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Produktdetails
  • Verlag: ars vivendi
  • ISBN-13: 9783897160408
  • Artikelnr.: 24877830
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1998

Der Antifotograf: Warum niemand Joseph Gallus Rittenberg entfliehen kann

Früher, als wir noch Kinder waren, begriffen wir sofort, was schlimmer war als Lebertran: der Fotograf. Schon wenn dieser rief, man solle jetzt ganz fest in die Linse schauen, denn dort springe jetzt gleich ein Vögelchen heraus, wußte man, daß das Vögelchen ein Raubvogel war, der einem das Gesicht so zerkratzte, daß man es nicht wiedererkannte. Also mußte man lächeln, immer nur lächeln, damit die Kratzspuren nicht so auffielen. Das Lächeln der Leute auf Fotos wirkt deshalb immer wie ein Pflaster auf unverdienten Wunden. Schaut man jetzt die fünfundfünfzig Fotos an, die der Bildkünstler Joseph Gallus Rittenberg in einem Bildband unter dem etwas verschmockten Titel "Terra obscura. Vermessung einer Persönlichkeit" vereinigt hat, dann fällt auf, daß der Raubvogel ganze Arbeit geleistet hat. Kein Pflaster, nirgendwo. Niemand lächelt. Nicht einmal Everding.

Das Lach- und Lächelverbot fällt um so mehr auf, als Rittenberg eigentlich nur Menschen (schon tot oder noch lebendig, aber gut im Geschäft) aus der prominenten, leicht untergründigen Szene abbildet, also neben anderen den Castorf, den Fassbinder, den Gulda, die Bausch, den Syberberg, die Beginnen, den Jünger, den Ostermaier, den Heller, den Schwab, den Müller (Heiner und auch André), den Dietl, den Schleef, den Schlingensief. Aber alle so, daß sie, verwüstet und aufgeschreckt vom Raubvogel, unter Masken, Kronen, Pappnasen, Hüten, Lichthauben, Flammenmänteln und dergleichen an den Rand des Bildes flüchten. Dort scheinen sie sofort aufzuhören zu leben. Dann hauchen sie meist vor einer Mauer oder einer nachtschwarzen Wand, aber auch vor dem Rücken eines Sofas oder hinter dem Rand eines Gullydeckels (Heiner Müller) sehr schick und abgründig alles aus, was an Natur in ihnen steckt. Und tun so, als sei der Fotorand die Klippen der Felsen von Dover, von denen sie, jeder ein König Lear ohne Reich und Land, sich jetzt hinunterstürzen wollten wie in ein Meer von Künstlichkeit hinein, auf dessen Wellen dann lauter Künstlerwesenskerne schaukeln würden - wenn da tatsächlich jemand spränge. Dann wäre Minetti ein zart frisierter Luftgeist, Fassbinder ein Marlboro-Existenzialist, Castorf ein geflügeltes Engelchen im Paradies, umzischt von einer Volksbühnenriesenschlange, die vergessen haben könnte, daß sie schon zu Mittag gegessen hat. Dann wäre Friedrich Gulda ein verhaltener Wanderer im Reich der marmorierten Pissoirs. Dann zerflösse die Diseuse Ortrud Beginnen in einer verzweifelten Beingrätsche im Funzellicht, ganz links im Dunkeln einer Bar, umflossen von einem zerschlissenen Tütü. Dann erhielte Herr Syberberg sozusagen von einem gigantisch wuchernden deutschen Garten einen deutschen Fußtritt in den deutschen Allerwertesten, der ihn aus dem deutschen Bild hinauswürfe. Dann würde der Dichterkopf des Albert Drach von riesigen stacheligen exotischen Zweigen wie von einem märchenhaften fleischfressenden Pflanzenmund verschlungen (unsere Abbildung). Aber natürlich ist der Fotorand keine Felsenklippe. Er ist bloß ein Fotorand, den der Antifotograf Rittenberg den Prominenten hergerichtet hat: auf daß sie nicht wirklich über ihn hinwegspringen, sondern in ihm verschwinden. Das scheint sie alle zu überfordern und irgendwie müde zu machen. Randgestalten, die sonst im Zentrum stehen und nun sehen müssen, wo sie bleiben. So wirken sie alle ein bißchen übernärrisch, überinszeniert, übermißgelaunt. Man möchte ihnen zurufen: Kinder, macht nicht solche Gesichter, auch die Kantine in Rittenbergs Untergrundtheater hat noch auf, Bier mit Suppe vierfuffzig!

Gerade aber weil es nichts Schickeres und Prominenteres gibt, als von Rittenberg so fotografiert zu werden, als werde man gerade nicht fotografiert, möchte man manchem von Rittenberg noch nicht fotografierten Prominenten wünschen, von Rittenberg so fotografiert zu werden, als wünsche er nichts anderes, als in einem Bild von Rittenberg völlig zu verschwinden und nie mehr daraus hervorzukommen. Man wüßte hernach besser, ob man ihn vermissen würde. (Joseph Gallus Rittenberg: "Terra obscura. Vermessung einer Persönlichkeit". 55 Fotobilder mit Textbeiträgen. ars vivendi Verlag, Cadolzburg 1998. 128 S., geb., 78,-DM.)

GERHARD STADELMAIER

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