Der Band führt den Leser auf den Spuren der zahlreichen prominenten Besucher durch das Tessin: zum Lago Maggiore und zum Luganer See, zu den Brissago-Inseln, nach Locarno, Minusio, Ascona und Montagnola und in zahlreiche traditionelle Bergdörfer fernab von den touristischen Zentren. Von dort geht es weiter bis zur italienischen Grenze.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2006Tessiner Traumbilder
Was verbinden wir mit dem Tessin: Berge, Seen, Palmen, dolce far niente? Im neunzehnten Jahrhundert entstand der Traum vom unbeschwerten Leben im Sonnenkantönli, allerdings jenseits des Gotthards. Denn im "Armenhaus der Schweiz" war das Leben der Bauern so erbärmlich, daß sie auswandern oder ihre Kinder als Arbeitssklaven verschicken mußten. Geringe Lebenshaltungskosten machten die Gegend andererseits seit der Eröffnung von Gotthardstraße und Gotthardbahn zum Schnäppchenparadies für pekuniär klamme Intellektuelle und ihre Mäzene. Hermann Hesse zum Beispiel war pleite, als er im April 1919 nach Montagnola übersiedelte. Solche Zeiten aber sind vorbei. Seit den sechziger Jahren überwiegt eine Klientel, die mehr als ein italienisches Lebensgefühl das eidgenössische Bankgeheimnis schätzt. Das macht den Ticinesi zu schaffen, weil es zu hohen Lebenshaltungskosten, Bodenspekulation und Landschaftszersiedelung mit monotonen Luxusquartieren führte, nicht zuletzt zur Umwidmung ganzer Dörfer in Feriensiedlungen. Die Entwicklungen blieben dem Autor Uwe Ramlow nicht verborgen, der uns auf den Spuren von Künstlern durch den Kanton führt. Aber bei den eingestreuten Texten überwiegen jene deutschsprachigen Autoren, die als Durchreisende oder Zugereiste am Mythos Tessin schrieben, von A wie Alfred Andersch bis Z wie Heinrich Zschokke. Darunter Hugo Ball, Max Frisch, Hesse sowieso, die wunderbare Ricarda Huch, Kafka und die Manns, die Skandalnudel der Schwabinger Boheme, Fanny zu Reventlow, und natürlich Rilke mit seinem Gespür für solvente Mäzene. Anarchisten und Nudisten, Revoluzzer und Rohköstler fanden an den subtropischen Gestaden ihre Biotope. Obwohl das Treiben der dekadenten Jeunesse dorée den Einheimischen viel Toleranz abforderte, schenkten ihnen die Künstler wenig Beachtung. Kontakte gab es kaum. Im Grotto hinter dem Friedhof von Gentilino erinnern sich heute betagte Stammgäste vor allem deswegen noch an einen hageren deutschen Sonderling mit runder Brille und verdrücktem Strohhut, weil er tüchtig soff. Die Sicht der Bereisten kommt im Buch zu kurz. Zwar läßt der Autor auf seinen Reisen durch die Literaturgeschichte und zu den Orten der Literatur Autoren wie Piero Biasconi und Aline Valangin mit ihrer großartigen Familiensaga der Bewohner eines Bauernhofs an der Grenze zu Wort kommen. Aber es fehlen Francesco Chiesa und Alberto Nessi, Giovanni Orelli, der 1964 mit dem Tessin-Roman "Der lange Winter" reüssierte, und Plinio Martinis eindringlicher Erzählband "Fest in Rima". Diese Autoren beschreiben keine bukolische, sondern eine geradezu lebensfeindliche Natur, das Elend der Menschen in den abgelegenen Tälern und die Probleme der wuchernden Agglomerationen. Gern hätte man dafür auf die Auszüge aus Hauptmanns unsäglichem "Ketzer von Soana" verzichtet.
rmb
"Tessin. Ein Reisebegleiter" von Uwe Ramlow. Insel Verlag, Frankfurt 2005. 234 Seiten, einige farbige Fotografien. Broschiert, elf Euro. ISBN 3-458-34703-8.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was verbinden wir mit dem Tessin: Berge, Seen, Palmen, dolce far niente? Im neunzehnten Jahrhundert entstand der Traum vom unbeschwerten Leben im Sonnenkantönli, allerdings jenseits des Gotthards. Denn im "Armenhaus der Schweiz" war das Leben der Bauern so erbärmlich, daß sie auswandern oder ihre Kinder als Arbeitssklaven verschicken mußten. Geringe Lebenshaltungskosten machten die Gegend andererseits seit der Eröffnung von Gotthardstraße und Gotthardbahn zum Schnäppchenparadies für pekuniär klamme Intellektuelle und ihre Mäzene. Hermann Hesse zum Beispiel war pleite, als er im April 1919 nach Montagnola übersiedelte. Solche Zeiten aber sind vorbei. Seit den sechziger Jahren überwiegt eine Klientel, die mehr als ein italienisches Lebensgefühl das eidgenössische Bankgeheimnis schätzt. Das macht den Ticinesi zu schaffen, weil es zu hohen Lebenshaltungskosten, Bodenspekulation und Landschaftszersiedelung mit monotonen Luxusquartieren führte, nicht zuletzt zur Umwidmung ganzer Dörfer in Feriensiedlungen. Die Entwicklungen blieben dem Autor Uwe Ramlow nicht verborgen, der uns auf den Spuren von Künstlern durch den Kanton führt. Aber bei den eingestreuten Texten überwiegen jene deutschsprachigen Autoren, die als Durchreisende oder Zugereiste am Mythos Tessin schrieben, von A wie Alfred Andersch bis Z wie Heinrich Zschokke. Darunter Hugo Ball, Max Frisch, Hesse sowieso, die wunderbare Ricarda Huch, Kafka und die Manns, die Skandalnudel der Schwabinger Boheme, Fanny zu Reventlow, und natürlich Rilke mit seinem Gespür für solvente Mäzene. Anarchisten und Nudisten, Revoluzzer und Rohköstler fanden an den subtropischen Gestaden ihre Biotope. Obwohl das Treiben der dekadenten Jeunesse dorée den Einheimischen viel Toleranz abforderte, schenkten ihnen die Künstler wenig Beachtung. Kontakte gab es kaum. Im Grotto hinter dem Friedhof von Gentilino erinnern sich heute betagte Stammgäste vor allem deswegen noch an einen hageren deutschen Sonderling mit runder Brille und verdrücktem Strohhut, weil er tüchtig soff. Die Sicht der Bereisten kommt im Buch zu kurz. Zwar läßt der Autor auf seinen Reisen durch die Literaturgeschichte und zu den Orten der Literatur Autoren wie Piero Biasconi und Aline Valangin mit ihrer großartigen Familiensaga der Bewohner eines Bauernhofs an der Grenze zu Wort kommen. Aber es fehlen Francesco Chiesa und Alberto Nessi, Giovanni Orelli, der 1964 mit dem Tessin-Roman "Der lange Winter" reüssierte, und Plinio Martinis eindringlicher Erzählband "Fest in Rima". Diese Autoren beschreiben keine bukolische, sondern eine geradezu lebensfeindliche Natur, das Elend der Menschen in den abgelegenen Tälern und die Probleme der wuchernden Agglomerationen. Gern hätte man dafür auf die Auszüge aus Hauptmanns unsäglichem "Ketzer von Soana" verzichtet.
rmb
"Tessin. Ein Reisebegleiter" von Uwe Ramlow. Insel Verlag, Frankfurt 2005. 234 Seiten, einige farbige Fotografien. Broschiert, elf Euro. ISBN 3-458-34703-8.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent "rmb" ist mit gemischten Gefühlen auf den Spuren von Künstlern durch das Tessin gereist, mit deren Hilfe Autor Uwe Ramlow den berühmten Kanton in diesem Buch erkundet. Dies konnte der Rezensent streckenweise immer wieder genießen, der sich besonders an den Texten von Hermann Hesse, Ricarda Huch oder Hugo Ball erfreut. Auch die gelegentlichen Kontakte mit "Anarchisten und Nudisten, Revoluzzern und Rohköstlern" fand der Rezensent ganz amüsant. Aber manches fehlt ihm auch, zum Beispiel eine Erwähnung Giovanni Orellis. Und auf einiges hätte er gut verzichten können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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