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In seiner Blockhütte im tiefsten Patagonien lebt Eduard Böhm, 77, in ruhiger Beschaulichkeit. Aber in den Urwäldern, am nahen Vulkan und selbst in der bislang friedlichen, multikulturellen Gemeinde des Städtchens Quequemtréu zeichnet sich undeutlich etwas Bedrohliches ab. Auch die Mapuche-Schamanin kündigt eine große Gefahr an. Und gerade jetzt erhält er Besuch: Aus Pasadena kommt die attraktive, gut dreißig Jahre jüngere Seismologin Clara, aus Hamburg der Publizist und Jugendfreund Carl Gustav. Da bricht plötzlich ein Chaos aus - Naturgewalt, Liebeslust, Fremdenhass - und jeder sucht seinen…mehr

Produktbeschreibung
In seiner Blockhütte im tiefsten Patagonien lebt Eduard Böhm, 77, in ruhiger Beschaulichkeit. Aber in den Urwäldern, am nahen Vulkan und selbst in der bislang friedlichen, multikulturellen Gemeinde des Städtchens Quequemtréu zeichnet sich undeutlich etwas Bedrohliches ab. Auch die Mapuche-Schamanin kündigt eine große Gefahr an. Und gerade jetzt erhält er Besuch: Aus Pasadena kommt die attraktive, gut dreißig Jahre jüngere Seismologin Clara, aus Hamburg der Publizist und Jugendfreund Carl Gustav. Da bricht plötzlich ein Chaos aus - Naturgewalt, Liebeslust, Fremdenhass - und jeder sucht seinen intimen Fluchtweg.Germán Kratochwils Patagonien-Roman ist nicht nur schonungslos realistisch und politisch hochaktuell, sondern auch ein abgründig komisches Werk.
Autorenporträt
Germán Kratochwil, geboren in Korneuburg und ausgewandert als Kind, lebt in Patagonien und Buenos Aires. In Hamburg 1973 zum Sozialwissenschaftler promoviert, war er für internationale Organisationen in Genf, Buenos Aires, Lima, Asunción, Santiago, Caracas und Montevideo tätig und veröffentlichte Fachliteratur. 2012 erschien im Picus Verlag sein erster Roman »Scherbengericht«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. 2013 folgte »Río Puro«, 2016 »Territorium«.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2016

Albtraumpfade
In seinem Roman „Territorium“ zeigt Germán Kratochwil, dass es kein Versteck gibt vor
dem globalen Terrorismus – nicht einmal in einer patagonischen Holzhütte am Ende der Welt
VON CARLOS WIDMANN
Die Trümmer des World Trade Centers waren längst weggeräumt, als sich der Migrationsforscher Eduard Böhmendlich entschließen konnte, einen Psychiater aufzusuchen. Ein Jahrzehnt nach dem 11. September 2001 wollte Böhm von der Obsession befreit werden, die ihn „im vergangenen Jahrhundert“ während eines Familienausflugs in Manhattan überwältigt hatte.
  Schon immer ein exzellenter Brustschwimmer, litt Böhm chronisch unter der schwer bezwingbaren und lebensgefährlichen Versuchung, mit raschen, kräftigen Armbewegungen durch die Luft zu fliegen. Meistens konnte er sich ja beherrschen: Terrassen, Balkonen oder Felsvorsprüngen wich er konsequent aus, oder er krallte sich unauffällig an einem Geländer fest.
  Die New Yorker Zwillingstürme indessen, „mit ihrem Raumozean, in den Betonprismen und gläserne Riffe aus der Tiefe ragten“, erwiesen sich als unwiderstehlich. Von seinem fatalen Drang gepackt, nahm Böhm auf der Aussichtsplattform des North Tower einen hektischen Anlauf und warf sich mit voller Wucht gegen die Verglasung. Seiner Frau Matilda, dem Sohn Antonio und einem Kontrolleur in Uniform gelang es nur mit Mühe, den Tobenden mit blessierter Schulter in einen Fahrstuhl zu drücken.
  Ein greiser Emigrant aus Fürth, den Böhm später in Argentinien aufsuchte, hat dem gebürtigen Österreicher eine Gedächtniskur empfohlen. Er solle seine allerfrühesten Erinnerungen aufzeichnen – aus der Kindheit in den letzten Kriegsjahren und der ersten Nachkriegszeit bis zur Auswanderung mit den Eltern in die fremde Millionenstadt Buenos Aires. Der Psychotherapeut Elias Königsberger ist längst tot, und Böhm verbringt seine Sommer fern der Familie im Gebirgsparadies Südpatagoniens. In seiner kargen Holzbehausung, die noch der Vater gezimmert hat, will er postum der Empfehlung des humorigen Emigranten folgen: sein „Waldhüttenprotokoll“ schreiben.
  Die Besinnung auf die verlorene Geburtsheimat und die Kindheit im Bombenhagel von Wien müssten den stoppelbärtigen Alten jetzt eigentlich inspirieren. Doch in seinem Hinterkopf tickt eine aktuelle Beobachtung, lässt ihm keine Ruhe. Morgens ist Böhm zu Besorgungen nach Quemquemtréu gefahren, ins nahe Städtchen mit dem indianischen Namen, und erblickte auf der weißgestrichenen Mauer des neuen Supermarkts in roten Riesenlettern die Parole: „FREIHEIT UND TERRITORIUM FÜR PALÄSTINA!“
  Was das in Patagonien zu suchen hatte, vierzehntausend Kilometer vom Nahen Osten entfernt? Man könnte es als gut gemeint, doch eher deplatziert durchgehen lassen, überlegte Böhm – wäre unter der Schrift nicht in voller Länge und Drastik ein schwarzes Sturmgewehr abgebildet gewesen: die gute, alte, weltweit bewährte Kalaschnikow – das von Terroristen bevorzugte Mordwerkzeug.
  Der Austro-Argentinier Germán Kratochwil kam vor vier Jahren mit dem Roman „Scherbengericht“ auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Österreichs Kulturministerium erklärte den Erstling des damals 74-Jährigen zum Debüt des Jahres. In seinem Leben davor hatte der in Hamburg promovierte Sozialwissenschaftler überwiegend Fachliteratur auf Spanisch verfasst und war in Ländern der Dritten Welt für Flüchtlingshilfe zuständig.
  Obwohl Kratochwil im „Scherbengericht“ die eingeborenen Mapuches und Tehuelches nicht vernachlässigte, lag sein Hauptgewicht auf dem problembeladenen – und dem problematischen – Personal, das sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Bergwelt Patagoniens ansiedelte: Zivilisationsbrüchige aus Europa, Opfer und Täter, rassisch Verfolgte und nostalgische Nazis – später auch kiffende Alt-Hippies, Sexualsektierer und Kohlrabi-Apostel. Multikulturell ist man hier schon lange.
  In „Territorium“ nun erweitert Kratochwil dramatisch Personal und Perspektive. Das Kalaschnikow-Graffito prangt an der Außenmauer des modernen Yabrud Market, der von einem Freund Böhms betrieben wird: Nadim Obeid ist syrisch-libanesischer Herkunft, Nachkomme jener fahrenden Händler aus dem Osmanischen Reich, die schon vor drei oder vier Generationen sesshaft und Argentinier wurden. Nadim fühlt sich hier genauso als Einheimischer wie sein Freund Miguel Broda, dessen Vorfahren nach dem russischen Judenpogrom vom Juni 1906 aus Bialystok an den Rio de la Plata geflüchtet sind.
  Der gut vernetzte Böhm hat fernen Freunden seine patagonische Bergwelt immer als verlockende Zuflucht dargestellt: grandioses Panorama, breite ethnische, religiöse und kulinarische Vielfalt, Harmonie der Herkünfte. Böhm, der auf seine Arbeit in der Flüchtlingshilfe ernüchtert zurückblickt, erscheint die abgelegene Weltgegend als Idyll der modernen Migration. Kalaschnikow-Graffito und Palästina-Slogan lässt der Supermarkt-Besitzer Nadim Obeid – zu Böhms Erleichterung – sofort überpinseln. Das könnten keine Argentinier gewesen sein, meint der Freund; die interessierten sich doch nicht für fußballfremde Konflikte. Nur erwartet Böhm gerade jetzt zwei Besucher, die an sein patagonisches Idyll glauben: Clara Shuman, die schlanke und schöne Seismologin aus Pasadena, mit deren Vater er befreundet ist, sowie C.G. Werneck, einen meinungsfreudigen deutschen Autor und Talkshow-Plauderer, zwölf Jahre jünger als Böhm. Der könnte diesem das still erhoffte Glück mit der Kalifornierin vermasseln.
  Kann die Übermalung von Graffiti aber die globale Auswirkung des Nahostkonflikts bis nach Patagonien verhindern? Dass jenes ferne Drama auch hier evident – und virulent – wird, ist dem Fremdenverkehr zu danken. Miguel Brodas Familie hat ein Hostel eröffnet, das fast ausschließlich von jungen Israelis aufgesucht wird: Armeesoldaten, die nach ihrem Kriegsdienst zum Trauma-Abbau auf Weltenbummel gehen und gerne länger in Patagonien hängen bleiben. In seinem Supermarkt lässt Nadim Obeid Zettel in hebräischer Schrift für die Backpacker auslegen.
  Schon spukt durch die argentinischen Medien eine uralte Legende: ein angeblicher „Andinia Plan“ noch aus der Zeit der antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ werde neuerdings vom Mossad-Geheimdienst reaktiviert, der für den stets bedrohten Judenstaat ein Ausweichgebiet im südlichen Patagonien anvisiere. Nur geschieht all dies, während Kratochwil alias Böhm noch in seiner Waldhütte hockt und das Migrantenidyll behutsam infrage stellt. Schon im Januar 2015 ist es dann so weit: Die Herberge für Israelis wird von Maskierten überfallen, Gäste und Personal werden mit Knüppeln und zerbrochenen Flaschen vertrieben. Der nächste Schritt ist eine Wälder vernichtende Brandstiftung. Mitten im Schreiben hat die Aktualität dem Autor den Stoff aus der Hand gerissen und ein Pogrom veranstaltet.
Multikulturell ist man hier,
wo Zivilisationsflüchtige aus aller
Welt sich treffen, schon lange
Kratochwils Protagonist verbringt die Sommermonate im einsamen Gebirgsparadies, um seine Erinnerungen aufzuzeichnen.
Foto: MARTIN BERNETTI / AFP PHOTO
            
    
  
  
    
Germán Kratochwil:
Territorium. Roman.
Picus Verlag, Wien 2016. 327 Seiten, 24 Euro.
E-Book 18,99 Euro.
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