verlegt werden, wenn sie keine Migrationsgeschichten mehr schreiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2023Was, wenn ich dort geboren wäre?
In drei Debütromanen erleben Erzählerinnen Sehnsucht und Fremdheit gegenüber dem Land, aus dem ihre Eltern kamen:
Ein beliebtes Thema der Gegenwartsliteratur
– doch der Stempel „postmigrantische Literatur“ wäre grob vereinfachend.
Von Ayça Balcı Wo genau verläuft die Grenze zwischen Nichtankommen und nicht Wegkönnen?“, fragt sich Nilufar am Teheraner Flughafen. Ihre Familie, die sie so wenig kennt, hat sie hinter der Glasscheibe zurückgelassen, in dem Land, das sie so gerne besser kennen würde. Dabei wollte sie erst gar nicht nach Iran, ihr Vater hatte darauf bestanden. Der, den sie so lange nicht verstehen konnte: warum er zurückgegangen war, nachdem er all die Jahre hart um seinen Platz in der deutschen Gesellschaft gekämpft hatte. Warum er ausgerechnet in einem Land leben wollte, dem er wegen seines Regimes den Rücken gekehrt hatte. Die 1983 in Gießen geborene Autorin Nilufar Karkhiran Khozani behandelt in ihrem Debütroman „Terafik“ anhand ihrer Protagonistin, mit der sie sich nicht nur den Namen teilt, sondern auch viele Details ihrer Biografie, viele Themen der postmigrantischen Gesellschaft, in der wir leben: Geschichten von Migration, Diskriminierung und gesellschaftlichen Erwartungen in Deutschland. Und die über mehrere Generationen weitergegebene Frage nach der Identität und dem Umgang mit der Herkunft. Im deutschsprachigen Literaturbetrieb scheint es dafür im Moment ein unheimliches Interesse zu geben. Bücher, in denen Autorinnen und Autoren ihre Herkunft befragen, sind erfolgreich wie nie. Das ist zunächst eine erfreuliche Entwicklung. Zumal Verleger, Lektorinnen und Vermarkter der Buchbranche selbst noch immer überwiegend aus weißen, bildungsbürgerlichen Milieus stammen. Die sogenannten postmigrantischen Perspektiven von Fatma Aydemir, Deniz Utlu, Saša Stanišić und vielen mehr sind in dieser literarischen Welt eine Bereicherung. Die Schriftstellerin Lena Gorelik, die 2023 die erste Poetikdozentur für „Neue Deutsche Literatur“ an der Leibniz Universität in Hannover innehatte, womit postmigrantisches Schreiben in den Blick gerät, hat in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt, was sie darunter versteht: „ein Schreiben, das sich im Bewusstsein über die eigene Migration befindet, das sich auch damit auseinandersetzt – aber sich nicht darauf reduziert, nur die Migration zu erzählen“. Vor allem aber sei das ein selbstbewusstes Schreiben. Eines, das nicht mehr Bildungsarbeit für die weiße Gesellschaft leisten will, sich nicht im Versuch erschöpft, verstanden zu werden. Daran haben sich Gorelik und die Vorgängergeneration lange genug abgearbeitet. Die Geschichten dieser „neuen deutschen“ Literatur sind inzwischen vielfältig geworden. Neben Erzählungen der ersten Generation, denen Labels wie „Migrantenliteratur“ oder „Gastarbeiterliteratur“ verpasst wurden, stehen heute Auseinandersetzungen der sogenannten postmigrantischen Generation mit der Geschichte ihrer Eltern und deren Folgen für ihre eigenen Lebensläufe. Eine Konstellation wiederholt sich: Protagonisten, die in zweiter oder sogar schon dritter Generation in Deutschland leben, fühlen sich verbunden mit dem Herkunftsland ihrer Eltern, in dem sie selbst nie gelebt haben, vielleicht sogar noch nie waren. Es zieht sie aus unterschiedlichen Gründen dorthin, manch ambivalenter Gefühle zum Trotz – etwa den politischen Regimen der jeweiligen Länder gegenüber. Es mag sich dem Verständnis mancher entziehen, aber man kann wie die junge Nilufar in „Terafik“ das frauenverachtende und repressive Regime in Iran furchtbar finden und trotzdem eine Sehnsucht nach dem Land in sich tragen. Die Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt des Romans erzählt Karkhiran Khozani multiperspektivisch. Einerseits gibt es die Ich-Perspektive der in Berlin lebenden Psychologiestudentin, die es nicht mehr hinnehmen will, wenn sie von Patienten gefragt wird, woher sie wirklich komme, nachdem man sich mit Antworten wie „aus Gießen“ nicht zufriedengeben will. Wenn die Familie ihrer Freundin, die sich über die vielen Ausländer im Land beschwert, hinzufügt: Aber du bist ja ganz anders, versteht sie das nicht als Kompliment. Ein Klassiker, den sich Migrantenkinder mit „akzentfreiem Deutsch“ immer wieder anhören müssen. Und wenn die Mutter ihrer Freundin wissen will, ob man bei ihr zu Hause eigentlich „Bescheid“ wisse, fragt sie sich nur, welchen Ort auf der Welt sie wohl meinte. In Nilufars Erzählung mischen sich kursiv gesetzte Einschübe, die Einblicke in die Innenwelt des Vaters geben. Man erfährt von Diskriminierung, die zum Alltag gehört. Vom Druck, es in Deutschland zu etwas bringen zu müssen: Was würde die Familie in Iran denken, wenn er nicht mal seiner Familie ein gutes Leben ermöglichen könnte? Und dann kommt während Nilufars erstem Besuch in der Heimat ihres Vaters der Moment, in dem sie ihn endlich versteht, mit seinen Sehnsüchten und Träumen – auch all jenen, die in Deutschland zerplatzt sind. Damit verändert sich auch ihr Verhältnis zu Iran. Ihre Familie dort scheint sie so zu behandeln, als sei sie schon immer ein Teil von ihr gewesen: „Es wirkt, als sei mir dort seit Jahren ein Platz zugewiesen, lange bevor meiner Ankunft.“ Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Eltern ist selten von jener mit der eigenen Identität zu trennen. Die Verunsicherung der zweiten, oder sogar dritten Generation, was Herkunft und Zugehörigkeit betrifft, kommt in der Literatur heute häufig vor. Wie Lena Gorelik erklärt: „Man ist noch nicht ganz hier, weil die Eltern noch nicht ganz hier sind. Man ist aber auch nicht mehr dort. Und eigentlich ist man damit nirgendwo.“ Unterwegs in den Straßen von Teheran sieht Nilufar die Menschen an und denkt: „Ich könnte sie alle sein.“ Wie viele Kinder und Enkel von Migranten fragt sie sich, wie ihr Leben aussähe, wenn sie hier und nicht in Deutschland geboren wäre. Wie es wäre, hier zu leben. Ihre Cousine, die eigentlich nur noch raus aus Iran will, fragt: „Denkst du wirklich, du könntest hier leben?“ „Natürlich kann man hier nicht leben“ ist nicht Nilufars Antwort, sondern der Titel eines weiteren Debütromans dieses Jahres von Özge İnan, 1997 in Berlin geboren. Ihre 15-jährige Figur Nilay sitzt 2013 mit ihrer Familie vor dem Fernseher in der gemeinsamen Berliner Wohnung und verfolgt die Gezi-Proteste in der Türkei. Sie spürt den Drang, nach Istanbul zu gehen, eine gewisse Verantwortung dafür, dass die Aufstände der Menschen dort nicht scheitern. Dabei hat sie nie in diesem Land gelebt. Sie ist nicht direkt betroffen von der Politik Erdoğans, die diese Menschenmassen erst in einen Park am Istanbuler Taksim-Platz und dann auf Straßen in der ganzen Türkei getrieben hat. Ihre Eltern aber, Linke, die früher selbst auf die Straßen von Izmir gingen, um Widerstand gegen die „Faschisten“ zu leisten, und nach dem Militärputsch 1980 ihre Freiheit in Deutschland suchten, haben wenig Hoffnung. Auch Nilays älterer Bruder versteht nicht, warum es seine Schwester plötzlich in die Türkei zieht. „Du bist einfach nicht von da, Nilay, du bist von hier.“ Und überhaupt wisse sie nicht mehr über das Land als jeder andere deutsche Tourist. Nilay ist empört. Sie blickt anders auf die Migrationsgeschichte ihrer Eltern als ihr Bruder. Sie habe sie nicht darum gebeten, nach Deutschland zu kommen, es wäre ihr lieber gewesen, sie wären dort geblieben. „Dann hätten sie jetzt alle das Leben, das sie haben sollten.“ Sie wären in eine große Familie hineingeboren worden und in der Schule wären ihre Namen niemandem aufgefallen. Der Bruder findet: „Es gibt schlimmere Schicksale, als Migrantenkind zu sein“. İnan zeigt an dieser beispielhaften Diskussion, wie unterschiedlich selbst Menschen aus derselben Generation, demselben Elternhaus mit ihrer Herkunft umgehen. Nilays Geschichte bleibt in İnans Roman nur eine Klammer um den eigentlichen Stoff: die Erfahrung der Eltern, die in jungen Jahren ihrer politischen Überzeugungen wegen verfolgt wurden und aus der Türkei fliehen mussten. Offensichtlich war es İnans Absicht, diesen blinden Fleck zu beleuchten. Zu zeigen, dass nicht alle Migranten dieselbe Migrationsgeschichte teilen und nicht alle Türkeistämmige als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Die Theaterkünstlerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar etwa wurde lange als Gastarbeiterin bezeichnet. Dabei blendete man aus, dass Özdamar nach ihrer „Gastarbeiter-Zeit“ wieder in die Türkei zurückgekehrt war und nach dem Militärputsch 1971 aus politischen Gründen nach Deutschland floh. Spätestens mit ihrem autobiografischen Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ von 2021 müsste klar sein, warum die Geschichten von Militärputsch, Flucht und Exil andere sind als die der Arbeitsmigration. Gerade weil Erfahrungen so unterschiedlichen Bedingungen unterliegen, lehnen einige Autorinnen und Autoren den Begriff „postmigrantische Literatur“ für ihr Schaffen ab. Zumindest, wenn der fälschlicherweise impliziert, dass sich diese Literatur zwingend mit Identitätsfragen beschäftigen muss. Die Schweizer Autorin Mina Hava, Jahrgang 1998, beispielsweise möchte nicht, dass ihr Schreiben auf ihre Herkunft reduziert wird. Ihr Debütroman „Für Seka“ beschreibt nicht nur die Suche der Anfang zwanzigjährigen Seka nach ihrer zerbrochenen Familie aus Bosnien. Sie findet auch heraus, dass 1992 serbische Soldaten in ihrem Heimatdorf Omarska ein Lager errichteten, in dem – kurz bevor Seka in der Schweiz zur Welt kam –, noch Tausende Bosniaken und Kroaten gefangen gehalten, vergewaltigt, ermordet und in Massengräber geworfen wurden. Heute wird dort Erz abgebaut, als hätte es diese jüngere Geschichte nie gegeben. Seka beginnt zu recherchieren, „um zu verstehen, dass die eigene Geschichte über keine Archive verfügt.“ Sie studiert Geschichte und bemerkt den Unterschied zu ihren eigenen Nachforschungen: „Sich mit Relikten und Deutungen jener vertraut zu machen, die einen nie im Blick hatten, war, als würde man im deutschen Lesesaal verloren gehen.“ Mina Hava schreibt in ihrem Roman, der formal an Annie Ernauxs „Die letzten Jahre“ erinnert, bruchstückhaft über eine individuelle Familiengeschichte. Aber vor allem beschäftigt sie sich mit einem fast vergessenen Kriegsverbrechen. Weil es versäumt wurde, den Bosnienkrieg so aufzuarbeiten, dass er heute ein zentraler Teil der europäischen Erinnerungskultur wäre. Über diese Lücke der Geschichtsschreibung denkt ihr Roman nach. So prägend die Perspektiven von Autorinnen wie Hava, Karkhiran Khozani und İnan heute für die deutschsprachige Literatur sind: Wichtig ist, dass sie frei bleiben. Dass sie in ihre eigenen Herkunftsgeschichten hinein- und auch wieder herauszoomen dürfen, wie es ihnen gerade beliebt – und auch dann noch nachgefragt und veröffentlicht werden, wenn sie mal nicht über Migrationsgeschichten schreiben wollen. Einzigartig auf den Punkt hat den Zwiespalt die Journalistin und Autorin Lin Hierse in einer Zeit-Kolumne gebracht: Sie spricht von ihrem Wunsch nach einer Freiheit, sich mit diesem Thema beschäftigen zu können, bis es ihr zum eigenen Hals heraushänge und nicht zum Halse anderer. Dass sie „dann mal damit aufhören“ dürfe, „und dann vielleicht mal sehen.“
Dieses Schreiben ist
selbstbewusst – und mehr
als Bildungsarbeit
Sie fragen nach der Herkunft: die Autorinnen Mina Hava (von links), Nilufar Karkhiran Khozani und Özge İnan.
Fotos: Heike Steiweg, Erik Weiss, Leonardo Kahn, Collage: SZ
Özge İnan:
Natürlich kann man hier nicht leben. Roman.
Piper, München 2023.
240 Seiten, 24 Euro.
Nilufar Karkhiran
Khozani:
Terafik. Roman. Blessing, München 2023.
256 Seiten, 24 Euro.
Mina Hava:
Für Seka. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023.
227 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In drei Debütromanen erleben Erzählerinnen Sehnsucht und Fremdheit gegenüber dem Land, aus dem ihre Eltern kamen:
Ein beliebtes Thema der Gegenwartsliteratur
– doch der Stempel „postmigrantische Literatur“ wäre grob vereinfachend.
Von Ayça Balcı Wo genau verläuft die Grenze zwischen Nichtankommen und nicht Wegkönnen?“, fragt sich Nilufar am Teheraner Flughafen. Ihre Familie, die sie so wenig kennt, hat sie hinter der Glasscheibe zurückgelassen, in dem Land, das sie so gerne besser kennen würde. Dabei wollte sie erst gar nicht nach Iran, ihr Vater hatte darauf bestanden. Der, den sie so lange nicht verstehen konnte: warum er zurückgegangen war, nachdem er all die Jahre hart um seinen Platz in der deutschen Gesellschaft gekämpft hatte. Warum er ausgerechnet in einem Land leben wollte, dem er wegen seines Regimes den Rücken gekehrt hatte. Die 1983 in Gießen geborene Autorin Nilufar Karkhiran Khozani behandelt in ihrem Debütroman „Terafik“ anhand ihrer Protagonistin, mit der sie sich nicht nur den Namen teilt, sondern auch viele Details ihrer Biografie, viele Themen der postmigrantischen Gesellschaft, in der wir leben: Geschichten von Migration, Diskriminierung und gesellschaftlichen Erwartungen in Deutschland. Und die über mehrere Generationen weitergegebene Frage nach der Identität und dem Umgang mit der Herkunft. Im deutschsprachigen Literaturbetrieb scheint es dafür im Moment ein unheimliches Interesse zu geben. Bücher, in denen Autorinnen und Autoren ihre Herkunft befragen, sind erfolgreich wie nie. Das ist zunächst eine erfreuliche Entwicklung. Zumal Verleger, Lektorinnen und Vermarkter der Buchbranche selbst noch immer überwiegend aus weißen, bildungsbürgerlichen Milieus stammen. Die sogenannten postmigrantischen Perspektiven von Fatma Aydemir, Deniz Utlu, Saša Stanišić und vielen mehr sind in dieser literarischen Welt eine Bereicherung. Die Schriftstellerin Lena Gorelik, die 2023 die erste Poetikdozentur für „Neue Deutsche Literatur“ an der Leibniz Universität in Hannover innehatte, womit postmigrantisches Schreiben in den Blick gerät, hat in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt, was sie darunter versteht: „ein Schreiben, das sich im Bewusstsein über die eigene Migration befindet, das sich auch damit auseinandersetzt – aber sich nicht darauf reduziert, nur die Migration zu erzählen“. Vor allem aber sei das ein selbstbewusstes Schreiben. Eines, das nicht mehr Bildungsarbeit für die weiße Gesellschaft leisten will, sich nicht im Versuch erschöpft, verstanden zu werden. Daran haben sich Gorelik und die Vorgängergeneration lange genug abgearbeitet. Die Geschichten dieser „neuen deutschen“ Literatur sind inzwischen vielfältig geworden. Neben Erzählungen der ersten Generation, denen Labels wie „Migrantenliteratur“ oder „Gastarbeiterliteratur“ verpasst wurden, stehen heute Auseinandersetzungen der sogenannten postmigrantischen Generation mit der Geschichte ihrer Eltern und deren Folgen für ihre eigenen Lebensläufe. Eine Konstellation wiederholt sich: Protagonisten, die in zweiter oder sogar schon dritter Generation in Deutschland leben, fühlen sich verbunden mit dem Herkunftsland ihrer Eltern, in dem sie selbst nie gelebt haben, vielleicht sogar noch nie waren. Es zieht sie aus unterschiedlichen Gründen dorthin, manch ambivalenter Gefühle zum Trotz – etwa den politischen Regimen der jeweiligen Länder gegenüber. Es mag sich dem Verständnis mancher entziehen, aber man kann wie die junge Nilufar in „Terafik“ das frauenverachtende und repressive Regime in Iran furchtbar finden und trotzdem eine Sehnsucht nach dem Land in sich tragen. Die Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt des Romans erzählt Karkhiran Khozani multiperspektivisch. Einerseits gibt es die Ich-Perspektive der in Berlin lebenden Psychologiestudentin, die es nicht mehr hinnehmen will, wenn sie von Patienten gefragt wird, woher sie wirklich komme, nachdem man sich mit Antworten wie „aus Gießen“ nicht zufriedengeben will. Wenn die Familie ihrer Freundin, die sich über die vielen Ausländer im Land beschwert, hinzufügt: Aber du bist ja ganz anders, versteht sie das nicht als Kompliment. Ein Klassiker, den sich Migrantenkinder mit „akzentfreiem Deutsch“ immer wieder anhören müssen. Und wenn die Mutter ihrer Freundin wissen will, ob man bei ihr zu Hause eigentlich „Bescheid“ wisse, fragt sie sich nur, welchen Ort auf der Welt sie wohl meinte. In Nilufars Erzählung mischen sich kursiv gesetzte Einschübe, die Einblicke in die Innenwelt des Vaters geben. Man erfährt von Diskriminierung, die zum Alltag gehört. Vom Druck, es in Deutschland zu etwas bringen zu müssen: Was würde die Familie in Iran denken, wenn er nicht mal seiner Familie ein gutes Leben ermöglichen könnte? Und dann kommt während Nilufars erstem Besuch in der Heimat ihres Vaters der Moment, in dem sie ihn endlich versteht, mit seinen Sehnsüchten und Träumen – auch all jenen, die in Deutschland zerplatzt sind. Damit verändert sich auch ihr Verhältnis zu Iran. Ihre Familie dort scheint sie so zu behandeln, als sei sie schon immer ein Teil von ihr gewesen: „Es wirkt, als sei mir dort seit Jahren ein Platz zugewiesen, lange bevor meiner Ankunft.“ Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Eltern ist selten von jener mit der eigenen Identität zu trennen. Die Verunsicherung der zweiten, oder sogar dritten Generation, was Herkunft und Zugehörigkeit betrifft, kommt in der Literatur heute häufig vor. Wie Lena Gorelik erklärt: „Man ist noch nicht ganz hier, weil die Eltern noch nicht ganz hier sind. Man ist aber auch nicht mehr dort. Und eigentlich ist man damit nirgendwo.“ Unterwegs in den Straßen von Teheran sieht Nilufar die Menschen an und denkt: „Ich könnte sie alle sein.“ Wie viele Kinder und Enkel von Migranten fragt sie sich, wie ihr Leben aussähe, wenn sie hier und nicht in Deutschland geboren wäre. Wie es wäre, hier zu leben. Ihre Cousine, die eigentlich nur noch raus aus Iran will, fragt: „Denkst du wirklich, du könntest hier leben?“ „Natürlich kann man hier nicht leben“ ist nicht Nilufars Antwort, sondern der Titel eines weiteren Debütromans dieses Jahres von Özge İnan, 1997 in Berlin geboren. Ihre 15-jährige Figur Nilay sitzt 2013 mit ihrer Familie vor dem Fernseher in der gemeinsamen Berliner Wohnung und verfolgt die Gezi-Proteste in der Türkei. Sie spürt den Drang, nach Istanbul zu gehen, eine gewisse Verantwortung dafür, dass die Aufstände der Menschen dort nicht scheitern. Dabei hat sie nie in diesem Land gelebt. Sie ist nicht direkt betroffen von der Politik Erdoğans, die diese Menschenmassen erst in einen Park am Istanbuler Taksim-Platz und dann auf Straßen in der ganzen Türkei getrieben hat. Ihre Eltern aber, Linke, die früher selbst auf die Straßen von Izmir gingen, um Widerstand gegen die „Faschisten“ zu leisten, und nach dem Militärputsch 1980 ihre Freiheit in Deutschland suchten, haben wenig Hoffnung. Auch Nilays älterer Bruder versteht nicht, warum es seine Schwester plötzlich in die Türkei zieht. „Du bist einfach nicht von da, Nilay, du bist von hier.“ Und überhaupt wisse sie nicht mehr über das Land als jeder andere deutsche Tourist. Nilay ist empört. Sie blickt anders auf die Migrationsgeschichte ihrer Eltern als ihr Bruder. Sie habe sie nicht darum gebeten, nach Deutschland zu kommen, es wäre ihr lieber gewesen, sie wären dort geblieben. „Dann hätten sie jetzt alle das Leben, das sie haben sollten.“ Sie wären in eine große Familie hineingeboren worden und in der Schule wären ihre Namen niemandem aufgefallen. Der Bruder findet: „Es gibt schlimmere Schicksale, als Migrantenkind zu sein“. İnan zeigt an dieser beispielhaften Diskussion, wie unterschiedlich selbst Menschen aus derselben Generation, demselben Elternhaus mit ihrer Herkunft umgehen. Nilays Geschichte bleibt in İnans Roman nur eine Klammer um den eigentlichen Stoff: die Erfahrung der Eltern, die in jungen Jahren ihrer politischen Überzeugungen wegen verfolgt wurden und aus der Türkei fliehen mussten. Offensichtlich war es İnans Absicht, diesen blinden Fleck zu beleuchten. Zu zeigen, dass nicht alle Migranten dieselbe Migrationsgeschichte teilen und nicht alle Türkeistämmige als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Die Theaterkünstlerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar etwa wurde lange als Gastarbeiterin bezeichnet. Dabei blendete man aus, dass Özdamar nach ihrer „Gastarbeiter-Zeit“ wieder in die Türkei zurückgekehrt war und nach dem Militärputsch 1971 aus politischen Gründen nach Deutschland floh. Spätestens mit ihrem autobiografischen Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ von 2021 müsste klar sein, warum die Geschichten von Militärputsch, Flucht und Exil andere sind als die der Arbeitsmigration. Gerade weil Erfahrungen so unterschiedlichen Bedingungen unterliegen, lehnen einige Autorinnen und Autoren den Begriff „postmigrantische Literatur“ für ihr Schaffen ab. Zumindest, wenn der fälschlicherweise impliziert, dass sich diese Literatur zwingend mit Identitätsfragen beschäftigen muss. Die Schweizer Autorin Mina Hava, Jahrgang 1998, beispielsweise möchte nicht, dass ihr Schreiben auf ihre Herkunft reduziert wird. Ihr Debütroman „Für Seka“ beschreibt nicht nur die Suche der Anfang zwanzigjährigen Seka nach ihrer zerbrochenen Familie aus Bosnien. Sie findet auch heraus, dass 1992 serbische Soldaten in ihrem Heimatdorf Omarska ein Lager errichteten, in dem – kurz bevor Seka in der Schweiz zur Welt kam –, noch Tausende Bosniaken und Kroaten gefangen gehalten, vergewaltigt, ermordet und in Massengräber geworfen wurden. Heute wird dort Erz abgebaut, als hätte es diese jüngere Geschichte nie gegeben. Seka beginnt zu recherchieren, „um zu verstehen, dass die eigene Geschichte über keine Archive verfügt.“ Sie studiert Geschichte und bemerkt den Unterschied zu ihren eigenen Nachforschungen: „Sich mit Relikten und Deutungen jener vertraut zu machen, die einen nie im Blick hatten, war, als würde man im deutschen Lesesaal verloren gehen.“ Mina Hava schreibt in ihrem Roman, der formal an Annie Ernauxs „Die letzten Jahre“ erinnert, bruchstückhaft über eine individuelle Familiengeschichte. Aber vor allem beschäftigt sie sich mit einem fast vergessenen Kriegsverbrechen. Weil es versäumt wurde, den Bosnienkrieg so aufzuarbeiten, dass er heute ein zentraler Teil der europäischen Erinnerungskultur wäre. Über diese Lücke der Geschichtsschreibung denkt ihr Roman nach. So prägend die Perspektiven von Autorinnen wie Hava, Karkhiran Khozani und İnan heute für die deutschsprachige Literatur sind: Wichtig ist, dass sie frei bleiben. Dass sie in ihre eigenen Herkunftsgeschichten hinein- und auch wieder herauszoomen dürfen, wie es ihnen gerade beliebt – und auch dann noch nachgefragt und veröffentlicht werden, wenn sie mal nicht über Migrationsgeschichten schreiben wollen. Einzigartig auf den Punkt hat den Zwiespalt die Journalistin und Autorin Lin Hierse in einer Zeit-Kolumne gebracht: Sie spricht von ihrem Wunsch nach einer Freiheit, sich mit diesem Thema beschäftigen zu können, bis es ihr zum eigenen Hals heraushänge und nicht zum Halse anderer. Dass sie „dann mal damit aufhören“ dürfe, „und dann vielleicht mal sehen.“
Dieses Schreiben ist
selbstbewusst – und mehr
als Bildungsarbeit
Sie fragen nach der Herkunft: die Autorinnen Mina Hava (von links), Nilufar Karkhiran Khozani und Özge İnan.
Fotos: Heike Steiweg, Erik Weiss, Leonardo Kahn, Collage: SZ
Özge İnan:
Natürlich kann man hier nicht leben. Roman.
Piper, München 2023.
240 Seiten, 24 Euro.
Nilufar Karkhiran
Khozani:
Terafik. Roman. Blessing, München 2023.
256 Seiten, 24 Euro.
Mina Hava:
Für Seka. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023.
227 Seiten, 24 Euro.
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