Gründungsurkunde einer neuen Terrorreligion ?Bei allen Bemühungen, Motive und Hintergründe der Ereignisse des 11. September 2001 zu beleuchten, spielte bis jetzt die Analyse eines handschriftlichen arabischen Textes, der als einziger den Tätern zuzuordnen ist, keine nennenswerte Rolle. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dokument ist ein wichtiger Beitrag zur Bestimmung des religiösen Fundamentalismus und terroristischer Gewalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2004Anleitung zum Untergehen
Die Anweisungen, nach denen die Attentäter des 11. September handelten / Von Thomas Hauschild
Vor einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der palästinensisch-amerikanische Gelehrte Edward Said sein Buch über den "Orientalismus". Seine heftige Polemik gegen exotistische und rassistische Bilder der islamischen und anderen Gesellschaften des Ostens trug entscheidend mit dazu bei, daß heute in Europa postkoloniale und Toleranzgedanken die Rede von den fremden Kulturen bestimmen. Dieser tiefgreifende Wandel blieb aber nicht ohne Nebenwirkungen. So sind die Beziehungen zwischen Europäern und denen, die sie als "fremd" ansehen, heute oft von einer eigenartigen Mischung aus oberflächlicher Toleranz, Unkenntnis und Meidung bestimmt. Diese neue Form der Abgrenzung tritt zunehmend an Stelle der alten Ressentiments und Rassismen.
Die von Said kritisierte Mischung aus Exotismus, Faszination und Verachtung, welche frühere Generationen von Europäern der Welt des Islams entgegenbrachten, war, so besehen, immerhin Interesse und manchmal ein verdrehter Versuch der Teilhabe an der arabischen Welt. Manchmal scheint es, als ob wir heute noch weniger über den Islam und die Menschen in Arabien oder Nordafrika wissen und wissen wollen als unsere rassistischen, exotistischen Großeltern.
Faszination und Vorurteil.
Für den deutschen Sprachraum läßt sich das durch einen einfachen Vergleich illustrieren. Als sich in den sechziger Jahren die extreme Linke von der erstarrten Sowjetunion und ihrer internationalen Diplomatie lossagte, mit der weltweiten Studentenbewegung zusammenging und das bildete, was wir heute das Zeitalter der außerparlamentarischen Opposition (APO) nennen, war das Interesse in bürgerlichen und konservativen Kreisen groß. Es wurde Mode, sich Che Guevaras Kriegstagebücher, das rote Buch des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung oder Selbstanalysen des Linksradikalismus, wie die Studien des heutigen Europapolitikers Daniel Cohn-Bendit, als coffeetable-book zu halten. Fachliteratur von Nichtlinken über "das Phänomen APO" füllte damals ganze Bibliotheken.
Vergleichen wir: Bis heute ist keine profilierte Analyse der deutschen Ableger von Al Qaida, allen voran die Gruppe um Mohamed Atta, verfaßt worden. Brauchbare Literatur über Al Qaida kann man an einer Hand abzählen. Vielen Deutschen ist nicht bewußt, daß Islamismus heute in verschiedensten, darunter auch friedlichen und ausgesprochen zivilgesellschaftlichen Formen in ihrem Lande verwurzelt ist, und nur wenige suchen die offene geistige Auseinandersetzung oder überhaupt Kontakt mit den verschiedenen Formen des Islamismus, die heute unter "unseren" deutschen Muslimen existieren. Auf islamischen Websites können muslimische Prediger gegen die moderne Naturwissenschaft und die Evolutionslehre polemisieren, ohne daß ihnen ein Vertreter dieser in unserer Gesellschaft dominanten Denkformen öffentlich widerspräche. Die zahlreichen, teilweise in Deutschland entstandenen Selbstzeugnisse, Bekennerschreiben, Anleitungstexte der Attentäter und Drahtzieher im Netzwerk von Al Qaida sind bis heute nur in englischen Übersetzungen aus dem Internet zu fischen, es existiert keine umfassende englische oder deutsche kommentierte Ausgabe.
Dem Religionshistoriker Hans G. Kippenberg und dem Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker ist es darum hoch anzurechnen, daß sie jetzt, drei Jahre nach dem Anschlag auf die Twin Towers, jene "Geistliche Anleitung" publizieren, der die Attentäter gefolgt waren und die bei drei der vier Tätergruppen gefunden wurde. Erstmals liegt dieser Text in der Originalversion sowie in einer Übersetzung vor. Eine Fälschung ist nicht völlig auszuschließen - immerhin scheint bis heute das erste Blatt der Anleitung zu fehlen. Aber die Herausgeber und auch die Kommentatoren, namhafte Islam- und Religionsforscher, argumentieren überzeugend für die Echtheit des Textes und geben darüber hinaus gute Gründe dafür, den Inhalt der Anleitung sehr ernst zu nehmen.
Ritual und Massenmord.
"Terror im Namen Gottes" heißt der Band, der im Frankfurter Campus-Verlag erschienen ist und tiefe Einblicke gibt in die Innenwelt jener internationalen islamischen Jugendbewegung, die den Westen heute so offensiv kritisiert - und Einblicke in das Innenleben der terroristischen Netzwerke, die Praktiken und Ideale dieser Jugendbewegung mit ihrem doktrinären Kitsch für ihre Zwecke ausnutzen. "Herausgeber und Autoren fürchten weniger, einer Fälschung zu erliegen, als einer bedrohlichen Deutung des Islam nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken." Mit diesem Satz leitet Hans Kippenberg den Band ein. Anhand der "Geistlichen Anleitung" können wir die letzten Schritte der Attentäter verfolgen und Rückschlüsse auf ihren Werdegang ziehen. Bei der Abschrift und der Rezitation dieses Textes wollten sie sich als göttliche Wesen fühlen, die ihre sündige, irdische Natur bereits aufgegeben haben. Wie Heinrich Himmler in seiner fatalen Rede über das saubere Töten lehnt die "Geistliche Anleitung" das Ausleben "persönlicher Rachegefühle" ab. Der Terrorist als Werkzeug Gottes soll den Opfern die Adern öffnen wie einem geschächteten Opfertier und sie durch den Gestus der Ausplünderung entmenschlichen. Diese schockierenden Passagen erinnern an die Argumentation der Roten-Armee-Fraktion zur Frage ziviler Kollateralschäden. Es ist also nicht ganz neu, was dort geschieht, es ist nur eine weitere Variante einer allgemeinmenschlichen Kultur der Selbstermächtigung und des Tötens.
Durch "Rezitationen und Rituale", so Kippenberg, werden Menschen zugerichtet, richten sie sich selbst zu, bis es ernst wird. Wie ein schwarzer Faden durchziehen Anspielungen auf den Sufismus und andere mystische Schulen des Islams den von Kippenberg und Seidensticker publizierten Band. Die übergenauen Anweisungen in Sachen Kleidung und Schnürsenkel-Bindung, die Stationen des Atemholens und Betens, die Rhythmik der Vorbereitung auf das Töten, selbst noch das Glas Wasser, welches die Attentäter nach vollbrachter Abschlachtung des Flugpersonals im Moment vor Selbstzerstörung und Massenmord trinken dürfen, all das ist nicht "der Islam", wie wir ihn verstehen, als Schriftreligion und moralischer Kodex, der Selbstmord ausschließt. Es geht um eine jener ekstatischen Methoden der Programmierung von Selbstaufgabe, physische oder spirituelle, wie sie mindestens seit dem Jahr 1000 die Geschichte des Islams begleiten, antreiben und manchmal revolutionieren.
Das mag zunächst überraschen, ist doch gerade die islamische Mystik oftmals vom Geist der Toleranz geprägt und offen für spirituelle Praktiker jeglicher Herkunft. Heute noch gehören alewitische und derwischhafte mystische Strömungen des Islams zu den bedeutendsten Stützen der zivilgesellschaftlichen und modernen Entwicklung in der Türkei, und in Ägypten wütet die Muslimbruderschaft gegen die Sufis und die ekstatischen Kulte. Doch ohne das Charisma der Koran-Rezitation, die immer auch eine Atemübung ist, kann der ganze Islam nicht bestehen. Die Muslimbruderschaft fußt selbst auf sufistischen Traditionen. Ähnliches gilt im übrigen für alle Hochreligionen. Ohne daß von oben die von unten herandrängenden "heißen und roten" Techniken der Gemeinschaftlichkeit, des Tanzes, der geistigen oder körperlichen Verführung und des anderen Gottes gezähmt, geordnet und gesteigert werden, gibt es auch kein Christentum, keinen Buddhismus, kein Judentum. "Keeping together in Time", Gleichschritt halten durch die Zeiten hindurch, nannte der Universalhistoriker William McNeill seine leider kaum beachtete Altersstudie über den Zusammenhang von Trance, Tanz, militärischem Drill und Körperschaftlichkeit in Religionen und Armeen der Weltgeschichte. Al Qaida demonstriert uns das nicht nur in zackigen Drillvideos, sondern auch in der Gleichzeitigkeit der Einzelanschläge, die sich zum dämonischen Bild des Tages komponieren, zum "elften September". Mit ihren endzeitlichen Aktionen zeigen sie der technischen Welt, daß ihr Ende in der Sinnfrage liegen könnte und im Mangel an körperlicher Verbundenheit unter den Menschen. Wahrscheinlich reicht schon das Hinzukommen eines materiellen Faktors aus, etwa das Versiegen des Erdöls, um die zerstörerischen Potentiale unserer Zivilisation gegen sich selbst zu richten. Und dann werden Stämme überleben, Gemeinden und Bünde, die sich unabhängig von Zeit und Raum regenerieren.
Der Gegenkult zur islamistischen Pedanterie von Selbst und Körper ist allgegenwärtig im Werdegang der Attentäter, in ihrer Existenz als Studenten in Deutschland, als Piloten und Diskobesucher in Amerika. Ausführlich belehrt eine populäre islamische Website (http://www.nektar.biz/, übrigens mit recht ausgewogenem politischen Spektrum) ihre deutschsprachigen Leser über den Zusammenhang des "großen jihad" der Sufis gegen das eigene Ich und den "kleinen jihad" gegen alle, die "den Islam" militärisch zu bedrohen scheinen (wobei oft genug diese Kräfte sich wiederum selbst als Muslime verstehen). Das Umfeld dieser Seite ist unter anderem mit dem Foto eines maskierten Hamas-Kämpfers geschmückt, der ein Beil über der Schulter trägt, und mit einem Landschaftsrelief Israels, das mit ebenso einem Beil zerhackt wird. Der Weg hinaus aus der Verengung, aus dem Mißbrauch der alten sufistischen Techniken sowohl spiritueller wie materieller Kultivierung und kultischer Bearbeitung von Krieg scheint über den Eingang in diese Welt zu führen, über die Atemtechniken, die Männerbünde, das kollektive Gebet und seine heilsamen Funktionen.
Todesmut und Sinnsuche.
Islamismus ist kein Schicksal für die teils verarmten, teils vom Konsumismus verwirrten jugendlichen Massen der arabischen Länder. Den Ausgang aus dieser Falle des Denkens und Handelns könnten alternative Versionen des Sufismus und der Ordnung des Selbst bilden, moderne Anschlußpunkte der islamischen Mystik, die ja nichts weiter war als eine Moderne vor unserer Moderne, und ein reformierter aufklärerischer Islam.
Der "Westen" in all seinem mühsam versteckten Nihilismus und Materialismus sollte angesichts der Herausforderung durch todesmutige junge Menschen nach Gemeinsamkeiten suchen, in Sachen Sinnfindung, Jugendkult, Gewalt, Schlachtrede, Drill, Tanz und Atemübung. Warum philosophieren wir unseren nietzscheschen Nihilismus, auf den der deutsch-arabische Gelehrte Nawid Kermani uns immer wieder aufmerksam macht, nicht mit sufistischen Theologen durch? Warum erkennen wir nicht im Koran eine Art Drittes Testament, eine Antwort auf das nicht weniger kriegerische Alte Testament und die Ungereimtheiten des Neuen Testaments? Warum führt der Rausch des Konsumismus und des Tötens nicht zu einem gemeinsamen "chill out"? Warum gründen wir nicht eine transnationale und transkulturelle Lounge, in der man gemeinsam auf die große Abreise wartet und in der Zwischenzeit den übrigen Fahrgästen behilflich ist, sich selbst ihre Sünden zu vergeben und sie um Vergebung zu bitten.
"Terror im Dienste Gottes. Die ,Geistliche Anleitung' der Attentäter des 11. September 2001". Herausgegeben von Hans G. Kippenberg und Tilman Seidensticker. Campus Verlag, Frankfurt. 128 Seiten, 14,90 Euro.
Thomas Hauschild ist Kultur- und Sozialanthropologe und derzeit Fellow am Internationalen Zentrum Kulturwissenschaften in Wien.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Anweisungen, nach denen die Attentäter des 11. September handelten / Von Thomas Hauschild
Vor einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der palästinensisch-amerikanische Gelehrte Edward Said sein Buch über den "Orientalismus". Seine heftige Polemik gegen exotistische und rassistische Bilder der islamischen und anderen Gesellschaften des Ostens trug entscheidend mit dazu bei, daß heute in Europa postkoloniale und Toleranzgedanken die Rede von den fremden Kulturen bestimmen. Dieser tiefgreifende Wandel blieb aber nicht ohne Nebenwirkungen. So sind die Beziehungen zwischen Europäern und denen, die sie als "fremd" ansehen, heute oft von einer eigenartigen Mischung aus oberflächlicher Toleranz, Unkenntnis und Meidung bestimmt. Diese neue Form der Abgrenzung tritt zunehmend an Stelle der alten Ressentiments und Rassismen.
Die von Said kritisierte Mischung aus Exotismus, Faszination und Verachtung, welche frühere Generationen von Europäern der Welt des Islams entgegenbrachten, war, so besehen, immerhin Interesse und manchmal ein verdrehter Versuch der Teilhabe an der arabischen Welt. Manchmal scheint es, als ob wir heute noch weniger über den Islam und die Menschen in Arabien oder Nordafrika wissen und wissen wollen als unsere rassistischen, exotistischen Großeltern.
Faszination und Vorurteil.
Für den deutschen Sprachraum läßt sich das durch einen einfachen Vergleich illustrieren. Als sich in den sechziger Jahren die extreme Linke von der erstarrten Sowjetunion und ihrer internationalen Diplomatie lossagte, mit der weltweiten Studentenbewegung zusammenging und das bildete, was wir heute das Zeitalter der außerparlamentarischen Opposition (APO) nennen, war das Interesse in bürgerlichen und konservativen Kreisen groß. Es wurde Mode, sich Che Guevaras Kriegstagebücher, das rote Buch des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung oder Selbstanalysen des Linksradikalismus, wie die Studien des heutigen Europapolitikers Daniel Cohn-Bendit, als coffeetable-book zu halten. Fachliteratur von Nichtlinken über "das Phänomen APO" füllte damals ganze Bibliotheken.
Vergleichen wir: Bis heute ist keine profilierte Analyse der deutschen Ableger von Al Qaida, allen voran die Gruppe um Mohamed Atta, verfaßt worden. Brauchbare Literatur über Al Qaida kann man an einer Hand abzählen. Vielen Deutschen ist nicht bewußt, daß Islamismus heute in verschiedensten, darunter auch friedlichen und ausgesprochen zivilgesellschaftlichen Formen in ihrem Lande verwurzelt ist, und nur wenige suchen die offene geistige Auseinandersetzung oder überhaupt Kontakt mit den verschiedenen Formen des Islamismus, die heute unter "unseren" deutschen Muslimen existieren. Auf islamischen Websites können muslimische Prediger gegen die moderne Naturwissenschaft und die Evolutionslehre polemisieren, ohne daß ihnen ein Vertreter dieser in unserer Gesellschaft dominanten Denkformen öffentlich widerspräche. Die zahlreichen, teilweise in Deutschland entstandenen Selbstzeugnisse, Bekennerschreiben, Anleitungstexte der Attentäter und Drahtzieher im Netzwerk von Al Qaida sind bis heute nur in englischen Übersetzungen aus dem Internet zu fischen, es existiert keine umfassende englische oder deutsche kommentierte Ausgabe.
Dem Religionshistoriker Hans G. Kippenberg und dem Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker ist es darum hoch anzurechnen, daß sie jetzt, drei Jahre nach dem Anschlag auf die Twin Towers, jene "Geistliche Anleitung" publizieren, der die Attentäter gefolgt waren und die bei drei der vier Tätergruppen gefunden wurde. Erstmals liegt dieser Text in der Originalversion sowie in einer Übersetzung vor. Eine Fälschung ist nicht völlig auszuschließen - immerhin scheint bis heute das erste Blatt der Anleitung zu fehlen. Aber die Herausgeber und auch die Kommentatoren, namhafte Islam- und Religionsforscher, argumentieren überzeugend für die Echtheit des Textes und geben darüber hinaus gute Gründe dafür, den Inhalt der Anleitung sehr ernst zu nehmen.
Ritual und Massenmord.
"Terror im Namen Gottes" heißt der Band, der im Frankfurter Campus-Verlag erschienen ist und tiefe Einblicke gibt in die Innenwelt jener internationalen islamischen Jugendbewegung, die den Westen heute so offensiv kritisiert - und Einblicke in das Innenleben der terroristischen Netzwerke, die Praktiken und Ideale dieser Jugendbewegung mit ihrem doktrinären Kitsch für ihre Zwecke ausnutzen. "Herausgeber und Autoren fürchten weniger, einer Fälschung zu erliegen, als einer bedrohlichen Deutung des Islam nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken." Mit diesem Satz leitet Hans Kippenberg den Band ein. Anhand der "Geistlichen Anleitung" können wir die letzten Schritte der Attentäter verfolgen und Rückschlüsse auf ihren Werdegang ziehen. Bei der Abschrift und der Rezitation dieses Textes wollten sie sich als göttliche Wesen fühlen, die ihre sündige, irdische Natur bereits aufgegeben haben. Wie Heinrich Himmler in seiner fatalen Rede über das saubere Töten lehnt die "Geistliche Anleitung" das Ausleben "persönlicher Rachegefühle" ab. Der Terrorist als Werkzeug Gottes soll den Opfern die Adern öffnen wie einem geschächteten Opfertier und sie durch den Gestus der Ausplünderung entmenschlichen. Diese schockierenden Passagen erinnern an die Argumentation der Roten-Armee-Fraktion zur Frage ziviler Kollateralschäden. Es ist also nicht ganz neu, was dort geschieht, es ist nur eine weitere Variante einer allgemeinmenschlichen Kultur der Selbstermächtigung und des Tötens.
Durch "Rezitationen und Rituale", so Kippenberg, werden Menschen zugerichtet, richten sie sich selbst zu, bis es ernst wird. Wie ein schwarzer Faden durchziehen Anspielungen auf den Sufismus und andere mystische Schulen des Islams den von Kippenberg und Seidensticker publizierten Band. Die übergenauen Anweisungen in Sachen Kleidung und Schnürsenkel-Bindung, die Stationen des Atemholens und Betens, die Rhythmik der Vorbereitung auf das Töten, selbst noch das Glas Wasser, welches die Attentäter nach vollbrachter Abschlachtung des Flugpersonals im Moment vor Selbstzerstörung und Massenmord trinken dürfen, all das ist nicht "der Islam", wie wir ihn verstehen, als Schriftreligion und moralischer Kodex, der Selbstmord ausschließt. Es geht um eine jener ekstatischen Methoden der Programmierung von Selbstaufgabe, physische oder spirituelle, wie sie mindestens seit dem Jahr 1000 die Geschichte des Islams begleiten, antreiben und manchmal revolutionieren.
Das mag zunächst überraschen, ist doch gerade die islamische Mystik oftmals vom Geist der Toleranz geprägt und offen für spirituelle Praktiker jeglicher Herkunft. Heute noch gehören alewitische und derwischhafte mystische Strömungen des Islams zu den bedeutendsten Stützen der zivilgesellschaftlichen und modernen Entwicklung in der Türkei, und in Ägypten wütet die Muslimbruderschaft gegen die Sufis und die ekstatischen Kulte. Doch ohne das Charisma der Koran-Rezitation, die immer auch eine Atemübung ist, kann der ganze Islam nicht bestehen. Die Muslimbruderschaft fußt selbst auf sufistischen Traditionen. Ähnliches gilt im übrigen für alle Hochreligionen. Ohne daß von oben die von unten herandrängenden "heißen und roten" Techniken der Gemeinschaftlichkeit, des Tanzes, der geistigen oder körperlichen Verführung und des anderen Gottes gezähmt, geordnet und gesteigert werden, gibt es auch kein Christentum, keinen Buddhismus, kein Judentum. "Keeping together in Time", Gleichschritt halten durch die Zeiten hindurch, nannte der Universalhistoriker William McNeill seine leider kaum beachtete Altersstudie über den Zusammenhang von Trance, Tanz, militärischem Drill und Körperschaftlichkeit in Religionen und Armeen der Weltgeschichte. Al Qaida demonstriert uns das nicht nur in zackigen Drillvideos, sondern auch in der Gleichzeitigkeit der Einzelanschläge, die sich zum dämonischen Bild des Tages komponieren, zum "elften September". Mit ihren endzeitlichen Aktionen zeigen sie der technischen Welt, daß ihr Ende in der Sinnfrage liegen könnte und im Mangel an körperlicher Verbundenheit unter den Menschen. Wahrscheinlich reicht schon das Hinzukommen eines materiellen Faktors aus, etwa das Versiegen des Erdöls, um die zerstörerischen Potentiale unserer Zivilisation gegen sich selbst zu richten. Und dann werden Stämme überleben, Gemeinden und Bünde, die sich unabhängig von Zeit und Raum regenerieren.
Der Gegenkult zur islamistischen Pedanterie von Selbst und Körper ist allgegenwärtig im Werdegang der Attentäter, in ihrer Existenz als Studenten in Deutschland, als Piloten und Diskobesucher in Amerika. Ausführlich belehrt eine populäre islamische Website (http://www.nektar.biz/, übrigens mit recht ausgewogenem politischen Spektrum) ihre deutschsprachigen Leser über den Zusammenhang des "großen jihad" der Sufis gegen das eigene Ich und den "kleinen jihad" gegen alle, die "den Islam" militärisch zu bedrohen scheinen (wobei oft genug diese Kräfte sich wiederum selbst als Muslime verstehen). Das Umfeld dieser Seite ist unter anderem mit dem Foto eines maskierten Hamas-Kämpfers geschmückt, der ein Beil über der Schulter trägt, und mit einem Landschaftsrelief Israels, das mit ebenso einem Beil zerhackt wird. Der Weg hinaus aus der Verengung, aus dem Mißbrauch der alten sufistischen Techniken sowohl spiritueller wie materieller Kultivierung und kultischer Bearbeitung von Krieg scheint über den Eingang in diese Welt zu führen, über die Atemtechniken, die Männerbünde, das kollektive Gebet und seine heilsamen Funktionen.
Todesmut und Sinnsuche.
Islamismus ist kein Schicksal für die teils verarmten, teils vom Konsumismus verwirrten jugendlichen Massen der arabischen Länder. Den Ausgang aus dieser Falle des Denkens und Handelns könnten alternative Versionen des Sufismus und der Ordnung des Selbst bilden, moderne Anschlußpunkte der islamischen Mystik, die ja nichts weiter war als eine Moderne vor unserer Moderne, und ein reformierter aufklärerischer Islam.
Der "Westen" in all seinem mühsam versteckten Nihilismus und Materialismus sollte angesichts der Herausforderung durch todesmutige junge Menschen nach Gemeinsamkeiten suchen, in Sachen Sinnfindung, Jugendkult, Gewalt, Schlachtrede, Drill, Tanz und Atemübung. Warum philosophieren wir unseren nietzscheschen Nihilismus, auf den der deutsch-arabische Gelehrte Nawid Kermani uns immer wieder aufmerksam macht, nicht mit sufistischen Theologen durch? Warum erkennen wir nicht im Koran eine Art Drittes Testament, eine Antwort auf das nicht weniger kriegerische Alte Testament und die Ungereimtheiten des Neuen Testaments? Warum führt der Rausch des Konsumismus und des Tötens nicht zu einem gemeinsamen "chill out"? Warum gründen wir nicht eine transnationale und transkulturelle Lounge, in der man gemeinsam auf die große Abreise wartet und in der Zwischenzeit den übrigen Fahrgästen behilflich ist, sich selbst ihre Sünden zu vergeben und sie um Vergebung zu bitten.
"Terror im Dienste Gottes. Die ,Geistliche Anleitung' der Attentäter des 11. September 2001". Herausgegeben von Hans G. Kippenberg und Tilman Seidensticker. Campus Verlag, Frankfurt. 128 Seiten, 14,90 Euro.
Thomas Hauschild ist Kultur- und Sozialanthropologe und derzeit Fellow am Internationalen Zentrum Kulturwissenschaften in Wien.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Recht plausibel erscheint Alexander Görlach die religiöse Deutung der Attentate vom 11. September, die Hans G. Kippenberg und Tilman Seidensticker in ihrem Buch "Terror im Dienste Gottes" vorlegen. Die in der Reisetasche des Attentäters Muhammad Atta gefundene "Geistliche Anleitung" mit ihren genauen Anweisungen für die Vorbereitung und die Durchführung der Attentate stehe in Gestalt und Wortwahl in islamischer Tradition. Wie Görlach berichtet, belegen die Autoren anhand von Quellennachweisen, dass es zum Wesen des frühen Islam gehörte, gewaltsam vorzugehen, wenn es der Sache Muhammads gedient hat. "Die Gewalttaten des 11. September 2001 sind als Neuinszenierungen eines alten Musters der gewaltsamen Durchsetzung des Islam konzipiert worden", zitiert Görlach das Resümee Kippenbergs. Die Autoren verdeutlichten aber auch, dass diese Auslegungen politisch radikaler Muslime nicht die einzige Deutungsweise des Islam ist. Von Interesse sei deshalb, wer in der islamischen Welt heute auf diese Deutung setze. Eine ausschließlich politische Deutung der Attentate vom 11. September jedenfalls greife zu kurz. "Die Dimension des Religiösen, die in der 'Geistlichen Anleitung' deutlich artikuliert wird", so Görlach, "ist konstitutiv für das Selbstverständnis der Attentäter gewesen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Anleitung zum Untergehen
"Der Band gibt tiefe Einblicke in die Innenwelt jener internationalen islamischen Jugendbewegung, die den Westen heute so offensiv kritisiert - und Einblicke in das Innenleben der terroristischen Netzwerke, die die Praktiken und Ideale dieser Jugendbewegung für ihre Zwecke ausnutzen." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.11.2004)
Nicht zum Zeitvertreib
"Der Sammelband gibt einen detaillierten Einblick in die Ideenwelt Bin Ladens." (Berliner Zeitung, 15.11.2004)
Der Band "... bietet wichtige Verständnishilfen für die Denkmuster, die dem islamistischen Terrorismus zugrunde liegen." (Zeitschrift für Politikwissenschaft, 15.07.2005)
"Lächle und sei ruhig"
"Ein Blick durchs Schlüsselloch in die Gemächer des frommen Terrors." (Die Presse, 24.12.2005)
"Der Band gibt tiefe Einblicke in die Innenwelt jener internationalen islamischen Jugendbewegung, die den Westen heute so offensiv kritisiert - und Einblicke in das Innenleben der terroristischen Netzwerke, die die Praktiken und Ideale dieser Jugendbewegung für ihre Zwecke ausnutzen." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.11.2004)
Nicht zum Zeitvertreib
"Der Sammelband gibt einen detaillierten Einblick in die Ideenwelt Bin Ladens." (Berliner Zeitung, 15.11.2004)
Der Band "... bietet wichtige Verständnishilfen für die Denkmuster, die dem islamistischen Terrorismus zugrunde liegen." (Zeitschrift für Politikwissenschaft, 15.07.2005)
"Lächle und sei ruhig"
"Ein Blick durchs Schlüsselloch in die Gemächer des frommen Terrors." (Die Presse, 24.12.2005)